»Wenn ich nicht mehr hier bin«, sagte Constance und setzte sich an einen Tisch, der für die Komparsen unter freiem Himmel aufgestellt war, »dann such mich bei den Männern in der Turnhalle.« Sie winkte zum Abschied mit einem Doughnut.
Ich machte mich allein in die Dunkelheit davon. Sehr viel Orte, an denen ich noch suchen konnte, blieben nicht mehr übrig. Ich machte mich jetzt zu einem Bereich des Studiogeländes auf, den ich noch nie betreten hatte. Dort herrschte eine andere Zeit. Der Geist von Arbuthnots Filmen überdauerte hier und vielleicht auch der Geist meines eigenen Ich als kleiner Junge, wie ich um die Mittagszeit um die Studiomauern geschlichen bin.
Als ich so vor mich hinmarschierte, bedauerte ich plötzlich, das, was von Constance Rattigans Lachen noch übriggeblieben war, zurückgelassen zu haben.
In tiefer Nacht führen die Filmstudios Selbstgespräche. Wenn man durch die dunklen Gassen an den Gebäuden vorbeigeht, in deren oberen Stockwerken die Schneideräume bis zwei, drei oder vier Uhr morgens flüstern und kreischen und gröhlen und schnattern, kann man Streitwagen durch die Luft brausen hören, hören, wie der Sand über Beau Gestes von Geistern heimgesuchte Wüste weht, oder den Verkehr auf den Champs Elysees, komplett mit französischen Autohupen und Flüchen, oder den Niagarafall, wie er sich von den Türmen des Studios in die tiefen Filmgewölbe ergießt, oder Barney Oldfield bei seinem letzten Rennen, wie er in seinem Flitzer in Indianapolis an der gesichtslosen Menge vorbeirast, und ein paar Schritte weiter in der Dunkelheit läßt jemand die Kriegshunde von der Kette, und du hörst, wie sich Cäsars Wunden wie Rosenknospen unter seinem Gewand öffnen, oder Churchill über den Äther gegen den Hetzer anbellt. Und die Nachtmenschen arbeiten zwischen diesen Klängen, weil sie die Gesellschaft der Moviolas, der Kintopp-Bilder und der Nahaufnahmen von Liebespaaren den im hellen Licht des Tages gestrandeten Leuten vorziehen. Die Realität draußen vor den Studiomauern verblüfft und erschreckt sie. Das Ganze ist ein nachmitternächtlicher Zusammenprall zu Grabe getragener Stimmen und vergessener Melodien, in einer Zeitwolke zwischen den Gebäuden eingefangen; Geräusche, die aus den Türen und Fenstern hoch oben entfleuchen, während die Schatten der Cutter sich auf bleichen Zimmerdecken über die Zauberwesen beugen. Erst gegen Morgengrauen verstummen die Stimmen, und die Melodien ersterben, wenn die Lächler-mit-den-Messern nach Hause hasten, um ja dem ersten Schub Realisten nicht in die Arme zu laufen, der um sechs Uhr in der Früh eintrifft. Erst bei Sonnenuntergang werden sich die Stimmen wieder erheben, und die Musik wird in leisen Takten oder mit Getöse erklingen, wenn sich das Glühwürmchenflimmern der Moviolas wieder in den Gesichtern der Betrachter spiegelt, ihre Augen entzündet und ihnen die Klingen in die bereitwillig erhobenen Finger schiebt.
Ich rannte durch eine Gasse, in der all diese Geräusche und Melodien aus den Gebäuden drangen. Offensichtlich war mir niemand auf den Fersen. Ich blickte nach oben, wo von Osten her Hitler wütete und wo der laue Nachtwind von Westen her den Gesang einer russischen Armee herantrug.
Plötzlich blieb ich stehen. Ich starrte nach oben, zu … Maggie Botwins Schneideraum. Die Tür stand sperrangelweit offen.
Ich schrie: »Maggie!«
Nichts.
Ich sah zu den flackernden Glühwürmchenlichtern empor, zu dem stotternden Geschnatter der Moviola, dorthin, wo die Schatten hoch oben über die Zimmerdecke zuckten.
Eine ganze Weile blieb ich in der Dunkelheit stehen, an dem einzigen Ort der Welt, an dem das Leben zerschnitten, neu zusammengesetzt und dann wieder zerstückelt wird. Der Ort, an dem man das Leben so lange dreht und wendet, bis man damit zufrieden ist. Du schaust auf den kleinen Projektionsschirm der Moviola, stellst den Motor an und läßt den Film laufen, begleitet von einem wilden Klackern, das immer dann ertönt, wenn der Film angehalten wird, ein Standbild erscheint und er dann wieder weiterrauscht. Hat man einen halben Tag lang auf den Schirm gestarrt, ist man beinahe davon überzeugt, daß sich das Leben draußen auch immer wieder neu zusammensetzen läßt, es seine zusammenhanglosen Blödigkeiten endlich aufgeben und versprechen wird, sich ab jetzt zu benehmen. Einige Stunden eine Moviola zu bedienen beflügelt den Optimismus, denn man kann seine sämtlichen Dummheiten zurückholen und ihnen die Beine abschneiden. Das Gefährliche dabei ist bloß, daß man nach einer gewissen Zeit kein Verlangen mehr danach verspürt, jemals wieder ans Tageslicht zu treten.
Und nun, in Maggie Botwins Tür, hinter mir die Nacht und vor mir diese kühle Zelle, betrachtete ich diese erstaunliche Frau, die wie eine Flickschneiderin von Licht und Schatten über die Maschine gebeugt saß und den Filmstreifen durch ihre schlanken Finger gleiten ließ.
Ich kratzte am Fliegengitter der Innentür.
Maggie blickte von ihrem erleuchteten Wunschbrunnen auf, versuchte mit gerunzelter Stirn durch die Maschen des Gitters zu sehen und stieß dann einen Freudenschrei aus.
»Hol mich der Teufel! Zum ersten Mal seit vierzig Jahren zeigt sich hier oben einer von den Autoren. Dabei müßte man annehmen, die Narren wären neugierig darauf, wie ich ihnen die Haare schneide und die Säume kürze. Einen Augenblick!«
Sie machte den Riegel der Fliegentür auf und zog mich hinein. Wie ein Schlafwandler ging ich auf die Moviola zu und blinzelte auf den Bildschirm.
Maggie stellte mich auf die Probe: »Erinnern Sie sich an ihn?«
»Erich von Stroheim«, sagte ich voller Staunen. »Der Film wurde ’21 hier gedreht, ist aber verschollen.«
»Ich habe ihn gefunden!«
»Weiß das Studio davon?«
»Diese Armleuchter? Nein! Die wissen ja nicht einmal das zu schätzen, was sie haben !«
»Haben Sie den kompletten Film?«
»Jawohl! Und wenn ich in die Grube fahre, kriegt ihn das Museum of Modern Art. Sehen Sie nur!«
Maggie Botwin machte sich an einem Projektor zu schaffen, der an ihrer Moviola angeschlossen war und sofort anfing, Bilder an die Wand zu werfen. Von Stroheim stolzierte wie ein Pfau über die Wandtäfelung.
Maggie schaltete aus und machte sich daran, eine andere Rolle einzulegen.
Während sie hantierte, beugte ich mich plötzlich nach vorne. Ich sah eine kleine, grüne Filmbüchse, die ganz anders als die anderen aussah und die auf dem Tresen zwischen zwei Dutzend anderer Büchsen lag.
Im Gegensatz zu den anderen war auf dieser Büchse kein Titel aufgedruckt, auf dem Deckel prangte lediglich ein mit Tintenstift gemalter, sehr kleiner Dinosaurier.
Maggie verfolgte meinen Blick. »Was ist denn?«
»Wie lange haben Sie diesen Film schon?«
»Wollen Sie ihn? Das ist der Versuch, den Ihr Kollege Roy vor drei Tagen zum Entwickeln hier abgegeben hat.«
»Haben Sie schon mal reingeschaut?«
»Sie etwa nicht? Man will ihn feuern deswegen. Was war das für eine Geschichte? Keiner hat etwas verlauten lassen. In der Büchse sind nur dreißig Sekunden. Allerdings die besten dreißig Sekunden, die ich je gesehen habe. Besser als Dracula oder Frankenstein. Aber was verstehe ich schon davon?«
Mein Puls hämmerte, als ich die Filmbüchse in meine Manteltasche steckte.
»Ein sehr netter Mann, dieser Roy.« Maggie fädelte einen neuen Filmstreifen in ihre Moviola. »Für den würde ich alles tun. Na ja. Möchten Sie die einzig existierende intakte Kopie von Gebrochene Blüten sehen? Die fehlenden Stücke aus The Circus? Die zensierte Rolle von Harold Lloyds Drachentöter? Und das ist noch nicht alles …«
Maggie Botwin hielt inne, trunken von ihrer Kinovergangenheit und meiner ungeteilten Aufmerksamkeit.
»Doch – ich denke, man kann Ihnen vertrauen.« Wieder unterbrach sie sich. »Aber ich verplaudere mich. Sie sind bestimmt nicht hierhergekommen, um zuzuhören, wie eine alte Henne vierzig Jahre alte Eier legt. Wie kommt es, daß Sie der einzige Autor sind, der jemals diese Stufen erklommen hat?«
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