»Wie geht's?«
»Den Umständen entsprechend.«
»Schlecht, wie?« Tucker war mitfühlend.
»Sie ist einfach verbittert. Sie lächelt nie. Ich wünschte, ich konnte was für sie tun. Ich vermisse ihn auch. Kelly war immer so lustig.«
»Hast du eine Ahnung, was passiert ist? Hat er dich irgendwo mit hingenommen, wovon die Menschen nichts wissen?« fragte Mrs. Murphy.
»Nein. Ich bin ja eigentlich ein Haushund. Ich habe die Betonfabrik ein paarmal gesehen, aber das ist auch alles.«
»Wirkte er in letzter Zeit bedrückt?«
»Nein, er war mopsfidel, wie ein Hund mit 'nem Knochen. Immer wenn er Geld verdiente, war er glücklich, und er hat eine Menge verdient. Ist für die wirklich wie Knochen, schätze ich. Er war nicht viel zu Hause, aber wenn, dann war er fröhlich.«
Drinnen erfuhr Harry von Boom Boom auch nicht viel.
»Ein Alptraum.« Boom Boom ließ ihr Zigarettenetui aus Platin aufschnappen. »Und jetzt Maude. Weiß jemand, ob sie Verwandte hat?«
»Nein. Susan Tucker hat sich erboten, die Angehörigen zu verständigen, aber Rick Shaw sagte ihr, daß Maude keine Geschwister hatte und ihre Eltern tot sind.«
»Wer wird Anspruch auf die Leiche erheben?« Boom Boom, die soeben eine Beerdigung hinter sich hatte, kannte sich mit den Formalitäten aus.
»Das weiß ich nicht, aber ich werde Susan darauf ansprechen.«
»Ich bin seinen letzten Tag im Geist tausendmal durchgegangen, Harry. Ich bin die Woche davor durchgegangen und die Woche davor und kann mich auf nichts besinnen. Kein Hinweis, keine Andeutung, nichts. Er hat mich vom Geschäft ferngehalten, aber ich hatte sowieso wenig Interesse daran. Für Beton, Fundamente und Straßenbetten konnte ich mich nie erwärmen.« Boom Boom zündete ihre schwarze Nat Sherman an. »Wenn er einen Geschäftspartner verärgert hat, hatte ich nichts davon erfahren.«
»Kelly könnte jemanden gereizt haben. Er war sehr ehrgeizig.« Harry nahm einen Kristallaschenbecher mit silbernem Rand in die Hand und befingerte die vollkommenen Proportionen.
»Er hat gern gesiegt, das steht fest, aber ich glaube nicht, daß er unfair war. Mir gegenüber war er's jedenfalls nicht. Sieh mal, Harry, wir kannten uns, seit wir Kinder waren. Du weißt, in den letzten Jahren waren Kelly und ich mehr wie Bruder und Schwester als Mann und Frau, aber er war mir ein guter Freund. Er war. gut.« Ihre Stimme versagte.
»Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich konnte etwas sagen oder tun.« Harry berührte ihre Hand.
»Es war lieb von dir, mich zu besuchen. Ich habe nie gewußt, wie viele Freunde ich - er - hatte. Die Leute waren wunderbar - und ich mache es anderen wirklich schwer, wunderbar zu mir zu sein. manchmal.«
Harry dachte bei sich, daß einer alles andere als wunderbar gewesen war. Wer war es? Wer? Warum?
Boom Boom meinte nachdenklich: »Kelly wurde staunen, wenn er sähe, wie viele Leute ihn geliebt haben.«
»Vielleicht weiß er es. Das möchte ich gerne denken.«
»Ja, das möchte ich auch gerne denken.«
Harry stellte den Aschenbecher wieder hin. Sie machte eine Pause. »Hat die Polizei alles durchgesehen? Sein Büro?«
»Sogar sein Büro hier zu Hause. Das einzige, was am Tag seines Todes auf seinem Schreibtisch lag, war die Post vom selben Morgen.«
»Darf ich einen Blick ins Büro werfen? Ich mochte nicht unverschämt sein, aber ich meine, wenn wir irgendwas tun konnten, um Rick Shaw zu helfen, sollten wir es tun. Wenn ich herumstöbere, finde ich vielleicht einen Hinweis. Auch ein blindes Huhn findet manchmal ein Korn.«
»Du hast im Postamt zu viele Kriminalromane gelesen.« Boom Boom stand auf. Harry ebenfalls.
»Dieses Jahr waren's Spionage Thriller.«
»Und dafür bist du aufs College gegangen?« Boom Boom fand eigentlich, Harry mußte mehr aus ihrem Leben machen, aber wer war sie, sie zu verurteilen? Boom Boom war die reiche Müßiggängerin schlechthin.
Die Walnußtäfelung schimmerte im hellen Nachmittagslicht. Exakt in der Mitte einer fleckenlosen, in rotes Leder eingefaßten Schreibunterlage lag Kellys Post.
»Darf ich?« Harry griff noch nicht nach der Post.
»Bitte.«
Harry nahm sie und blätterte die Briefe mitsamt der Postkarte durch, der schonen Postkarte von Oscar Wildes Grabstein. Sie legte die Post so wieder hin, wie sie sie vorgefunden hatte. Im Augenblick machte sie sich eher Gedanken wegen eines gewissen ausweichenden Verhaltens, das Boom Boom ihr gegenüber an den Tag legte. Sie verstand sich ganz gut mit Boom Boom, aber heute stimmte etwas nicht zwischen ihnen.
Erst später, als sie sich von Boom Boom verabschiedet hatte und an dem kleinen Wohnwagenpark an der Route 240 vorbeiratterte, fiel ihr ein, daß auch Maude eine Postkarte mit einem schönen Grabstein erhalten hatte. Mit demselben Wortlaut: »Schade, daß Du nicht hier bist.« Mein Gott, jemand gab ihnen zu verstehen, daß er wünschte, sie waren tot. Ein makabrer Scherz. Sie trat das Gaspedal durch.
»He, nimm Gas weg«, sagte Mrs. Murphy. »Ich fahr nicht gerne schnell.«
Harry schlingerte in Susans gepflegte Zufahrt, trat auf die Bremse und sprang aus dem Wagen. Katze und Hund hüpften gleichfalls auf den Rasen.
Susan steckte den Kopf aus dem Fenster im Obergeschoß. »Du bringst dich noch um, wenn du den alten Karren so traktierst.«
»Ich hab was gefunden.«
Susan raste die Treppe hinunter und riß die Haustur auf.
Harry berichtete Susan, was sie entdeckt hatte, ließ sie Geheimhaltung schwören, dann riefen sie Rick Shaw an. Er war nicht da, daher nahm Officer Cooper die Information entgegen.
Harry legte den Hörer auf. »Sie wirkte nicht sehr beeindruckt.«
»Sie gehen so vielen Hinweisen nach. Woher soll sie wissen, daß gerade dieser ein wichtiger ist?« Susan band ihre Turnschuhe zu. »Hoffen wir, daß keine weitere Karte mehr auftaucht.«
»Verdammt, ich hab vergessen nachzusehen.«
»Wonach?«
»Nach dem Poststempel auf Kellys Karte. Kam sie aus Paris?«
»Laß uns in Maudes Laden gehen und uns die Karte vornehmen, die sie gekriegt hat.«
Selbst Maudes geschlossenes Geschäft lockte noch Passanten an. Die Blumenkästen quollen über von rosa und lila Petunien. Der Bürgersteig war saubergefegt.
Susan probierte die Tür. »Abgeschlossen.«
Harry ging hinten herum und stemmte ein Fenster auf. In dem Moment, als sie es offen hatte, schoß Mrs. Murphy auf die Fensterbank und sprang anmutig in den Laden. Harry folgte, Susan reichte ihr Tucker und folgte dann selbst.
Im Hinterzimmer empfing sie eine Flut von Verpackungsmaterial.
»Ich wußte nicht, daß es auf der Welt so viele Styroporchips gibt«, bemerkte Susan.
Harry begab sich schnurstracks nach vorn zu Maudes Rollpult.
»Und wenn dich da jemand sieht?«
»Dann soll er mich wegen Einbruch anzeigen.« Harry schnappte sich die Post, die Maude in einer Schachtel auf dem Pult aufbewahrte. »Ich hab sie!« Rasch drehte sie die Postkarte um. »Soweit also die Theorie.«
»Was steht drauf?«
»Komm her und lies. Niemand wird uns verhaften.«
Susan trat neben sie. »Schade, daß Du nicht hier bist.« Dann sah sie den Poststempel. »Oh.« Asheville, North Carolina stand da.
Harry zog die mittlere Schublade auf. Ein großes Hauptbuch, Bleistifte, Radiergummis und ein Lineal klapperten. Sie griff nach dem Hauptbuch. Manchmal erzählten auch Zahlenreihen eine Geschichte.
Schritte auf dem Bürgersteig ließen sie erstarren. Sie schloß die Schublade.
»Laß uns verschwinden«, flüsterte Susan. Als Harry ins Postamt zurückkehrte und Dr. Johnson ablöste, rief sie Boom Boom an und bat sie, sich die Postkarte anzusehen. Der Stempel lautete PARIS, REPUBLIQUE FRANQAISE.
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