»Feinde?«
»Pharamond Haristeen - hm, das ist vorbei. Sie sind keine Feinde mehr.«
Rick kannte die Geschichte, wie Fair sich letztes Jahr auf dem Ball vom Jagdclub an Boom Boom herangemacht hatte. Es war viel Alkohol konsumiert worden, aber nicht genug, um die Leute den Annäherungsversuch vergessen zu lassen. Er würde Fair vernehmen müssen. Emotionen konnten sich anstauen und explodieren, wenn man es am wenigstens erwartete. Jahre nach einem Ereignis. Daß Fair ein Mörder war, war nicht unmöglich, nur unwahrscheinlich. »War er geschäftlich in Schwierigkeiten?«
Boom Boom lächelte ein mattes Lächeln. »Was Kelly anfaßte, wurde zu Gold.«
Rick lächelte zurück. »Das ist in ganz Mittel Virginia bekannt.« Er machte eine Pause. »Vielleicht gab es Meinungsverschiedenheiten wegen einer Rechnung oder einer Ausschreibung? Geld bringt die Menschen um den Verstand. Denken Sie nach, fällt Ihnen irgendwas ein?«
»Nichts.«
Rick legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ich lasse Sie von Officer Cooper nach Hause fahren.«
»Ich kann fahren.«
»Nein, können Sie nicht. Sie werden ausnahmsweise tun, was ich sage.«
Boom Boom machte keine Einwände. Sie war zittriger, als sie zugeben wollte. Tatsächlich hatte sie sich nie im Leben so schrecklich gefühlt. Sie hatte Kelly geliebt, auf ihre unbestimmte Art, und er hatte sie ebenso geliebt.
Rick blickte auf, um zu sehen, wie man mit dem Abtransport der Leiche vorankam. Es ging langsam. Selbst Clai Cordle, die eiserne Nerven besaß, war grün ums Kinn.
Rick öffnete die Tür und versperrte Boom Boom die Sicht. »Clai, Diana, macht mal 'ne Minute Pause. Officer Cooper fährt Boom Boom nach Hause.«
»Okay.« Diana stellte ihre Bemühungen vorübergehend ein.
»Officer Cooper.«
»Jaha«, rief Cynthia, dann öffnete sie die Tür.
»Fahren Sie Boom Boom nach Hause, ja?«
»Klar.«
»Da drin irgendwas gefunden?«
Marie kam hinter Officer Cooper heraus. »Alles ist doppelt abgelegt, alphabetisch und nach Sachgebiet. Das habe ich selber gemacht.«
Als Boom Boom und Officer Cooper fort waren, ging Rick mit Marie in das kleine, ordentliche Büro.
»Seine Devise war >ein Platz für alles und alles an seinem Platz< «, wimmerte Marie.
Rick warf einen prüfenden Blick auf Kellys Schreibtischplatte. Ein silbergerahmtes Porträt von Boom Boom stand in der rechten Ecke. Ein protziger Federhalter lag exakt diagonal über einem Stapel Fotokopien.
Rick beugte sich vor, sorgsam darauf bedacht, daß er Nichts berührte, und las das obere Blatt.
Meine Prinzipien als Liberaler sind durch den mexikanischen Krieg bestärkt worden. Er brach aus, just als ich meine Abreise aus Europa vorbereitete; meine Koffer waren tatsächlich schon gepackt; der Krieg und die ungelöste Oregon-Frage veranlaßten mich, sie wieder auszupacken. Jetzt ist mein Sohn darin verwickelt. Etliche pekuniäre Interessen sind im Spiel, Wolken dräuen am politischen Horizont, und ich bin gezwungen zu warten, bis das alles endet. Da ich mein Übermaß an Krieg hatte, bin ich für den Frieden; aber zu dieser Zeit bin ich es noch mehr. Friede, Friede erhebt sich über alle meine Gedanken, und das Gefühl macht mich doppelt zum Liberalen. Sobald die Dinge im Lote sind, werde ich den Atlantischen Ozean überqueren. Ich könnte es natürlich sofort tun, aber ich möchte länger als nur für ein paar Monate bleiben, und mein Aufenthalt könnte jetzt durch die Ereignisse abgekürzt werden.
Hochachtungsvoll
Ihr sehr ergebener C. Crozet
»Ich wußte gar nicht, daß Kelly sich für Geschichte interessierte.«
Marie zuckte die Achseln. »Ich auch nicht, aber er hatte so seine Marotten.«
Rick schob seinen Daumen unter den schweren Gürtel und entlastete so Schulter und Taille etwas von dem Gewicht. »Crozet war Ingenieur. Vielleicht hat er über Straßenbau oder so was geschrieben. Er hat unsere sämtlichen Fernstraßen gebaut. Auch die Route 240, soweit ich mich an Miss Grindles Unterricht in der vierten Klasse erinnere.«
»Die war eine Hexe.« Marie hatte Miss Grindle auch gehabt.
»An der Volksschule von Crozet gab es keine Disziplinschwierigkeiten, solange Miss Grindle dort war.«
»Vom Bürgerkrieg bis zum Koreakrieg.« Marie kicherte ein bißchen, dann besann sie sich. »Wie kann ich in so einer Situation bloß lachen?«
»Sie brauchen es. Ihre Gefühle werden eine Zeitlang Achterbahn fahren.«
Tränen traten Marie in die Augen. »Sie werden ihn kriegen, nicht? Den, der das getan hat?«
»Ich werd mich bemühen, Marie. Ich werd mich bemühen.«
»Bist du sicher, daß du hingehen willst?« Susan sah Harry ins Gesicht.
»Du weißt, ich muß.«
Boom Boom keinen Beileidsbesuch abzustatten wäre ein Fauxpas gewesen, den man Harry ewig vorgehalten hätte. Nicht direkt, beileibe nicht, man hätte es sich nur gemerkt, ein Minuspunkt neben ihrem Namen auf der Liste. Auch wenn sie mehr Plus- als Minuspunkte hatte - sie hoffte, daß es so war -, zahlte es sich nicht aus, ihren Ruf in Crozets Gesellschaft aufs Spiel zu setzen.
Es war nicht nur der Schock über einen erschütternden Tod, der Harry zusetzte, sondern auch der Umstand, daß sie sich dem gesamten gesellschaftlichen Spektrum würde stellen müssen. Seit sie Fair den Laufpaß gegeben hatte, hatte sich Harry ziemlich abgesondert. Fair würde natürlich bei Craycrofts sein. Auch wenn sein großer Lieferwagen nicht in der Zufahrt parkte, wußte sie, daß er da sein würde. Er war wohlerzogen. Er wußte, was sich in so einem Fall gehörte.
Die versammelten Einwohner von Crozet würden nicht nur imstande sein zu beurteilen, wie Boom Boom sich während der schrecklichen Krise hielt, sie würden auch imstande sein, den Stand der Scheidung zu beurteilen, eine Krise anderer Art. Haltung war in Crozet enorm wichtig. Die Zähne zusammenbeißen.
»Läßt du mich etwa hier?« fragte Tee Tucker.
»Ja, und was ist mit mir?« erkundigte sich Mrs. Murphy.
Harry sah zu ihren Freundinnen hinunter. »Susan, entweder nehmen wir die Kleinen mit, oder du mußt mich nachher nach Hause fahren.«
»Ich fahr dich nach Hause. Ich glaube, es gehört sich nicht, die Tiere mit zu Craycrofts zu nehmen.«
»Du hast recht.« Harry scheuchte Mrs. Murphy und Tucker aus der Tür des Postamts und schloß ab.
Pewter lungerte im Schaufenster von Markets Laden. Als sie Mrs. Murphy sah, gähnte sie, dann putzte sie sich. Pewters Miene strahlte Zufriedenheit, Wichtigkeit und Macht aus, wenn auch nur vorübergehend.
Mrs. Murphy schäumte vor Wut. »Die hält sich für 'nen fetten grauen Buddha.«
Tucker sagte: »Du hast sie trotzdem gern.«
Mrs. Murphy und Tucker warfen einander während der Heimfahrt Blicke zu.
Tucker verdrehte die Augen. »Menschen sind verrückt. Menschen und Ameisen - die töten ihre eigene Gattung.«
»Ich hatte auch schon ein paar Gedanken in dieser Richtung«, erwiderte Mrs. Murphy.
»Hattest du nicht. Sei nicht so zynisch. Das ist nicht vornehm, Mrs. Murphy. Du wirst nie vornehm werden. Du stammst aus Sally Meads Tierheim.«
»Halt sofort die Schnauze, Tucker. Laß deine schlechte Laune nicht an mir aus, bloß weil wir nach Hause müssen.«
Sobald sie im Haus waren, sprang Mrs. Murphy auf einen Sessel, um Susan und Harry abfahren zu sehen.
»Weißt du, was ich drüben bei Pewter rausgekriegt habe?« fragte Tucker.
»Nein.«
»Daß es hinter dem Mischer nach Amphibien roch.«
»Woher will sie das wissen? Sie war nicht dort.«
»Aber Ozzie war da«, erwiderte Tucker trocken.
»Wann hast du das rausgekriegt?« wollte die Katze wissen.
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