»Der Tod?«
»Schlaumeier.« J. C. lachte. »Der Tod. Mit meinem knochigen Arsch hoch oben auf einem Pferdeskelett.«
J. C. und ich blickten in die Weite des Himmels hinaus, um zu sehen, ob der Tod noch immer dort herumgaloppierte.
Es hörte zu regnen auf. J. C. wischte sich das Gesicht ab und erzählte weiter: »Clarence. Armer, blöder, süchtiger, einsamer, lebensferner, puritanischer Schwachkopf. Keine Ehefrau, keine Geliebte, keine kleinen Jungs, keine Männer, Hunde, Schweine, nicht mal Pornofotos oder Muskelmagazine. Null! Er trägt noch nicht mal kurze Unterhosen! Immer nur die langen Liebestöter, sogar im Sommer! Clarence, meine Güte.«
Ich spürte, wie sich mein Mund doch noch bewegte.
»Hast du was von Clarence gehört … in letzter Zeit?«
»Er rief gestern an …«
»Wann genau?«
»Halb fünf. Warum?«
Kurz nachdem ich an seine Tür geklopft hatte, dachte ich.
»Er rief an, vollkommen neben der Kappe. ›Es ist aus und vorbei!‹ sagte er. ›Sie kommen und holen mich. Halte mir keine Predigten!‹ schrie er. Mir ist direkt das Blut gefroren. Hörte sich an, als hätte man zehntausend Statisten gefeuert, oder wie vierzig Produzentenselbstmorde, neunundneunzig vergewaltigte Starlets, Augen zu und durch. Seine letzten Worte waren: ›Hilf mir! Rette mich!‹ Und ich stand da, Jesus am andern Ende der Leitung, ein ratloser Christus. Wie soll ich helfen, wenn ich nicht die Heilung, sondern das Symptom bin? Ich sagte Clarence, er solle zwei Aspirin nehmen und am Morgen noch mal anrufen. Ich hätte schnell hinfahren sollen. Wärst du an meiner Stelle hingefahren?«
Mir fiel Clarence wieder ein, wie er da in der riesigen Hochzeitstorte lag, begraben unter Schichten von Büchern, Karten, Fotos, die der Angstschweiß zu Stapeln zusammengepappt hatte.
J. C. sah, wie ich den Kopf schüttelte.
»Er ist tot, stimmt’s? Du – bist du hingefahren?«
Ich nickte.
»Kein natürlicher Tod?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Clarence!«
Sein Schrei hätte die Weidetiere und die schlafenden Hirten aufgeschreckt. Der Anfang einer nachtschwarzen Predigt.
J. C. sprang mit zurückgeworfenem Kopf auf. Tränen schossen aus seinen Augen.
»… Clarence …«
Und dann ging er mit geschlossenen Augen den Hügel hinab, weg von den verflossenen Predigten, hin zu einem anderen Hügel, zum Kalvarienberg, wo sein Kreuz auf ihn wartete. Ich folgte ihm.
»Ich vermute, du hast nichts bei dir? Whisky, Schnaps. Zum Teufel! Es hätte so ein vollkommener Tag werden können! Clarence, du Idiot!«
Als wir beim Kreuz ankamen, sah sich J. C. suchend um, stieß ein bitteres Lachen der Erleichterung aus und zog hinter dem Balken eine gluckernde Tüte hervor.
»Das Blut Christi in einer braunen Papiertüte, in einer Flasche ohne Etikett. Die Zeremonie ist ziemlich heruntergekommen!« Er nahm einen Schluck, und noch einen. »Was soll ich jetzt tun? Da hinaufklettern, mich selbst festnageln und auf sie warten?«
»Auf sie?«
»Mensch, Junge, es ist eine Frage der Zeit, bis sie mir die Nägel durch die Handgelenke treiben und mich am Gekröse packen. Clarence ist tot! Wie ist das passiert?«
»Unter seinen Fotografien erstickt …«
J.C. reckte sich auf. »Wer sagt das?«
»Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, J. C. Ich habe niemandem etwas davon erzählt. Er wußte etwas und wurde umgebracht. Was weißt du darüber?«
»Nichts!« J. C. schüttelte wie wild den Kopf. »Nein!«
»Clarence hat einen Mann wiedererkannt, vor zwei Tagen, vor dem Brown Derby. Der Mann hob die Faust gegen ihn! Clarence rannte weg! Warum?«
»Versuch nicht, das herauszufinden!« sagte J.C. »Halt dich da raus. Ich will dich da nicht mit hineinziehen. Für mich gibt es jetzt nichts anderes zu tun, als abzuwarten.« J. C.s Stimme versagte. »Wenn Clarence tot ist, dauert es nicht lange, bis sie glauben, ich hätte ihn auf den Gedanken gebracht, zum Brown Derby zu gehen.«
»Stimmt das?«
Und mich? dachte ich. Hast du mich ebenfalls dort hingeschickt!?
»Wer war es, J. C? Sie, wer sind siel? Ringsumher werden Leute umgebracht. Vielleicht auch mein Freund Roy, wer weiß!«
»Roy?« fragte J. C. mit einem Unterton. »Tot? Dann hat er Glück. Versteckt er sich? Sinnlos! Die kriegen ihn. Genau wie mich. Ich wußte zu viel, all die Jahre.«
»Wie lange schon?«
»Weshalb?«
»Vielleicht bin ich auch schon bald tot. Ich bin über etwas gestolpert, doch ich weiß ums Verrecken nicht, über was. Roy ist über etwas gestolpert, und er ist tot oder auf der Flucht. Herrje, jemand hat Clarence umgebracht, weil er über etwas gestolpert ist. Es ist eine Frage der Zeit, bis sie eins und eins zusammengezählt haben. Was weiß ich, vielleicht bringen sie mich um, weil ich Clarence zu gut kannte, um auf Nummer Sicher zu gehen. Verdammt, J. C., Manny will das Studio für zwei Tage dichtmachen. Zum Saubermachen und Streichen! So ein Quatsch. Wegen Roy natürlich! Überleg doch! Zehntausende von Dollars zum Fenster rausgeschmissen, nur wegen einem armen Irren, dessen einziges Verbrechen darin besteht, zehn Millionen Jahre in die Vergangenheit zurückgegangen zu sein und der mit einem Lehmmodell Amok gelaufen ist. Jetzt ist ein Preis auf seinen Kopf ausgesetzt. Warum ist Roy so wichtig? Warum muß er sterben, so wie Clarence?
Du. In jener Nacht. Du sagtest, du seist oben auf Golgatha gewesen. Du hast die Mauer gesehen und die Leiter, den Körper auf der Leiter. Konntest du das Gesicht auf dem Körper erkennen?«
»Es war zu weit weg.« J. C.s Stimme zitterte.
»Hast du das Gesicht des Mannes gesehen, der den Körper auf die Leiter stellte?«
»Es war dunkel …«
»Ist es das Monster gewesen?«
»Das was?«
»Der Mann mit dem geschmolzenen rosa Wachsgesicht und dem überwucherten rechten Auge und dem schrecklichen Mund? Hat er den Puppenkörper auf die Leiter gehievt, um das Studio zu erschrecken, und dich und mich, und um alle aus irgendeinem Grund zu erpressen? Wenn ich schon sterben muß, J. C., warum darf ich dann nicht den Grund dafür erfahren? Verrate mir den Namen des Monsters, J. C.«
»Damit du wirklich umgelegt wirst? Nein!«
Um die Ecke des hinteren Studiogeländes bog ein Lastwagen. Er fuhr am Kalvarienberg vorbei, wirbelte viel Staub auf und hupte.
»Paß auf, Blödmann!« schrie ich.
Der Lastwagen staubte davon. Und J. C. hinterher.
Ein Mann, dreißig Jahre älter als ich, rannte los. Grotesk! In vollem Galopp, als wolle er abheben, sauste J. C. mit fliegenden Gewändern durch den staubigen Wind und schleuderte dabei unsinnige Worte gen Himmel.
Geh nicht zu Clarence! hätte ich ihm fast hinterhergerufen.
Blödsinn, dachte ich. Clarence hat viel zuviel Vorsprung. Den holst du nie mehr ein!!
48
Fritz und Maggie warteten im Vorführraum 10 auf mich.
»Wo bleibst du denn?« schrie er. »Weißt du was? Jetzt fehlt uns die Mitte des Films!«
Es tat gut, ein wenig dummes, albernes, lächerliches Zeug zu reden, eine Art Gegenwahnsinn, um meinen wachsenden Wahn zu kurieren. Filme drehen, das ist wie ein Liebesakt mit den steinernen Dämonen auf Notre Dame, dachte ich. Du wachst auf und hältst das Rückgrat eines marmornen Alptraums fest umklammert und denkst: Was mache ich hier eigentlich? Lügen verbreiten und Grimassen schneiden. Das alles, um einen Film herzustellen, den zwanzig Millionen Menschen unbedingt sehen wollen oder auch nicht.
Ins Leben gerufen von Abartigen, die sich in Projektionsräumen um Figuren streiten, die niemals wirklich gelebt haben.
Wie herrlich war es, sich hier bei Fritz und Maggie zu verstecken, Nonsens von sich zu geben und den Deppen zu spielen.
Aber der Nonsens half nicht viel.
Um halb fünf mußte ich mich plötzlich auf die Toilette verdrücken. Dort, im Kotzavatorium, wich mir der letzte Rest Farbe aus den Wangen. Das Kotzavatorium. So nennen alle Autoren die Toiletten, nachdem sie die ersten Erfahrungen mit den großartigen Ideen ihrer Produzenten gemacht haben.
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