Wenn er aufblickte und mich nicht mehr als fünf Meter von der Spanischen Wand entfernt sah: Katastrophe! Mein Trinkgeld? Ein einziges, silbernes Zehncentstück! Beim nächsten Mal stand ich natürlich zehn Meter weit weg. Trinkgeld? Zweihundert Dollar. Ach ja, trinken wir auf den Traurigen.«
Ein jäher Windstoß rüttelte an den Eingangstüren des Restaurants. Wir erschauerten. Die Türen klafften weit auf, schwangen zurück, beruhigten sich.
Ricardos Rückgrat versteifte sich. Er sah abwechselnd zu mir und der Tür hinüber, als sei ich allein verantwortlich für die Menschenleere und den Nachtwind.
»Verdammt, o je verdammt nochmal«, sagte er leise. »Er ist so ziemlich am Ende.«
»Das Monster?«
Ricardo starrte mich an. » So nennen Sie ihn? Also …«
Constance bezeichnete mit einem Nicken mein Glas. Ricardo zuckte die Achseln und goß mir ungefähr zwei Zentimeter hoch ein. »Wieso ist er so wichtig, daß Sie wegen ihm hier hereinplatzen und mein Leben ruinieren? Bis vor einer Woche war ich ein reicher Mann.«
Constance griff sofort zu ihrer Brieftasche, die sie auf dem Schoß liegen hatte. Wie eine Maus kroch ihre Hand über den Stuhl zu ihrer Rechten und legte dort etwas ab. Ricardo bemerkte es sofort und schüttelte den Kopf.
»Aber nein, nicht von Ihnen, Constance. Ja, er machte mich reich. Doch es gab eine Zeit, vor vielen Jahren, da machten Sie mich zum glücklichsten Mann auf der Welt.«
Constances Hand tätschelte die seine und ihre Augen funkelten. Lopez stand auf und verschwand ungefähr zwei Minuten in der Küche. Wir tranken unseren Wein und warteten, beobachteten die Eingangstür, die der Wind aufriß und die immer wieder mit einem Flüstern zufiel, die Nacht aussperrend. Als Lopez zurückkam, blickte er sich um, bevor er sich setzte, auf die leeren Tische und Stühle, als könnten sie ihn seiner Manieren wegen tadeln. Vorsichtig legte er uns eine kleinformatige Fotografie hin. Während wir sie betrachteten, trank er seinen Wein aus.
»Das Bild wurde letztes Jahr mit einer Polaroidkamera gemacht. Einer von unseren dummen Küchenhilfen wollte seine Freunde erschrecken, eh? Zwei Bilder in drei Sekunden. Sie fielen auf den Boden. Das Monster, wie Sie ihn nennen, zerstörte die Kamera, zerriß ein Bild, da er dachte, es sei das einzige, und ohrfeigte unseren Aushilfskellner, den ich sofort entließ. Wir sagten, sein Essen gehe auf Rechnung des Hauses, und boten ihm die letzte Flasche unseres besten Weines an. So kam alles wieder ins Lot. Später fand ich das zweite Foto unter dem Tisch, wo es wohl hingerutscht war, als der Mann außer sich vor Wut um sich geschlagen hatte. Ein wahres Elend, finden Sie nicht?«
Constance war in Tränen aufgelöst.
»Sieht er wirklich so aus?«
»O Gott«, sagte ich. »Ja.«
Ricardo nickte: »Ich wollte immer wieder sagen: Sir, warum leben Sie eigentlich? Haben Sie Alpträume, in denen Sie gut aussehen? Wer ist Ihre Frau? Wie bestreiten Sie Ihren Lebensunterhalt? Ist das überhaupt ein Leben? Ich habe ihn niemals danach gefragt. Ich starrte immer nur auf seine Hände, reichte ihm Brot, goß Wein nach. Doch manchmal zwang er mich dazu, ihm ins Gesicht zu sehen. Beim Trinkgeld wartete er, bis ich meinen Blick aufrichtete. Dann lachte er sein Lachen, wie ein Schnitt mit dem Rasiermesser. Haben Sie schon einmal einen Kampf gesehen, wenn ein Mann einen anderen aufschlitzt, und das Fleisch öffnet sich wie ein roter Mund? Sein Mund, das arme Monster, er dankte mir für den Wein und gab mir so hohe Trinkgelder, damit ich in seine Augen sah, die in diesem Schlachthaus gefangen waren und sich danach sehnten, frei zu sein, und die dabei in Verzweiflung ertranken.«
Ricardo blinzelte einige Male und stopfte das Foto in seine Tasche.
Constance starrte auf die Stelle des Tischtuchs, wo das Foto eben noch gelegen hatte. »Ich bin hierhergekommen, um herauszufinden, ob ich den Mann kenne. Gott sei Dank ist das nicht der Fall. Aber seine Stimme? Vielleicht an einem anderen Abend …?«
Ricardo schnaubte. »Nein, nein. Das ist ein für allemal vorbei. Dieser verrückte Fan in jener Nacht. Der einzige Zwischenfall in all den Jahren. Normalerweise ist die Straße zu dieser späten Stunde völlig leer. Von nun an, da bin ich sicher, wird er nicht mehr wiederkommen. Und ich muß mich nach einem kleineren Apartment umsehen. Entschuldigen Sie meinen Egoismus. Es ist nicht einfach, Trinkgelder von zweihundert Dollar in den Wind zu schreiben.«
Constance putzte sich die Nase, stand auf, packte Lopez’ Hand und drückte etwas hinein. »Wehr dich nicht!« sagte sie. »1928 war ein fantastisches Jahr. Es ist an der Zeit, daß ich meinen herrlichen Gigolo bezahle. So nimm’s doch!« Er versuchte, ihr das Geld zurückzugeben. »Du Schurke!«
Ricardo schüttelte den Kopf und legte ihre Hand an seine Wange.
»La Jolla, das Meer und das gute Wetter.«
»Wellenreiten jeden Tag!«
Ricardo küßte jeden einzelnen ihrer Finger.
»Richtig gut schmeckt es erst vom Ellbogen an aufwärts«, sagte Constance.
Ricardo stieß ein kehliges Lachen aus. Constance boxte ihn spielerisch und rannte davon. Ich wartete, bis sie zur Tür hinaus war.
Dann drehte ich mich um und sah in die Nische mit der kleinen Lampe hinüber, dem Pult und dem Aktenschrank.
Lopez merkte, wohin ich schaute, und drehte sich ebenfalls um.
Doch Clarences Mappe war weg, irgendwo in der Nacht draußen hatten die falschen Leute sie.
Wer wird Clarence nun beschützen, fragte ich mich. Wer wird ihn vor der Dunkelheit bewahren und ihn bis zum Morgen am Leben erhalten?
Etwa ich? Der kleine Simpel, den sogar seine Cousine beim Armdrücken besiegt hatte?
Crumley? Durfte ich es wagen, ihn darum zu bitten, die ganze Nacht vor Clarences Reihenbungalow auszuharren? Sollte ich mich vor seine Tür stellen und rufen: »Du bist verloren! Lauf!«
Ich rief Crumley nicht an. Ich stellte mich nicht vor Clarence Sopwiths Tür. Ich nickte Ricardo Lopez zum Abschied zu und ging in die Nacht hinaus. Draußen stand Constance und weinte. »Nichts wie weg von hier«, sagte sie.
Sie wischte sich die Augen mit einem seidenen Taschentuch, das hier fehl am Platze war. »Dieser blöde Ricardo. Ich fühle mich richtig alt. Und dann dieses verdammte Foto von dem armen, hilflosen Mann.«
»Ja, das Gesicht«, sagte ich und fügte hinzu: »… Sopwith.« Denn Constance stand genau an der Stelle, an der einige Nächte zuvor Clarence Sopwith gestanden hatte.
»Sopwith?« fragte sie.
39
Constance schrie gegen den Fahrtwind an: »Das Leben ist wie Unterwäsche. Man sollte es zweimal am Tag wechseln. Zum Teufel mit dieser Nacht, ich will sie vergessen.«
Sie schüttelte die Tränen aus den Augen und drehte sich zur Seite, um zuzuschauen, wie sie davonflogen.
»Ich vergesse sie, und fertig. Sie ist aus meinem Gedächtnis gestrichen. Siehst du, es ist ganz einfach?«
»Nein.«
»Erinnerst du dich noch an die Mamacitas im obersten Stock des Wohnblocks, wo du vor einigen Jahren gelebt hast? Wie sie nach jedem samstäglichen Riesengelage ihre neuen Kleider vom Dach herunterwarfen, nur um allen zu zeigen, wie reich sie sind, daß es ihnen nichts ausmacht, sich am nächsten Morgen neue zu kaufen. Was für eine großartige Lüge. Runter mit den Kleidern, weg damit, und dann standen sie mit ihren fetten oder dürren Ärschen um drei Uhr in der Früh auf dem Dach und schauten sich den Garten voll Kleider an. Wie Seidenblütenblätter, die der Wind in die verwaisten Hinterhöfe und Gassen wehte. Erinnerst du dich daran?«
»Aber ja!«
»So geht’s mir. Der heutige Abend, das Brown Derby, der bedauernswerte Kerl mitsamt meinen Tränen: ich schmeiße es einfach weg.«
»Die Nacht ist noch nicht vorüber. Und dieses Gesicht kannst du nicht vergessen. Hast du das Monster erkannt oder nicht?«
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