»Laß mich raten«, sagte Crumleys Stimme aus dem Hörer. »Ist jetzt tatsächlich jemand gestorben?«
»Woher willst du das wissen?«
»Beruhige dich. Wenn ich dort hinkomme, wird es dann zu spät sein, alle Spuren verwischt? Wo bist du?« Ich sagte es ihm. »Unten an der Ecke ist eine irische Kneipe. Dort setzt du dich rein. Wenn die Dinge wirklich so schlimm stehen, wie du sagst, möchte ich nicht, daß du auf der Straße herumläufst. Alles in Ordnung?«
»Ich sterbe.«
»Bloß nicht. Was soll ich ohne dich den ganzen Tag treiben?«
Eine halbe Stunde später fand mich Crumley zwischen Tür und Angel der irischen Kneipe. Als er mich ansah, legte sich ein Schatten über sein Gesicht, ein Ausdruck tiefster Verzweiflung und väterlicher Fürsorge. Doch die Wolken über der Sommerlandschaft seines Gesichts zogen vorüber.
»Nun denn«, brummelte er, »wo ist die Leiche?«
In der Apartmentsiedlung fanden wir die Tür zu Clarences Wohnung weit offen vor, als hätte sie jemand mit Absicht so hinterlassen.
Wir gingen hinein.
Und standen mitten in Clarences Apartment.
Es war nicht leergefegt, geplündert wie vordem Roys Wohnung.
Sämtliche Bücher standen in den Regalen, der Boden war sauber, keine zerrissenen Briefe mehr. Sogar die gerahmten Bilder, jedenfalls die meisten, hingen wieder an der Wand.
»Na schön«, seufzte Crumley. »Wo ist der ganze Schrott, von dem du erzählt hast?«
»Wart’s ab.«
Ich zog eine Schublade aus einem Aktenschrank heraus. Da lagen Photos, geknickt und eingerissen, eilig hineingestopft.
Ich machte sechs weitere Schubs auf, um Crumley zu beweisen, daß ich nicht geträumt hatte.
Alle waren randvoll mit den noch kurz zuvor im Zimmer verstreuten Briefen.
Nur eines fehlte.
Clarence.
Crumley warf mir einen vielsagenden Brief zu.
»Sei still!« sagte ich. »Er lag da drüben, genau dort, wo du jetzt stehst.«
Crumley stieg über den unsichtbaren Körper. Er stöberte die anderen Aktenschränke durch, so wie ich es ihm vorgemacht hatte, und fand Unmengen zerrissener Fanpostkarten, die besudelten und malträtierten Fotos, alles rasch aus dem Blickfeld geräumt. Crumley stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte den Kopf.
»Eines schönen Tages«, sagte er, »wird dir zur Abwechslung etwas passieren, das Sinn macht. Hier ist keine Leiche, was soll ich also in dieser Sache unternehmen? Woher wissen wir, daß er nicht einfach in Urlaub gefahren ist?«
»Er wird nie mehr zurückkommen.«
»Wer sagt das? Willst du zum nächsten Polizeirevier gehen und Anzeige erstatten? Die kommen hierher, schauen sich den zerrissenen Plunder in den Schubladen an, zucken die Achseln, sagen, daß es nun einen Bekloppten weniger in Hollywood gibt, unterrichten den Vermieter und …«
»Den Vermieter?« erklang eine Stimme hinter uns.
In der Tür stand ein alter Mann.
»Wo ist Clarence?« fragte er.
Ich redete sehr schnell. In leuchtenden Farben schilderte ich die Jahre 1934 und 1935, als ich auf Rollschuhen durch die Gegend geeiert war, von einem wütenden, Gehstock schwingenden W. C. Fields verfolgt, von Jean Harlow auf die Wange geküßt, direkt vor dem Vendome-Restaurant. Bei diesem Kuß waren mir die Kugellager aus den Rollschuhen gesprungen. Ich hatte nach Hause humpeln müssen, blind für den Straßenverkehr und taub für die Fragen meiner Schulkameraden.
»In Ordnung, in Ordnung, ich habe schon verstanden!« Der Alte sah sich im Zimmer um. »Ihr seht nicht wie Einbrecher aus. Nur weil Clarence sich immer so aufführt, als wolle ihn eine Horde Fotoklauer vergewaltigen. Deswegen …«
Crumley reichte ihm seine Visitenkarte. Der alte Mann warf einen Blick darauf und sog sein Gebiß am Gaumen fest.
»Ich will hier keinen Ärger haben!« heulte er.
»Keine Bange. Clarence rief uns an, er hatte Angst. Deshalb sind wir hier.«
Crumley ließ seinen Blick umherschweifen.
»Richten Sie Sopwith aus, er soll mich anrufen.«
Der Alte schielte auf die Karte. »Polizei aus Venice? Wann räumen die endlich mal auf?«
»Was?«
»Die Kanäle! Voller Müll. Die Kanäle!«
Crumley schob mich Richtung Tür.
»Ich kümmere mich darum.«
»Um was?«
»Die Kanäle«, sagte Crumley. »Den Müll.«
»Ach so«, sagte der alte Mann.
Und schon waren wir draußen.
46
Wir standen auf dem Bürgersteig und fixierten den Wohnkomplex, als könne er plötzlich vom Stapel laufen und wie ein Schiff ins Meer gleiten.
Crumley sah mich nicht an. »Schon wieder die gleiche verquere Geschichte. Du bist fertig, weil du eine Leiche gesehen hast. Ich bin fertig, weil ich sie nicht gesehen habe. Mist. Vermutlich können wir ebensogut warten, bis Clarence zurückkommt.«
»Tot?«
»Willst du etwa eine Vermißtenanzeige aufgeben? Was wäre ein Anhaltspunkt?«
»Zwei Dinge. Jemand zertrampelte Roys Monstermodelle und vernichtete seine Tonskulptur. Ein anderer räumte die Sauerei auf. Jemand hat Clarence zu Tode erschreckt oder erwürgt. Wieder räumte ein anderer auf. Also zwei Gruppen, oder zwei Einzelpersonen: Jemand, der alles kurz und klein schlägt; und der andere, der mit Truhen, Besen und Staubsaugern anrückt. Momentan kann ich mir nur vorstellen, daß das Monster über die Mauer kam, Roys Figuren eigenhändig zerstörte, sich wieder aus dem Staub machte und alles so zurückließ, wie es wenig später vorgefunden, abtransportiert oder versteckt wurde. Und hier das gleiche noch einmal. Das Monster stieg von Notre Dame herunter …«
»Stieg herunter?«
»Ich habe es direkt von Angesicht zu Angesicht gesehen.«
Zum ersten Mal sah Crumley etwas blaß aus.
»Du bringst dich noch um, verdammt noch mal. Bleib weg von hohen Gebäuden. Wenn wir gerade davon reden: wir sollten nicht unbedingt im hellen Tageslicht hier herumstehen und plaudern. Könnte sein, daß die Putzbrigade noch einmal zurückkommt.«
»Du hast recht.« Ich setzte mich in Bewegung.
»Kann ich dich mitnehmen?«
»Das Studio ist nur eine Straße weiter.«
»Ich mache mich auf den Weg zum Zeitungsarchiv. Es muß dort etwas über Arbuthnot und 1934 geben, das wir nicht wissen. Soll ich unterwegs nach Clarence Ausschau halten?«
Ich drehte mich um. »Crum, du weißt so gut wie ich, daß sie ihn inzwischen verbrannt haben, und die Asche haben sie auch verbrannt. Sollen wir etwa in den Verbrennungsofen kriechen und die Schlacke untersuchen? Ich mache mich auf zum Garten Gethsemane.«
»Ist das ein sicherer Ort?«
»Sicherer als Golgatha.«
»Bleib dort. Ruf mich an.«
»Du wirst mich hören, quer durch die ganze Stadt«, sagte ich. »Auch ohne Telefon.«
47
Doch zuerst machte ich am Kalvarienberg halt.
Die drei Kreuze waren leer.
»J. C«, flüsterte ich, das zusammengefaltete Bild in meiner Tasche umfassend. Da merkte ich auf einmal, daß mir schon eine ganze Zeit lang etwas dicht auf den Fersen gefolgt war.
Ich hielt nach Mannys Meute Ausschau. Sein schattengrauer Rolls-Royce persönlich kroch wie ein chinesischer Leichenwagen hinter mir her. Ich hörte, wie sich die Hintertür mit einem schmatzenden Geräusch von der Gummidichtung löste, sich öffnete und einen Schwall tiefgekühlter Luft entließ. Manny Leiber, nicht viel größer als eine Eisbombe, schaute aus seiner eleganten Tiefkühltruhe heraus. »He«, sagte er.
Es war ein heißer Tag. Ich neigte mich in den gekühlten Passagierraum, kühlte mir Gesicht und Verstand.
»Ich habe Neuigkeiten für Sie.« Mannys Atem stand in der künstlichen Winterluft. »Wir schließen das Studio für zwei Tage. Großreinemachen. Alles mal frisch streichen.«
»Wie können Sie so etwas tun? Die Ausfallkosten …«
»Jeder bekommt sein Gehalt voll weiterbezahlt. Die Sache wäre schon Vorjahren fällig gewesen. Wir schließen dann also vorübergehend …«
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