Ich berührte das Kreuz, schwankte, und schrie blindlings nach oben: »J. C!«
Keine Antwort. Ich versuchte es erneut, mit zittriger Stimme. Raschelnd rollte ein kleines Büschel Präriegras vorbei.
»J. C!« Ich brüllte fast.
Und endlich ertönte vom Himmel herab eine Stimme.
»Niemand dieses Namens wohnt in dieser Straße, auf diesem Hügel, auf diesem Kreuz«, murmelte eine traurige Stimme.
»Wer du auch sein magst, komm verdammt noch mal herunter!«
Ich tastete meine Umgebung ab in der Hoffnung, auf Sprossen zu stoßen. Die Dunkelheit um mich herum ängstigte mich. »Wie bist du da hinaufgekommen?«
»Da steht eine Leiter, und ich bin auch nicht festgenagelt. Ich halte mich nur an Haken fest, außerdem gibt es einen kleinen Vorsprung für die Füße. Es ist sehr friedlich hier oben. Manchmal bleibe ich neun Stunden hier und büße meine Sünden ab.«
»J. C!« schrie ich hinauf. »Ich kann nicht bleiben. Ich fürchte mich! Was treibst du da?«
»Erinnerst du dich an all die Heuschober und Hühnerfedern, in denen ich mich herumgewälzt habe?« kam J. C.s Stimme vom Himmel. »Siehst du die Federn wie Schneeflocken herabfallen? Wenn ich hier herunterkomme, gehe ich jeden Tag zur Beichte! Ich muß mein Gewissen um zehntausend Frauen erleichtern. Ich nenne die exakten Maße, soundsoviel Hinterteil, Busen, Schoß und Stöhnen, bis auch der letzte Priester sich irgendwohin faßt! Wenn ich schon nicht mehr an Seidenstrümpfen hinaufklettern darf, so will ich wenigstens gelegentlich den Puls eines Klerikers dermaßen zum Hyperventilieren bringen, daß er sich den weißen Stehkragen vom Hals reißt. Wie auch immer, ich bin jedenfalls hier oben allem Kummer enthoben. Ich beobachte die Nacht, und die Nacht beobachtet mich.«
»Sie beobachtet auch mich, J. C. Ich fürchte mich vor der Dunkelheit in den Studiogassen und drüben bei Notre Dame. Ich bin eben dort gewesen.«
»Bleib bloß weg von dort«, sagte J. C, plötzlich aufbrausend.
»Warum? Hast du die Türme heute nacht beobachtet? Hast du etwas gesehen?«
»Du sollst da wegbleiben, das ist alles. Es ist nicht sicher.«
Weiß ich selbst, dachte ich, und blickte mich plötzlich um. »Was siehst du noch, J. C, ist es dort oben Tag oder Nacht?«
J. C. ließ seinen Blick über die Schatten schweifen. Mit leiser Stimme sagte er: »Was soll in einem leeren Studio zu so später Stunde schon groß zu sehen sein?«
»Alles mögliche!«
»Richtig!« J. C. drehte den Kopf von Süden nach Norden und von Norden nach Süden. »Alles mögliche!«
»In der Nacht von Halloween«, bohrte ich weiter und bezeichnete mit dem Kinn jene Stelle, ungefähr fünfzig Meter weiter nördlich, »hast du da nicht drüben auf der Mauer zufällig eine Leiter gesehen? Und einen Mann, der dort hinaufklettern wollte?«
J. C. starrte zur Mauer hinüber. »In dieser Nacht regnete es.« J. C. reckte das Gesicht gen Himmel, um den Sturm zu spüren. »Wer ist so bescheuert, daß er bei Sturm da hinaufklettern würde?«
»Du.«
»Nein«, sagte J. C. »Noch nicht einmal jetzt bin ich hier oben!«
Er streckte seine Arme aus, umfaßte den Querbalken, ließ den Kopf nach vorne sinken und schloß die Augen.
»J. C!« rief ich. »Die warten unten auf dich.«
»Die sollen ruhig warten.«
»Jesus Christus kam rechtzeitig, verdammt nochmal! Die Welt wartete auf ihn. Und Er erschien!«
»Du glaubst doch nicht etwa an diesen Quatsch?«
»Doch!« Ich wunderte mich selbst, mit welcher Vehemenz ich ihm meine Antwort entgegenschleuderte, die ausgestreckten Glieder entlang bis zu seinem dornengekrönten Haupt hinauf.
»Narr.«
»Nein, bin ich nicht.« Ich überlegte, was Fritz wohl gesagt hätte, wenn er hier wäre, doch hier war nur ich, und so sagte ich: » Wir sind auf die Erde gekommen, J. C. Wir dumme Menschenwesen. Doch egal, ob wir oder Christus. Die Erde, oder Gott, brauchte uns, um die Welt zu sehen, sie zu erkennen. Also war es an uns! Doch wir fuhren den Karren in den Dreck, vergaßen, wie einmalig wir waren, und konnten uns nicht verzeihen, so ein Durcheinander angerichtet zu haben. Daher kam der Heiland nach uns, um uns zu predigen, was wir hätten wissen müssen: Vergebung. Tut Eure Arbeit. Die Ankunft des Erlösers sühnte unsere Schuld. Zweitausend Jahre lang haben wir nun die Erde bevölkert, mehr und immer mehr von uns, um Vergebung heischend. Ich wäre für alle Zeiten gelähmt, könnte ich mir die dummen Sachen, die ich in meinem Leben verzapft habe, nie verzeihen. Und du bist jetzt in die Ecke getrieben, haßt dich selbst, und deshalb bleibst du dort oben ans Kreuz genagelt, weil du ein vor Selbstmitleid zerfließender, schweinsköpfiger, beschränkter Schmierentragöde bist. Komm jetzt verdammt noch mal herunter, sonst klettere ich hoch und beiße dir in deine dreckigen Hacken!«
Ein Geräusch ertönte, als bellte eine Meute Seehunde in der Nacht. J. C. hatte seinen Kopf in den Nacken geworfen und schnappte nach Luft, um sein Gelächter erneut zu entfachen.
»Eine schöne Rede für einen Feigling!«
»Vor mir müssen Sie sich nicht fürchten, Mister! Hüten Sie sich vor sich selbst, Herr Christus!«
Ich spürte einen einzelnen Regentropfen auf meiner Wange.
Nein. Ich berührte meine Wange, leckte an der Fingerspitze. Salz. Hoch oben lehnte sich J. C. weit nach vorne und starrte hinunter.
»Mein Gott.« Er war gerührt. »Du machst dir wirklich Sorgen um mich!«
»Ganz richtig. Und wenn ich weggehe, kommt Fritz Wong mit seiner Pferdepeitsche!«
»Ich fürchte mich nicht vor seinem Erscheinen. Nur vor deinem Weggehen.«
»Na schön, dann komm runter. Tu’s für mich!«
»Für dich?!«
»Du bist schön weit oben. Was siehst du drüben in Atelier 7?«
»Sieht aus wie Feuer. Ja, Feuer.«
»Das ist der Rost mit den Holzkohlen, J. C.« Ich streckte die Hand aus und berührte das Holzkreuz; leise rief ich zu der Gestalt mit dem erhobenen Kopf hinauf: »Und die Nacht ist beinahe vorüber, das Boot nähert sich dem Ufer, nach dem Wunder mit den Fischen, und Simon genannt Petrus geht mit Thomas und Markus und Lukas am Ufer entlang zu dem vorbereiteten Kohlenfeuer mit den gebratenen Fischen. Das –«
»– Abendmahl nach dem Letzten Abendmahl«, murmelte J. C., der sich gegen den herbstlichen Sternenhimmel abhob. Ich konnte über seiner Schulter die Schulter des Orion sehen. »Du hast es tatsächlich geschafft!?«
Er bewegte sich. Leise redete ich weiter: »Und noch mehr! Ich habe jetzt ein wahrhaftiges Ende für dich, eins, das noch nie zuvor gefilmt wurde. Die Himmelfahrt.«
»Das ist unmöglich«, murmelte J. C.
»Hör zu.«
»Als die Zeit des Abschieds herannahte«, begann ich, »berührt Christus jeden einzelnen seiner Jünger und steigt dann das Ufer hinauf, von der Kamera weg. Die Kamera muß auf der Höhe des Sandes liegen, und es sieht aus, als würde er einen sanften Hügel hinaufschreiten. Dann geht die Sonne auf und Christus läuft weiter, in den Horizont hinein, der Sand flimmert, so wie die Luft manchmal auf Landstraßen und in der Wüste unwirkliche Dinge vorgaukelt, imaginäre Städte entstehen und wieder verschwinden läßt. Wenn Christus nun fast den Kamm der Sanddüne erreicht hat, zittert die Luft vor Hitze. Seine flimmernde Gestalt löst sich in ihre Atome auf. Und Jesus Christus ist von uns gegangen. Die Fußspuren, die er im Sand zurückgelassen hat, werden vom Winde verweht. Das ist deine zweite Himmelfahrt, im Anschluß an das Abendmahl nach dem Letzten Abendmahl. Die Jünger weinen und klagen und ziehen dann hinaus in alle Städte der Welt, um dort die Vergebung der Sünden zu predigen. Und wenn der neue Tag erwacht, verwehen auch ihre Fußspuren im Sand, THE END.«
Ich wartete und lauschte meinem Atem und meinem Herzschlag.
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