Warum nur? dachte ich. Damit niemand mehr auf dem Gelände herumläuft. Weil sie wissen, oder vermuten, daß Roy noch am Leben ist, und weil ihnen jemand den Auftrag erteilt hat, ihn zu finden und zu töten?
»Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe«, sagte ich.
Ich hatte die Erfahrung gemacht, daß eine Beleidigung oft die beste Antwort ist. Niemand verdächtigte einen, wenn man seinerseits dumm genug ist, ausfällig zu werden.
»Wer ist denn auf diese hirnverbrannte Idee gekommen?« fragte ich.
»Wie meinen Sie das?« blökte Manny und zog sich noch weiter in seinen Kühlschrank zurück. Sein Atem zeichnete sich als Kondensstreifen ab. »Das war meine Idee!«
»So dumm sind Sie nicht«, stichelte ich. »Sie würden so etwas nie veranlassen. Sie sorgen sich zu sehr ums Geld. Jemand muß Ihnen den Auftrag dazu gegeben haben. Jemand über Ihnen?«
»Über mir gibt es niemanden mehr!« Doch seine Augen wichen meinem Blick aus, und ich sah seinem Mund an, daß er nach Ausflüchten suchte.
»Sie wollen das alles auf Ihre Kappe nehmen? Das kostet mindestens eine halbe Million pro Woche!«
»Na und«, sagte er ausweichend.
»Da steckt bestimmt New York dahinter.« Ich gab noch eins drauf. »Diese Telefonzwerge aus Manhattan. Blöde Affen. Sie haben nur noch zwei Drehtage, dann ist Cäsar und Christus abgedreht. Was geschieht, wenn J. C. wieder auf Sauftour geht, während Sie die Ateliers streichen …?«
»Die Szene mit dem Holzkohlenfeuer war seine letzte. Wir nehmen ihn aus der Bibel. Sie tun das. Und noch etwas: Sobald das Studio wieder in Betrieb ist, machen Sie an Tote reiten schneller weiter.«
Seine Worte schleuderten mir Frost ins Gesicht. Der Frost kroch mir den Rücken hinunter.
»Das ist unmöglich, ohne Roy Holdstrom.« Ich mußte mich noch plumper, noch naiver geben. »Und Roy ist tot.«
»Was?« Manny beugte sich vor, kämpfte sichtlich um Gleichmut und blinzelte mit den Augen: »Warum sagen Sie das?«
»Er hat Selbstmord begangen«, sagte ich.
Manny wurde noch argwöhnischer. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie Doc Phillips ihm Bericht erstattete: Roy in Atelier 13 aufgehängt, abgeschnitten, weggekarrt, verbrannt.
So einfältig wie möglich fragte ich weiter: »Haben Sie. seine Viecher alle noch in Halle 13?«
»Ääh … ja«, log Manny.
»Roy kann ohne seine Geschöpfe nicht leben. Ich war vor kurzem in seiner Wohnung. Sie war leer. Jemand hat alles gestohlen: Roys Kamera, seine Miniaturen. Ohne diese Dinge kann Roy nicht leben. Und er würde nicht einfach davonlaufen. Nicht, ohne mir Bescheid zu sagen, nach zwanzig Jahren Freundschaft. Verflixt nochmal, Roy ist tot.«
Manny studierte mein Gesicht, um herauszufinden, ob er mir glauben konnte. Ich setzte meinen traurigsten Gesichtsausdruck auf.
»Suchen Sie ihn«, sagte Manny endlich, ohne zu blinzeln.
»Ich sagte doch gerade …«
»Suchen Sie ihn, oder Sie fliegen hochkantig raus, und dann werden Sie für den Rest Ihres Lebens in keinem Studio mehr Arbeit finden. Dieser blöde Kerl ist nicht tot. Man hat ihn gestern auf dem Gelände gesehen, in der Nähe von Halle 13. Vielleicht versucht er, dort einzubrechen und seine verfluchten Monster herauszuholen. Sagen Sie ihm, die Sache sei erledigt. Wir stellen ihn mit höherem Gehalt wieder ein. Es ist an der Zeit zuzugeben, daß wir uns getäuscht haben und daß wir ihn brauchen. Wenn Sie ihn finden, wird auch Ihr Gehalt erhöht. Okay?«
»Heißt das, Roy darf das Gesicht, das er entworfen hat, diesen Tonkopf, verwenden?«
Manny verlor rapide an Farbe. »Himmel, nein! Wir müssen einen neuen Anfang machen. Wir starten eine Anzeigenkampagne.«
»Ich glaube nicht, daß Roy zurückkommt, wenn er nicht sein eigenes Monster erschaffen darf.«
»Er wird kommen, wenn er weiß, was gut für ihn ist.«
Um sich eine Stunde, nachdem er die Stechuhr gedrückt hat, umbringen zu lassen?
»Nein«, sagte ich. »Er ist wirklich tot – für alle Zeiten.«
Ich hämmerte alle Nägel in Roys Sarg, in der Hoffnung, daß Manny mir glaubte und das Studio nicht dicht machte, um die Suche abzuschließen. Eine dumme Idee. Andererseits kommen durchgedrehte Leute oft auf dumme Ideen.
»Suchen Sie ihn«, sagte Manny und lehnte sich zurück; sein Schweigen ließ die Luft gefrieren.
Ich schloß die Eisschranktür. Der Rolls schwebte davon, verschwand wie ein eiskaltes Lächeln.
Mich schauderte. Dann machte ich die große Tour. Ich durchquerte Green Town, kam nach New York City, zur ägyptischen Sphinx und durch das Forum Romanum. Auf der Fliegentür am Vordereingang zum Haus meiner Großeltern nur ein paar Fliegen. Zwischen den Pfoten der Sphinx nur Staub.
Ich blieb neben dem großen Felsbrocken stehen, der vor das Grab Jesu gerollt worden war.
Ich ging zum Felsen hin, um mein Gesicht zu verbergen.
»Roy«, flüsterte ich.
Der Fels erzitterte unter meiner Berührung.
Und der Fels schrie auf: Er ist nicht hier.
Großer Gott, Roy, dachte ich. Die brauchen dich für irgend etwas, und wenn es nur zehn Sekunden sind, bevor sie dich zu Brei schlagen.
Der Fels schwieg. Ein Staubwirbel trieb an der Fassade eines Nevada-Städtchens vorbei und streckte sich wie eine streunende Katze zum Schlafen neben einer alten Pferdetränke aus.
Eine Stimme kam vom Himmel herab: »Falscher Ort! Hier!«
Ich blickte zu einem anderen Hügel, der sich in etwa hundert Meter Entfernung vor die Skyline der Großstadt schob, eine sanft ansteigende Matte aus falschem Gras, das jahraus, jahrein in saftigem Grün stand.
Dort stand ein Mann mit einem Bart; sein weißes Gewand flatterte im Wind.
»J. C.!« Ich stolperte keuchend den Hügel hinauf.
J. C. reichte mir auf den letzten Metern hilfreich die Hand und sagte mit feierlichem, traurigem Lächeln: »Wie gefällt dir das? Die Bergpredigt. Willst du sie hören?«
»Soviel Zeit haben wir nicht, J. C.«
»Wieso konnten all die anderen Leute vor zweitausend Jahren geduldig zuhören?«
»Die hatten keine Armbanduhren, J. C.«
»Nein.« Er blickte zum Himmel. »Nur die langsame Bewegung der Sonne und alle Zeit der Welt, um die wichtigen Dinge auszusprechen.«
Ich nickte. Clarences Namen steckte mir in der Kehle.
»Setz dich nieder, mein Sohn.« In der Nähe lag ein großer Felsbrocken. Auf den setzte sich J. C, und ich kauerte mich wie ein Schafhirte zu seinen Füßen nieder. Er blickte beinahe sanft auf mich herab und sagte: »Ich habe heute noch keinen hinter die Binde gekippt.«
»Prima!«
»Manchmal gibt es solche Tage. Mein Gott, ich bin fast den ganzen Tag hier oben gewesen, habe mich an den Wolken erfreut. Ich wollte ewig leben, nur wegen gestern nacht, wegen der Worte, wegen dir.«
Er mußte gespürt haben, daß ich schwer schluckte, denn er senkte den Kopf und berührte mein Haar.
»Oh, oh«, sagte er. »Du willst mir doch nicht etwas sagen, das mich wieder zum Saufen bringt?«
»Ich hoffe nicht, J. C. Es geht um deinen Freund Clarence.«
Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und aus heiterem Himmel ging ein Regenguß nieder. Ich ließ den Regen über mein Gesicht fließen, und auch J. C. hob sein Gesicht, um die Erfrischung zu genießen.
»Clarence«, murmelte er. »Ich kenne ihn schon eine Ewigkeit. Er war da, als es hier noch richtige Indianer gab. Clarence stand draußen, ein Kind, nicht viel älter als neun Jahre, Brille, blonde Haare, strahlend über das ganze Gesicht, mit seinem großen Buch voller Zeichnungen und Fotos, die er signiert haben wollte. Er stand dort am ersten Tag, an dem ich im Morgengrauen hier ankam, und auch um Mitternacht, als ich wieder wegging, stand er da. Ich war einer der vier Reiter der Apokalypse!«
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