Wohin des Wegs? fragte ich stumm.
Einen Moment ausruhen, antwortete er ebenso wortlos.
Mein Blick fiel auf seine Handgelenke. Die Blutung hatte aufgehört.
Auf einer Kreuzung mitten im Studiogelände nahm mich J. C. bei den Händen, und sein Blick verlor sich in der Ferne.
»Junior …?«
»Was denn?«
»Dieses Ding, von dem wir gesprochen haben … der Regen … und der Mann auf der Leiter.«
»Was ist damit?«
»Ich habe ihn gesehen.«
»Mein Gott, J. C! Wie sah er aus? Was …«
»Schsch!« Erlegte den Zeigefinger auf die geschminkten Lippen.
Dann verschwand er Richtung Kalvarienberg.
Constance fuhr mich kurz nach Tagesanbruch zu meiner Wohnung.
Dort, in meiner Straße, schienen keine fremden Wagen mit Spionen auf mich zu warten.
Constance legte noch einen großen Auftritt aufs Parkett, als sie sich in der Haustür über mich hermachte.
»Constance! Die Nachbarn!«
»Laß die Nachbarn, mein Süßer!« Sie küßte mich so fest, daß meine Armbanduhr stehenblieb. »Jede Wette, daß dich deine Frau nicht so küßt!«
»Da wäre ich schon vor sechs Monaten tot gewesen!«
»Faß dir dorthin, wo es dir was ausmacht, wenn ich die Tür zuknalle!«
Ich faßte dorthin, sie knallte die Tür zu und fuhr davon. Beinahe im gleichen Augenblick schlug die Einsamkeit wie eine Woge über mir zusammen. Es war, als sei Weihnachten ein für allemal vorbei.
Im Bett dachte ich dann: J. C, du Mistkerl! Warum hast du mir nicht mehr erzählt?
Und dann: Clarence! Warte auf mich!
Ich komme zurück!
Noch ein allerletzter Versuch!
45
Gegen Mittag fuhr ich zur Beachwood Avenue.
Clarence hatte nicht auf mich gewartet.
Ich wußte es sofort, als ich die halboffene Tür seines Apartments aufdrücken mußte. Innen lagen Schneestürme von zerrissenem Papier, zerfetzten Büchern und aufgeschlitzten Bildern, ganz so wie das Massaker in Atelier 13, wo man Roys Dinosaurier zertrümmert und zerschlagen hatte.
»Clarence?«
Ich drückte die Tür weiter auf.
Der Alptraum eines Geologen.
Knöcheltief lagen dort Briefe und Zettel mit den Unterschriften von Robert Taylor und Bessie Love und Ann Harding, von 1935 oder noch früher. Das war die oberste Schicht.
Weiter unten, über einen speckigen Teppich verstreut, lagen Tausende von Schnappschüssen, die Clarence von Al Jolson, John Garfield, Lowell Sherman und Madam Schumann-Heink gemacht hatte. Zehntausend Gesichter starrten mich an. Die meisten davon waren schon lange tot.
Unter weiteren Schichten lagen Autogrammbücher vergraben, Filmgeschichten, Plakate von zehn Dutzend Stummfilmen, angefangen mit Bronco Billy Anderson und Chaplin bis zu all den Jahren, in denen das Lilienbündel der Gish-Schwestern bleich über die Leinwand huschte, um die Einwanderer zu Tränen zu rühren. Und ganz zum Schluß, unter King Kong und die weiße Frau, Die versunkene Welt und Laugh Clown Laugh, unter all den Riesenspinnen und den Tänzern mit den gepuderten Zehen und den untergegangenen Städten entdeckte ich: Einen Schuh.
Zu dem Schuh gehörte ein Fuß. Der Fuß, eigenartig verdreht, gehörte zu einem Knöchel. Der Knöchel führte zu einem Bein. Und so weiter, den ganzen Körper hinauf, bis ich in ein Gesicht blickte, in dem sich noch das Entsetzen des Todes spiegelte. Da lag Clarence, in die Ecke geschleudert und unter Hunderttausenden von Autogrammen abgelegt, versunken in einer Flut alter Reklame und illustrierter Leidenschaften, die ihn bestimmt zerquetscht und ersäuft hätten, wäre er nicht bereits tot gewesen.
So wie er aussah, hätte er an einem Herzschlag gestorben sein können, die am einfachsten festzustellende Todesursache. Seine Augen waren weit aufgerissen wie bei einer Blitzlichtaufnahme, sein Mund in ungläubigem Staunen erstarrt: Was machen Sie da mit meinem Schlips, mit meinem Hals, meinem Herzen? Wer sind Sie?
Irgendwo hatte ich gelesen, daß in der Sekunde des Todes die Retina des Opfers den Täter fotografiert. Wenn man die Netzhaut also abzöge und in Entwickler badete, würde das Gesicht des Mörders aus der Dunkelheit hervorkommen.
Clarences wilder Blick bettelte darum, entwickelt zu werden. Das Antlitz seines Killers war in jedes Auge eingeschrieben.
Ich stand mitten in der Müllflut und blickte mich um. Unglaublich! Jede einzelne Sammelmappe war ausgeschüttet, Hunderte von Bildern waren zerknüllt worden. Plakate hatte man von den Wänden gerissen, Bücherregale verwüstet. Clarences Taschen hatte man nach außen gekehrt. Kein normaler Einbrecher hätte sich so besinnungslos aufgeführt.
Clarence, der immer Angst hatte, im Straßenverkehr umzukommen, der an jeder Ampel wartete, bis die Autos wirklich standen, damit er seine treuen Lieblinge, seine Sammelmappen, sicher über die Straße brachte.
Clarence.
Ich drehte mich um und hoffte inständig, wenigstens für Crumley einen Hinweis zu entdecken.
Sämtliche Schubladen von Clarences Schreibtisch waren herausgerissen, ihr Inhalt lag auf dem Boden verstreut.
An den Wänden hingen noch einige wenige Bilder. Eines von ihnen nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Jesus Christus auf dem Kalvarienberg, Außendekoration.
Die Widmung lautete: »Für Clarence. FRIEDEN wünscht der einzig wahre J. C.«
Ich riß es aus dem Rahmen und stopfte es mir in die Tasche.
Dann drehte ich mich mit klopfendem Herzen um und wollte davonlaufen, als mir noch etwas auffiel. Ich nahm es sofort an mich.
Eine Streichholzschachtel aus dem Brown Derby.
Noch etwas?
Ich, sagte Clarence, mir ist kalt. Hilf mir.
Oh, Clarence, dachte ich, wenn ich dir nur helfen könnte!
Mein Herz hämmerte. Ich stürzte zur Haustür hinaus und hatte große Angst, jemand könne mich sehen.
Ich rannte davon.
Bloß nicht! Ich blieb stehen.
Wenn sie dich davonlaufen sehen, bist du der Täter! Langsam gehen, stehenbleiben. Ich wollte mich übergeben, doch außer einem trockenen Würgen und alten Erinnerungen schien nichts hochzukommen.
Eine Explosion, 1929.
Nicht weit von unserem Haus wurde ein Mann aus seinem verunglückten Wagen geschleudert und schrie: »Ich will nicht sterben!«
Und ich saß mit meiner Tante auf der Veranda unseres Hauses und preßte mein Gesicht gegen ihren Busen, damit ich die Schreie nicht mehr hören mußte.
Oder als ich fünfzehn war. Ein Auto knallt gegen einen Telefonmast, Leute klatschen gegen Hauswände und Feuerhydranten, ein Puzzle aus zerfetzten Körpern und verstreutem Fleisch … Oder …
Das ausgebrannte Autowrack, hinter dessen Steuer in grotesk aufrechter Haltung eine verbrannte Gestalt sitzt, ganz ruhig hinter ihrer Holzkohlenmaske, mit zusammengeschnürten Fingern, die mit dem Lenkrad verschmolzen sind …
Oder …
Eine Woge von Büchern und Fotografien und signierten Postkarten schlug über mir zusammen.
Ich stieß blind gegen eine Hauswand und tappte eine leere Straße entlang, dankte Gott für die Stille, und endlich fand ich etwas, das ich als Telefonzelle identifizierte. Nachdem ich zwei Minuten lang meine Taschen nach dem Zehner durchwühlt hatte, den ich zu diesem Zweck immer bei mir trug, schob ich ihn in den Schlitz und steckte den Finger in die Wählscheibe.
Gerade als ich Crumleys Nummer wählte, tauchten die Männer mit den Besen auf. Zwei Studiolaster und ein alter verbeulter Lincoln rauschten auf dem Weg zur Beachwood Avenue vorbei. An der Ecke, wo es zu Clarences Apartment ging, bogen sie ein. Bei ihrem bloßen Anblick fiel ich in mir zusammen wie ein Akkordeon. Der Mann in dem Lincoln hätte gut Doc Phillips sein können, doch ich war viel zu beschäftigt damit, mich zu verstecken und in die Knie zu sinken, so daß ich es nicht mit Sicherheit sagen konnte.
Читать дальше