Sie brachte nicht mehr die Energie auf, ihre Tränen zurückzuhalten. Sie liefen ihr einfach aus den Augen und rollten über ihre Wangen.»Tut mir leid«, murmelte sie,»ich weiß nicht, warum ich weine. Ich bin so müde. Ich bin einfach so schrecklich müde.«
Sie fühlte, wie Alans Arme sie umschlossen. Ihr Gesicht wurde gegen seine nasse Regenjacke gepreßt, aber das machte nichts, da es von ihren Tränen ohnehin schon feucht war. Eine tröstliche Dunkelheit umhüllte sie, und Alans Arme gaben ihr Halt und Wärme.
Wie aus der Ferne vernahm sie seine Stimme:»Es muß dir doch nicht leid tun! Um Gottes willen, weine doch einfach. Weine, solange du willst!«
Sie überließ sich ihren Tränen, seinen Armen und seiner Stimme. Sie wollte sich nicht dagegen wehren, selbst wenn sie es gekonnt hätte.
Ich brauche Kraft, dachte sie, irgendwoher brauche ich Kraft.
Zu ihrer Verwunderung merkte sie, daß sie eine Quelle gefunden hatte.
Es war nach zwei Uhr, als sie schließlich bei Bruno ankamen.
«Meine Mutter wird schon ganz aufgelöst sein«, bemerkte Alan,»sicher ist sie überzeugt, daß ich sinnlos betrunken in irgendeiner Ecke liege und du es nicht fertigbringst, mich hierherzuschaffen.«
Sie waren auf die vertraute Anrede übergegangen seit der Szene in Francas Zimmer. Franca hatte eine halbe Stunde lang geweint, sie hatte geschluchzt und gezittert und dabei gespürt, daß sie nicht wegen ihrer fehlenden Medikamente so heftig weinte, sondern daß ein sehr alter, sehr lange aufgestauter Schmerz aus ihr herausbrach, daß es um ihre verlorenen Jahre ging, um Michaels Lieblosigkeit, um all die Kränkungen, die ihr zugefügt worden waren, und um die Kraftlosigkeit, mit der sie sie hingenommen hatte.
Er hatte sie schluchzen lassen, bis ihre Tränen von selbst versiegten, bis sie ruhiger wurde, bis der Kummer nicht länger stoßweise aus ihr herausfloß. Einmal hatte er ihr über die Haare gestrichen und leise gesagt:»Ich weiß, was du fühlst. Ich weiß es so gut.«
Und sie hatte das Gefühl gehabt, daß auch er sich an ihr festhielt, daß auch er in ihr einen Trost fand, selbst wenn es schien, als sei allein sie es, die Kraft schöpfte aus ihm.
«Es geht wieder«, hatte sie schließlich gesagt und sich ein wenig befangen aus seinen Armen gelöst. Sie hatte sich über die Haare gestrichen.
«Ich muß fürchterlich aussehen.«
«Du siehst hübsch aus«, sagte er,»aber du solltest dir das Gesicht waschen. Wir müßten sonst meiner Mutter und Mae eine Erklärung geben.«
Sie ging ins Bad, spritzte kaltes Wasser in ihr Gesicht, putzte sich die Nase, kämmte die Haare. Der Anblick von Verwahrlosung blieb, aber sie hatte jetzt keine Zeit mehr, sich umzuziehen und einigermaßen herzurichten.
Egal, dachte sie, Alan ist nicht Michael. Er wird sich auch so mit mir sehen lassen.
Im Auto auf dem Weg nach St. Peter Port sprachen sie kein Wort mehr über das Vorgefallene. Der Wind hatte inzwischen die letzten Wolken verjagt, und der Himmel war so blau wie am Vortag.
«Ich wußte, daß es heute noch schön werden würde«, sagte Alan. Er klang zufrieden.»Ein bißchen kenne ich mich doch noch aus mit der Insel.«
«Hast du manchmal überlegt, zurückzukehren?«fragte Franca, und Alan sagte:»Manchmal habe ich ein wenig Heimweh. Aber letztlich bietet mir die Insel keine interessanten beruflichen Möglichkeiten. Und an diesen Punkt muß ich schließlich auch denken… An ihn muß ich vor allem denken«, fügte er nach einer sekundenlangen Pause hinzu, und es klang ein wenig so, als müsse er sich selbst überzeugen.
Als sie vor dem Restaurant standen und er die Bemerkung über seine Mutter machte, die nach seiner Ansicht schon das Schlimmste vermutete, winkte Franca ab.
«Ich habe deine Mutter noch nie aufgelöst gesehen. Sie ist eine ungeheuer starke Person. Ich bewundere sie.«
«Ich könnte mir denken«, sagte Alan nachdenklich,»daß sie ihre eigene Stärke manchmal ein wenig zu sehr kultiviert hat. Daß sie an diesem Bild von sich selbst so sehr hängt, daß sie damit auch ausnutzbar wurde. Du hast mir erzählt, daß Helene sie belogen hat, um ihr ganzes Leben in ihrem Haus verbringen zu können. Aber wenn man es genau nimmt, gab es dennoch für Mum keinen Grund, die Witwe eines deutschen Besatzungsoffiziers fünfzig Jahre lang zu beherbergen. Mum wären so viele Wege offengestanden… sie hätte sich nicht hierher setzen und ihre ungeliebten Rosen züchten müssen. Aber vielleicht hat es ihr irgendwo gefallen, Helene Asyl zu gewähren. Vielleicht hat es ihr gefallen, das starke Familienoberhaupt zu sein, das ein Kind großzieht und für eine wehleidige alte Frau sorgt und sich irgendwie um alles kümmert. Ich glaube, was sie jetzt fertigmacht, ist weniger der Umstand als vielmehr die Erkenntnis, daß Helene ihr an Stärke und Raffinesse den Rang abgelaufen hat. Sie hat ihre Kraft in eine Person investiert, die das gar nicht nötig gehabt hätte. Daran beißt sie jetzt herum.«
Franca dachte über seine Worte nach, während sie ihm in das Restaurant folgte. Es waren nur einige wenige Tische besetzt; bei dem schönen Wetter zog es die Feriengäste ins Freie. An einem Tisch in der Ecke saß Mae in ihrem Sommerkleid, das sich nun doch als die richtige Wahl für den Tag erwiesen hatte, und sah sich, wie es schien, ein wenig verzweifelt um. Als sie Alan und Franca entdeckte, winkte sie wild.
«Da seid ihr ja endlich! Ihr seid über eine Stunde verspätet! Was war denn los?«
«Meine Mutter ist wohl schon gegangen?«fragte Alan. Sie setzten sich zu Mae, und Alan fuhr fort:»Entschuldige, Mae. Wir haben noch einen Spaziergang gemacht und uns völlig in der Entfernung verschätzt. Ich hoffe, du hast schon etwas gegessen.«
Vor Mae stand ein Glas mit Sherry. Sie nickte.»Ja, aber eigentlich hatte ich gar keinen Appetit. Ich habe fast alles zurückgehen lassen. Mir war überhaupt nicht nach Essen zumute.«
Franca hatte den unbestimmten Eindruck, daß Mae nicht nur wegen ihrer und Alans Verspätung durcheinander war. Irgend etwas lag in der Luft.
«Wo ist Beatrice?«fragte sie.
«Sie ist gar nicht erst mit hierhergekommen«, sagte Mae. Sie wirkte gekränkt und verärgert.»Ich meine, man kann es mir durchaus sagen, wenn man sich nicht mit mir verabreden will. Ich zwinge niemanden. Aber daß es erst heißt, wir gehen zusammen in die Stadt, wir bummeln, wir gehen dann schön Mittag essen zusammen, und zuletzt sitze ich zwei Stunden lang mutterseelenallein in einem Lokal — das ist nicht richtig. Ich hätte mir für diesen Tag auch etwas anderes vornehmen können.«
«Also, zwei Stunden sind wir nicht verspätet!«protestierte Alan.»Etwas über eine Stunde nur!«
«Ich sitze seit zwölf Uhr hier«, sagte Mae,»und jetzt ist es bald halb drei.«
«Seit zwölf? Warum das denn? Und weshalb ist meine Mutter nicht mitgekommen?«
«Sie hat einen Bekannten getroffen. An der Uferpromenade«, erklärte Mae,»und von dem Moment an existierte ich nicht mehr für sie.«
Alan runzelte die Stirn.»Einen Bekannten? Ist sie mit dem jetzt zusammen?«
«Sie wollten sich irgendwo an den Hafen setzen und einen Kaffee trinken. Das Wetter wurde ja wieder schön. Sie haben nicht ausdrücklich gesagt, daß sie mich nicht dabeihaben wollen, aber ich merke es, wenn ich störe. Und ich dränge mich nicht auf«, sagte Mae beleidigt.»Beatrice meinte, gegen halb zwei sei sie hier, ich solle euch Bescheid sagen, daß sie ein wenig später komme. Aber mir war gleich klar, daß sie die Zeit vergessen würde.«
«Wen hat sie denn da getroffen?«fragte Alan zerstreut. Er hatte die Speisekarte zu sich herangezogen und studierte die Seite, auf der die Weine angeboten wurden. Als ihm dies bewußt wurde, blätterte er rasch nach vorn zu den Pastagerichten.
Mae lehnte sich ein wenig vor und senkte die Stimme. Sie tat sehr geheimnisvoll.»Ihr werdet es nicht glauben«, flüsterte sie,»nach all den Jahren… ich dachte erst, sie bildet sich das ein, aber sie hatte recht. Er war es wirklich.«
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