Bis Fritz Wong mit meinen letzten Worten endete.
Nicht der geringste Laut ertönte in den Reihen der Menschenmenge, der Phalanx, und inmitten der Stille schritt Fritz schließlich durch die Versammlung, bis er neben mir stand. Ich war inzwischen vom Überschwang der Gefühle halb blind geworden.
Fritz schaute einen Moment lang Constance verwundert an, nickte ihr schroff zu und stellte sich dann vor mich hin. Er nahm das Monokel vom Auge, packte meine rechte Hand und legte die Linse wie eine Auszeichnung, eine Medaille auf meine Handfläche. Dann schloß er meine Finger darüber.
»Nach dem heutigen Abend«, sagte er leise, »wirst du für mich sehen.«
Es war Auftrag, Befehl und Segensspruch in einem.
Dann schritt er davon. Das Monokel in der zitternden Faust sah ich ihm nach. Als er im Zentrum der schweigenden Menschenmenge angelangt war, schnappte er sich das Megaphon und brüllte: »Los, bewegt euch!«
Er würdigte mich keines Blickes mehr.
Constance nahm mich am Arm und führte mich weg.
38
Auf dem Weg zum Brown Derby ließ Constance, die sehr langsam fuhr, den Blick über die im Licht der Dämmerung vor uns liegenden Straßen schweifen und sagte: »Mein Gott, du glaubst an all das, stimmt doch, oder? Warum eigentlich?«
»Ganz einfach«, sagte ich. »Weil ich niemals etwas mache, das ich verabscheue oder an das ich nicht glaube. Wenn mir jemand einen Film über, sagen wir mal, Prostitution oder Alkoholismus anbieten würde, könnte ich kein Wort dazu schreiben. Ich würde nie eine Prostituierte aufsuchen, und in Besoffene kann ich mich nicht einfühlen. Ich mache nur das, was ich mag. Im Augenblick sind das, Gott sei Dank, Jesus in Galiläa bei seinem Abschied im Morgengrauen und seine Fußspuren im Sand. Ich bin kein hundertprozentiger Christ, aber als ich diese Szene bei Johannes fand, besser gesagt, als sie J. C. für mich fand, war es um mich geschehen. Wie hätte ich sie nicht schreiben können?«
»Genau.« Constance starrte mich an, so daß ich mich wegducken und auf die Straße zeigen mußte, um sie daran zu erinnern, daß sie immer noch am Steuer eines fahrenden Wagens saß.
»Glaub mir, Constance, ich bin nicht hinter dem Geld her. Wenn mir jemand Krieg und Frieden anbieten würde, ich würde es ablehnen. Ist Tolstoi schlecht? Nein. Ich verstehe ihn einfach nicht. Ich bin der bedauernswerte Tropf. Aber wenigstens weiß ich, daß ich das Drehbuch nicht schreiben könnte, weil ich nicht mit Haut und Haaren bei der Sache wäre. Mich zu engagieren wäre herausgeworfenes Geld. Ende der Vorlesung. Und hier«, sagte ich, als wir gerade daran vorbeisegelten und wieder umdrehen mußten, »ist das Brown Derby!«
Es war nicht gerade viel los. Das Brown Derby war beinahe leer, und im hinteren Teil des Lokals war keine spanische Wand aufgestellt.
»Verdammt«, murmelte ich.
Zu unserer Linken hatte ich eine Nische entdeckt. Dort war das Telefon, wo die Reservierungen entgegengenommen wurden. Über einem Pult, auf dem noch vor wenigen Stunden Clarence Sopwiths Album gelegen haben mußte, brannte eine kleine Leselampe. Dort hatte es gelegen und auf jemanden gewartet, der es stehlen, die Adresse von Clarence herausfinden würde und dann …
Großer Gott, dachte ich, nein !
»Komm, Kleiner«, sagte Constance, »bestellen wir uns einen Drink.«
Der Oberkellner präsentierte gerade seinen letzten Gästen die Rechnung. Er nahm uns aus dem Augenwinkel wahr und drehte sich um. Als er Constance erblickte, strahlte er über das ganze Gesicht. Doch kaum hatte er mich bemerkt, gingen die Lichter wieder aus. Ich war ein schlechtes Omen. Schließlich war ich in jener Nacht vor dem Restaurant gewesen, in der das Monster von Clarence angesprochen worden war.
Ein erneutes Lächeln und der Oberkellner stürzte auf Constanze zu, mich links liegen lassend; wie ein Verhungernder küßte er jeden einzelnen ihrer Finger. Constance warf den Kopf zurück und lachte.
»Das hat keinen Zweck, Ricardo. Meine Ringe sind verkauft, schon seit Jahren!«
»Sie erinnern sich an mich?« fragte er verwundert.
»Ricardo Lopez, auch bekannt unter dem Namen Sam Kahn?«
» Wer war dann Constance Rattigan?«
»Ich habe meine Geburtsurkunde zusammen mit meinen Unterhosen verbrannt.« Constance zeigte auf mich. »Das hier ist –«
»Ich weiß, ich weiß«, wehrte Lopez ab.
Constance lachte wieder, denn er hielt noch immer ihre Hand. »Ricardo war damals Bademeister am Pool von MGM. Jeden Tag gingen dort Dutzende von Mädchen unter, um sich von ihm wiederbeleben zu lassen. Ricardo, führe uns an einen Tisch.«
Er wies uns einen Platz zu. Ich konnte meinen Blick nicht von der hinteren Wand des Restaurants abwenden. Lopez entging dies nicht und er drehte den Korkenzieher mit einem bösartigen Ruck in die Flasche.
»Ich war nur Zuschauer«, sagte ich ruhig.
»Ja, gewiß«, murmelte er, während er Constance kosten ließ. »Es war dieser dumme andere Kerl.«
Constance nippte am Glas. »Der Wein ist wunderbar – wie du.« Ricardo Lopez schmolz dahin – und lachte.
»Und wer war dieser dumme andere Kerl?« hakte Constance, die Chance witternd, nach.
»Ach nichts.« Lopez versuchte, seine gewohnte Verdrießlichkeit wiederzuerlangen. »Geschrei und beinahe eine Schlägerei. Mein bester Kunde und ein dahergelaufener Bettler.«
Oje, dachte ich. Armer Clarence. Dein ganzes Leben hast du dich nach Ruhm und Rampenlicht gesehnt.
»Dein bester Kunde, mein liebster Ricardo?« bohrte Constance augenzwinkernd weiter.
Ricardo sah gedankenverloren zur hinteren Wand hinüber, an der zusammengeklappt die Sichtblende lehnte.
»Ich bin am Boden zerstört, auch wenn die Tränen nicht so schnell fließen. Wir sind all die Jahre über immer so vorsichtig gewesen. Er kam stets sehr spät. Er wartete in der Küche, bis ich ausgekundschaftet hatte, ob sich jemand hier aufhielt, den er kannte. Keine einfache Aufgabe, wenn Sie mich recht verstehen. Schließlich weiß ich nicht, wen er alles kennt, und wen nicht, eh? Und nun, wegen einem einzigen dummen Mißgeschick, wegen dem erstbesten dahergelaufenen Idioten, habe ich meinen besten Kunden verloren. Er sucht sich ein anderes, noch länger geöffnetes, noch weniger frequentiertes Restaurant.«
»Dieser beste Kunde …«, Constance schob ihm ein Weinglas hin und bedeutete ihm, er solle sich eingießen, »hat er einen Namen?«
»Nein.« Ricardo goß sich ein. Mein Glas ließ er nach wie vor leer. »Ich habe nie danach gefragt. Er kam während vieler Jahre, mindestens einen Abend pro Monat, bezahlte immer bar für das beste Essen, die erlesensten Weine. Und doch haben wir in all diesen Jahren nicht mehr als drei Dutzend Worte pro Abend gewechselt. Er studierte schweigend die Karte, zeigte auf das, was er wollte, alles hinter der Blende. Dann unterhielt er sich mit seiner Tischdame, sie tranken und lachten. Das heißt, sofern er eine Dame dabeihatte. Eigenartige Damen. Einsame Damen …«
»Blind«, sagte ich.
Lopez durchbohrte mich mit seinem Blick.
»Möglich. Oder schlimmer.«
»Was könnte noch schlimmer sein?«
Lopez betrachtete sein Weinglas und den leeren Stuhl an unserem Tisch.
»Setz dich doch«, sagte Constance.
Lopez schaute sich nervös im leeren Lokal um. Dann ließ er sich vorsichtig nieder, nahm langsam einen Schluck Wein zu sich und nickte.
»Leidend, das trifft es eher«, sagte er. »Seine Frauen. Eigenartig. Traurig. Verwundet? Ja, verwundete Menschen, die nicht lachen können. Er brachte sie dazu. Als müsse er, um über sein eigenes, entsetzlich einsames Leben hinwegzukommen, andere ermuntern und ihnen eine ganz besondere Freude bereiten. Er bewies ihnen, daß das Leben ein Witz ist! Stellen Sie sich vor! So etwas zu beweisen! Und dann gingen das Gelächter und er hinaus in die Nacht, zusammen mit der Frau ohne Augen oder ohne Mund oder ohne Verstand – überzeugt, sie hätten Freude erfahren – und stiegen in ein Taxi, in Limousinen, immer von einer anderen Leihwagenfirma, immer alles in bar bezahlt, keine Kreditkarten, keine Anhaltspunkte, und so fuhren sie davon in das große Schweigen. Ich habe nie etwas von ihrer Unterhaltung verstanden.
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