«Na gut, dann gehen wir«, sagte sie und stand auf.
Das kleine Café am Hafen hatte eine Terrasse, die direkt über dem Wasser lag, ein schlichter Boden aus Holzplanken, schlichte Tische und Stühle, ein paar zerfledderte Sonnenschirme. Das Gebäude stand so, daß es jeden Windhauch abfing, und so war es auf der Veranda inzwischen sehr heiß geworden.
Beatrice hatte längst ihre Regenjacke ausgezogen und streifte nun auch ihren Pullover über den Kopf. Darunter trug sie ein weißes T-Shirt, auf das ein Pferdekopf gedruckt war. Mit beiden Händen versuchte sie, ihre wirren Haare zu ordnen.»Gott, wer hätte das gedacht«, sagte sie,»daß es heute noch so warm werden würde!«
Julien sah sie an und lächelte.»Du wirst es für ein dummes Kompliment halten, Beatrice, aber du hast dich gar nicht so sehr verändert. Natürlich bist du älter, genau wie ich. Aber deine Bewegungen, dein Lachen, die Art, wie du den Kopf wendest… das alles ist gleich geblieben. In deiner Ausstrahlung hast du nichts von einer alten Frau. Du könntest das junge Mädchen sein, das mit mir auf dem Dachboden in Le Variouf saß und Victor Hugo las.«
«Jetzt übertreibst du«, widersprach Beatrice,»mich trennen Lichtjahre von diesem Mädchen. Ein ganzes Leben sogar.«
«Hast du die Geschichte vom Glöckner von Notre-Dame noch einmal gelesen seitdem?«
Sie sah ihn an, überlegte, wie weit sie ihre Sentimentalität ihm gegenüber eingestehen wollte.»Ich habe ihn noch oft gelesen«, sagte sie schließlich,»jede Zeile ist mit Erinnerungen verbunden. Und wahrscheinlich liegt es am Alter, daß man anfängt, in Erinnerungen zu schwelgen.«
«Ich habe ihn auch noch oft gelesen. Ich habe dabei viel an uns gedacht.«
Er kramte eine Zigarre hervor, wollte auch Beatrice eine anbieten, aber sie schüttelte den Kopf. Zigarren hatte sie noch nie gemocht.
«Im nachhinein verklärt sich manches«, fuhr er fort,»für mich hat sich die Zeit damals zunehmend romantisch verklärt. Ich muß mir immer wieder sagen, daß sie alles andere als schön war. Sie war gefährlich und grausam, und ich war verzweifelt. Die Nazis stahlen mir Jahre meines Lebens. Ich saß dort oben auf dem Boden, starrte durch die Dachluke in den blauen Himmel und wünschte mir, anschreien zu können gegen das Schicksal. Aber das weißt du ja. Ich habe damals wirklich genug gejammert.«
«Ich denke aber, den Begriff Schicksal hast du gerade schon zu Recht gebraucht«, meinte Beatrice.»Es war unser Schicksal. Deines wie meines. Wenn wir heute beide die romantischen Seiten darin sehen, sollten wir uns das nicht verbieten. Es bedeutet auch, daß wir angenommen haben, was uns zugedacht war, daß wir uns ausgesöhnt haben damit. Und das ist gut so. Alles andere würde zu Verbitterung führen und uns anfällig machen für Krankheiten.«
Er stutzte einen Moment, dann lachte er.»Du hast immer noch diese wunderbar praktische Art. Wir würden anfällig werden für Krankheiten! Ich kenne kaum eine Frau, die diese Assoziation getätigt hätte.«
Sie rührte in ihrem Kaffee. Sie betrachtete Julien dabei so intensiv, wie sie ihn seit Stunden schon ansah. Er war bald achtzig Jahre alt, aber sie hätte ihn auf siebzig geschätzt. Was er über den Schwung und die Jugendlichkeit ihrer Bewegungen gesagt hatte, traf auch auf ihn zu. Er hatte nicht die Ausstrahlung eines alten Mannes. Seine einst dunklen Haare waren weiß geworden, sein einst glattes, junges Gesicht faltig, aber seine Augen waren noch immer klar und blitzend. Und hellwach.
Er hatte ihr erzählt, daß er von Suzanne geschieden war, schon seit Mitte der sechziger Jahre, daß er inzwischen noch zweimal verheiratet gewesen war. Seine zweite Ehe war in den Siebzigern geschieden worden. Seine dritte Frau war 1992 an Krebs gestorben.
«Mit ihr war ich wirklich glücklich«, hatte er nachdrücklich gesagt,»wir verstanden uns gut, ließen einander viel Freiraum. Vielleicht lag es aber auch daran, daß wir beide nicht mehr jung waren. Daß wir abgeklärter waren. Sie versuchte nicht, mich zu ändern, und ich drehte mich nicht mehr ständig nach anderen Frauen um. Irgendwann wirkt das lächerlich, findest du nicht? Spätestens dann, wenn das Grau im Haar eindeutig überwiegt. Ich hatte dann auch keinen Nachholbedarf mehr. Ich hatte das Gefühl, die versäumte Zeit wiedergutgemacht zu haben — wenn man das überhaupt sagen kann. Denn jede Lebenszeit ist etwas ganz Eigenes.Unwiederbringlich, unwiederholbar.«
Nun erst, Stunden nachdem sie auf der Uferpromenade beinahe ineinandergelaufen und einander ungläubig angestarrt hatten, fragte er:»Was ist mit deinem — wie hieß er? — Frederic geworden? Seid ihr noch zusammen?«
Sie schüttelte den Kopf.»Schon lange nicht mehr. Wir sind seit über vierzig Jahren geschieden. Wir haben keinerlei Kontakt mehr. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt.«
«Deshalb bist du wieder auf Guernsey«, folgerte er.»Ich dachte, du seist für immer in Cambridge geblieben. Du schienst damals so entschlossen, der Insel für alle Zeiten den Rücken zu kehren.«
«Es ist anders gekommen«, sagte sie nur, und ihr Ton verhieß, daß sie dieses Thema nicht zu vertiefen wünschte,»ich war nun praktisch mein ganzes Leben lang auf Guernsey.«
Er betrachtete sie nachdenklich und aufmerksam, sagte aber nichts.
«Ich war einige Male hier«, sagte er,»zuletzt im März. Und davor im letzten Jahr im August. Ich bin heute früh von St.-Malo herübergekommen. Ich werde ein paar Tage bleiben.«
«Du hast nie den Versuch gemacht, mit mir Kontakt aufzunehmen, wenn du hier warst. In all den Jahren nicht.«
«Ich dachte doch, du seist in Cambridge«, sagte er lahm, und sie schüttelte den Kopf.»So genau konntest du das nicht wissen. Es hätte sich gelohnt, einmal einen Versuch zu machen.«
«Du hast recht. Es war… es paßte irgendwie nicht…«
Sie begriff, was er eigentlich sagen wollte: Sie hatte keinen Platz mehr gehabt in seinem Leben. Sie hatte nicht mehr hineingepaßt. Sie hatte zu einer anderen Epoche gehört, und er war nicht gewillt gewesen, sie in sein neues Leben zu integrieren. Es hätte bedeutet, die Bestandteile zu vermischen, und offensichtlich hatte er eine klare Trennung haben wollen.
Aber er hat Victor Hugo gelesen, dachte sie, und es war fast kindliches Frohlocken in ihr, er hat ihn gelesen und an uns gedacht. Er ist mich nie ganz losgeworden. Es war keine Fremdheit zwischen ihnen, obwohl sie einander fast ein halbes Jahrhundert lang nicht gesehen hatten. Sie saßen so friedlich nebeneinander in der Sonne wie ein altes Ehepaar, das zusammen schweigen kann, weil es sich ohne Worte versteht. Sie hätten voreinander ausbreiten können, was alles geschehen war im Laufe der vielen Jahre und Jahrzehnte, aber keiner von ihnen hatte das Bedürfnis. Sie hatten einander einige Fakten mitgeteilt, aber im wesentlichen hatten sie geschwiegen. Nun fragte Julien:»Lebt sie noch? Du weißt schon, die Witwe Feldmanns. Nach dem Krieg ist sie doch in deinem Haus geblieben.«
Beatrice war überrascht; Helenes Tod war seit zwei Wochen das Gesprächsthema auf der Insel, und für einen Moment irritierte es sie, einem Menschen gegenüberzusitzen, der sich arglos nach ihr erkundigte. Aber dann fiel ihr ein, was Julien gesagt hatte: Erst an diesem Morgen war er aus der Bretagne herübergekommen.
«Helene ist tot«, sagte sie,»sie wurde vor zwei Wochen ermordet. Wir fanden sie auf dem Weg gleich hinter unserem Haus. Man hat ihr die Kehle durchgeschnitten.«
Während sie das sagte, wurde ihr beinahe schlecht. Es klang so ungeheuerlich, so entsetzlich. Es hätte heißen müssen: Sie ist gestorben. Sanft entschlafen. Oder: Sie war sehr krank. Endlich wurde sie erlöst. Das war es, was man im allgemeinen über verstorbene ältere Damen sagte. Man sagte nicht: jemand hat ihr die Kehle durchgeschnitten.
O Gott, dachte sie.
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