J. C. wirbelte herum: »Ich wage es nicht, Sir. Ich bin es.«
Mit einem durchaus eleganten Anflug von Würde richtete er sich auf und fiel die Stufen hinunter.
Der Reverend stöhnte auf, als drängten ihn dunkle Mordgedanken, die Fäuste zu gebrauchen.
Ich half J. C. auf die Beine und führte ihn, die Flasche hin und her schwenkend, sicher zwischen den Stuhlreihen hindurch und zur Kirche hinaus.
Das Taxi wartete noch. Bevor er einstieg, drehte sich J. C. noch einmal zu dem Reverend um, der mit vor Haß glühendem Gesicht auf der Schwelle stand.
J. C. reckte seine beiden blutroten Pfoten empor.
»Ein heiliger Ort der Zuflucht! Ha ha? Eine heilige Zufluchtstätte? «
Der Reverend brüllte zurück: »Nicht einmal die Hölle, Sir, würde Sie aufnehmen!«
Rumms!
Ich stellte mir vor, wie im Inneren des Tempels tausend Engelsschwingen losgerissen wurden und durch die jetzt entheiligte Luft herabtrudelten.
J. C. stolperte in das Taxi, schnappte sich den Wein und beugte sich zum Fahrer nach vorn: »Gethsemane!«
Wir brausten los. Der Fahrer warf einen kurzen Blick auf seinen Stadtplan.
»Gethsemane«, murmelte er. »Ist das ’ne Straße? Oder ’ne Allee? Oder ’n Platz?«
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»Nicht mal das Kreuz ist mehr sicher, nicht mal das Kreuz ist jetzt mehr sicher«, murmelte J. C., während wir die Stadt durchquerten. Sein Blick wollte sich nicht von seinen wunden Handgelenken lösen, als könne er nicht glauben, daß sie tatsächlich mit seinen Armen verbunden waren. »Was ist nur aus der Welt geworden?« J. C. schielte aus den Taxifenstern auf die vorbeifliegenden Häuser.
»War Christus manisch-depressiv? So wie ich?«
»Nein«, sagte ich müde, »er hat keine Schraube locker. Aber du liegst voll drin im Werkzeugkasten, zusammen mit den Nägeln und den Schraubenziehern. Was hat dich dort nur hingetrieben?«
»Ich wurde gejagt. Die sind hinter mir her. Ich bin das Licht der Welt.« Den letzten Satz sprach er mit bitterer Ironie. »Jesus, ich wäre froh, ich wüßte nicht soviel.«
»Erzähle. Raus mit der Sprache.«
»Dann würden sie dich auch hetzen. So wie Clarence«, murmelte er. »Auch er ist nicht schnell genug davongelaufen.«
»Ich habe Clarence auch gekannt«, sagte ich. »Vor vielen Jahren …«
J. C. geriet noch mehr in Panik. »Sag das bloß niemandem weiter! Von mir erfahren sie es nicht!«
J. C. trank in einem Zug die halbe Flasche aus, blinzelte kurz und sagte: »Ich schweige wie ein Grab.«
»Hör auf damit, J. C! Du mußt es mir sagen, im Falle daß –«
»– ich die heutige Nacht nicht überlebe? Ich werde sie nicht überleben! Aber ich will nicht, daß wir beide sterben müssen. Du bist ein netter Wirrkopf. Lasset die Kindlein zu mir kommen, und, bei Gott, schon tauchst du auf!«
Er trank und wischte sich das Lächeln vom Gesicht.
Unterwegs hielten wir einmal an. J. C. wollte unbedingt aus dem Wagen und Gin kaufen. Ich drohte ihm mit Prügeln und ging dann selbst einen kaufen.
Das Taxi segelte ins Studio und bremste vor dem Haus meiner Großeltern ab.
»Meine Güte«, sagte J. C., »das sieht ja aus wie die Baptistenkirche der Neger auf der Central Avenue! Da kann ich nicht rein! Ich bin weder Baptist noch Schwarzer. Ich bin nur Christus – und Jude! Sag ihm, wo er hinfahren soll!«
Kurz vor Sonnenuntergang hielt das Taxi vor dem Kalvarienberg. J. C. schaute zu seiner altvertrauten Hühnerstange hinauf. »Ist dies das wirkliche Kreuz?« Er zuckte die Achseln. »So wirklich wie ich der wirkliche Jesus bin.«
Ich starrte das Kreuz an. »Du kannst dich dort nicht verstecken, J. C. Mittlerweile wissen alle, wo du hingehst. Wir müssen ein sicheres Versteck für dich finden, wo du dich aufhalten kannst, falls es noch einige Nachdrehs gibt.«
»Du kapierst einfach nicht«, sagte J. C. »Der Himmel ist dicht, genau wie die Hölle. Die würden mich in einem Rattenloch finden und im Hintern eines Flußpferdes. Golgatha, plus Wein, das ist der richtige Ort. So, würdest du bitte den Fuß von meiner Toga nehmen?«
Er spülte mit etwas Wein nach und machte sich dann auf den Weg, den Berg hinauf.
»Gott sei Dank sind alle wesentlichen Szenen bereits abgedreht«, sagte er. »Es ist vollbracht, mein Sohn.« J. C. nahm meine Hände in die seinen. Jetzt, nachdem er Höhen und Tiefen durchlaufen und sich irgendwo in der Mitte eingependelt hatte, war er überaus ruhig. »Ich hätte nicht weglaufen sollen. Und du solltest hier nicht mit mir reden, man könnte dich sehen. Die bringen noch ein paar Hämmer und Nägel mehr mit, dann kannst du den zweiten Dieb zur Linken spielen. Oder Judas. Die bringen einen Strick mit, und schon bist du Ischariot.«
Er drehte sich um, legte die Hände um das Kreuz und setzte einen Fuß auf die Kerbe, die an einer Seite angebracht war, damit man hinaufklettern konnte.
»Eine letzte Sache noch«, sagte ich. »Kennst du das Monster wirklich?«
»Ich war in der Nacht dabei, als es geboren wurde!«
»Geboren?«
»Ja, geboren, verdammt nochmal, was denn sonst?«
»Red schon, J. C, ich muß es wissen!«
»Damit du deswegen stirbst, du Anfänger? Warum willst du sterben? Jesus, der Erlöser, was? Aber wenn ich Jesus und verloren bin, dann bist auch du verloren! Denke nur an Clarence, den armen Hund. Die Typen, die ihn umgelegt haben, haben furchtbare Angst. Und wenn sie Angst haben, drehen sie durch, und wenn sie durchdrehen, hassen sie blind. Weißt du überhaupt, was blinder Haß ist, Junior? Darum geht es nämlich, das ist keine Amateurvorstellung, hier gibt’s keinen Applaus für gutes Benehmen. Jemand sagt ›umlegen‹, und dann wird umgelegt. Und du läufst durch die Gegend und denkst, alle Leute sind nett zu dir. Mensch, du würdest eine Nutte noch nicht mal erkennen, wenn sie dich anmacht, und einen Killer erst, wenn er dir sein Messer zwischen die Rippen rammt. Du würdest sterben und dabei würdest du sagen: ah, so ist das, aber dann ist es zu spät. Also höre auf den guten alten Jesus, Dummkopf.«
»Ein willkommener Dummkopf, ein nützlicher Idiot. Genau das sagte Lenin.«
»Lenin!? Da siehst du’s! Ich rufe: Dort sind die Niagarafälle, sieh dich vor, und du springst ohne Fallschirm von der Klippe. Lenin? Bah! Wo geht’s hier in die Klapsmühle?«
J. C. zitterte, als er die Flasche leerte.
»Nützlicher«, er schluckte, »Idiot.«
»Hör mir zu«, sagte er, und es war ihm ernst. »Ich sage es nur einmal. Wenn du bei mir bleibst, wirst du zerquetscht. Wenn du wüßtest, was ich weiß, dann würden sie dich dort hinter der Mauer in zehn verschiedenen Gräbern beerdigen; schön kleingeschnitten, pro Grab ein Stückchen. Wenn deine Mama und dein Papa noch lebten, würden sie auch die verbrennen. Und deine Frau –«
Meine Hände krallten sich in meine Ellbogen. J. C. hielt inne.
»Entschuldige. Aber du bist verwundbar. Um Gottes willen, ich bin immer noch nüchtern. Wann kommt deine Frau zurück?«
»Bald.«
»Es ist vollbracht. Denk an das Buch Hiob. Sie hören nicht auf, ehe sie alle getötet haben. Diese Woche lief alles aus dem Ruder. Die Leiche, die du auf der Mauer gesehen hast – die wurde da aufgestellt, um –«
»Um das Studio zu erpressen?« zitierte ich Crumley. »Haben die immer noch Angst vor Arbuthnot, nach all den Jahren?«
»Die scheißen sich vor Angst in die Hosen! Manchmal haben die Toten in ihren Gräbern mehr Macht als die Lebenden. Sieh dir Napoleon an. Schon hundertfünfzig Jahre tot, und immer noch lebt er in zweihundert Büchern! Straßen und Babies werden nach ihm benannt. Alles verloren, im Scheitern gewonnen! Hitler? Der wird noch zehntausend Jahre herumspuken. Mussolini? Der hängt noch bis zum Ende unseres Lebens mit dem Kopf nach unten in dieser Tankstelle! Selbst Jesus.« Er betrachtete seine Wundmale. »Ich war nicht übel, aber jetzt muß ich abermals sterben. Der Blitz soll mich treffen, wenn ich einen unschuldigen Knaben wie dich mitnehme. Und jetzt kein Wort mehr. Hast du noch eine Flasche?«
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