Sie schütteln einander die Hände, über den Scanner hinweg, sodass es sich wie eine Grenzverletzung anfühlt. Dann verabschiedet Anton sich mit einem «Wir sehen uns» und tänzelt aus dem Laden.
Denise sieht ihm hinterher. Ein Verrückter also, mehr nicht. Ein Anton, kein Stanley. Ein verrückter Anton in Feierlaune, mit einem Euro weniger in der Geldbörse. Bald wahrscheinlich wieder verschwunden aus dieser Gegend mit den halbbürgerlichen Häusern, wie so viele, die im Obdachlosenheim Station machen. Denn dass er daher kommt, ist ihr jetzt klar. So einer wohnt hier nicht freiwillig. So einer strandet nur und wird dann von der Flut oder Ebbe der Ereignisse wieder weggeschwemmt oder ausgetrocknet. Arme, hübsche Sau.
*
Die Pizza war gut, der Saft war gut, die Pralinen waren auch gut. Nur, mit dem Essen geht es Anton wie mit dem Sex: Erst ist es dringlich und nötig, doch ist der Hunger gestillt, fragt er sich: Musste das jetzt wirklich sein?
Jetzt liegt er beschwert auf dem Bett, das sich fremd anfühlt, und hört zu, wie Harald Schmidt auf YouTube die Formen und Funktionalitäten bestimmter Türklinken diskutiert. Draußen auf dem Gang zetert der Gnom namens Hansi, und keiner weiß, warum. Hansi ist kaum eins dreißig groß und auch sonst völlig verwachsen, sein Gesicht wie mit dem Hohlspiegel verzogen, die eine Schulter hängt zwei Etagen tiefer als die andere, dahinter wölbt sich ein echter Buckel hervor. Er sieht zerbeult aus, als habe ihn früh ein Hammer zusammengestaucht, und tatsächlich wurde er als Kind vom Vater brutal misshandelt, wie er einmal in einem ruhigeren Augenblick andeutend erzählte. Aber er verhält sich leider auch völlig unausstehlich, stößt mit spitzer Stimme «Scheiße! Scheiße!» aus, wo er auch geht und steht, und Anton bewundert immer wieder Sonjas Langmut, die sich selten aus der Fassung bringen lässt, auch wenn sie es hier offensichtlich mit einem schrecklichen Infant von dreißig Jahren zu tun hat. Dann wird es still, das YouTube-Video ist durch, und Hansi macht einen anderen Gang im Heim unsicher. Anton döst und träumt, dosiert den Schlaf. Er ist dankbar um jede Minute in diesem Schwebezustand zwischen Wachsein und Wegsein. Alles ist abgerundet und weichgezeichnet, die Gedanken tanzen schon in den Traum hinein, aber Anton weiß noch, er ist da. Mit zusammengekniffenen Augen verfolgt er das nächste Video und versteht nur noch einzelne Fetzen, die ihn nichts mehr angehen. Dann schläft er ein, und bald werden die ersten Apnoen ihn heimsuchen.
Der Champagner ist noch kalt, die Flasche schwitzt prächtig, die Ikeagläser funkeln, blitzblank geputzt. In der Abendsonne strahlt der Supermarkt die Hitze des Tages ab, letzte Kunden scheppern mit ihren Einkaufswagen über den Parkplatz.
Anton sitzt auf einer Bank und wartet. Kann sein, kann nicht sein, dass Denise Lust hat, mit ihm anzustoßen. Einen Versuch ist es wert. Noch nie hat er eine Kassiererin gedatet. Dabei hing er in seiner Kindheit nur mit Arbeiterkindern ab, denn er war ja selbst eines. Aber das blendende Abitur und das angefangene Jurastudium haben ihn der eigenen Klasse entrissen und — ja, was? Auf eine andere soziale Ebene gehoben? Einem unaufhaltsamen Aufstieg zugeführt? Nein, im Ungefähren belassen, nirgendwo wirklich abgesetzt. Anton ist der Klassenlose, was natürlich nicht stimmt, aber er fühlte sich schon immer so, ein Bastard zwischen den Schichten, auf Adelsgesellschaften ebenso zuhause und verloren wie in der Arbeiterkneipe. Denise allerdings findet er angenehm und, ja, auch sexy. Das Katzige, Harte, Unnahbare an ihr reizt ihn. Er könnte sich ein paar schöne Stunden mit ihr vorstellen. Oder mehr. Nur das Piercing müsste er ignorieren.
Als sie aus dem Supermarkt kommt, neben einer Kollegin, sieht sie ihn gleich dort sitzen, verlangsamt kurz den Gang und blickt herüber. Anton winkt, so selbstverständlich, als seien sie verabredet. Sie tuschelt mit ihrer Kollegin, schüttelt lächelnd den Kopf. Dann winkt sie zurück, aber distanziert, wie in einer Parodie. Beide haben gefärbte Haare, blondiert und knallrot, und sie reden nun miteinander, stecken die Köpfe zusammen wie auf dem Schulhof, lachen. Dann stakt die Kollegin davon, und Denise steht da und scheint mit sich zu hadern, ob sie zu Anton herüberkommen soll. Demonstrativ stemmt sie die Hände in die Hüften: Bürschchen. Anton winkt noch einmal und hebt die Champagnerflasche in die Höhe. Schließlich geht sie auf ihn zu.
«Was soll denn das hier werden?», fragt sie schnippisch.
«Feierabend», grinst er zurück. «Im wörtlichen Sinne.»
«Was?»
«Ein Abend zum Feiern.»
«Nee. Nee, nee, nee», wehrt sie ab.
«Ein Gläschen vielleicht? Jetzt bin ich schon extra zurückgekommen.»
Sie mustert ihn. «Du, ich habe eine Tochter zuhause. Die will auch ihr Gläschen.»
«Hol sie doch her!», schlägt Anton vor und lässt ungefragt den Korken knallen. Denise kiekst auf. Der Schaum schießt aus der Flasche. Anton fängt ihn mit den Gläsern auf.
«Voilà.»
«Na gut», sagt Denise. «Ein Glas.»
Aus der Nähe, ohne Kasse zwischen ihm und ihr, sieht Denise noch künstlicher aus. Das Piercing funkelt in der Sonne. Die Poren sind mit Schminke übertüncht, der Teint ist matt. Keine einzige Pickelnarbe zu sehen, und doch hat sie sich zugespachtelt. Wofür? Ihre Augen sind lebendig und scharf.
Anton merkt, dass er schon lange nicht mehr neben einer Frau saß, nicht auf diese offene, zugeneigte Art und Weise, als zwei Körper, die einander interessieren könnten. Die aufkommende Nervosität will er sofort bekämpfen, indem er sie wegzulächeln versucht. Das fühlt sich falsch an, aber drauflosreden will er auch nicht. Hat er denn am Ende, nach allem anderen, auch das Flirten verlernt?
«Wie alt ist denn deine Tochter?», fragt er.
«Sechs.» Sie lauert.
«Ah, Einschulung, ein schönes Alter», räsoniert Anton.
«Nein, sie wird später eingeschult. Ein Jahr später.»
«Oh.» Nach dem Grund traut er sich nicht zu fragen.
«Ja, sie hinkt ein wenig hinterher in der Entwicklung.»
«Ach, das sagt man doch bei vielen. Hat man von mir auch gesagt, im Kindergarten. Und dann, in der Grundschule, sollte ich plötzlich eine Klasse überspringen. Durfte ich aber nicht, weil ich angeblich auch zu sensibel war. Das wächst sich alles aus.»
«Und jetzt sitzt du hier.»
Das war eigentlich als Frage gemeint, denkt Anton, und er weicht ihr offensichtlich aus, wenn er sich jetzt über das feine Wetter, die milde Sonne, das angenehme Viertel auslässt. Ja, jetzt sitzt er also hier, und es ist schön. Denise scheint nicht dumm zu sein, sie erkennt seine Worthülsen und wartet einfach ab, bis er sich leer oder vielmehr in eine Leere hineingeredet hat, die dann keine weiteren Ausflüchte mehr bietet. Lass ihn reden, denkt sie wohl, bis er wieder etwas zu sagen hat. Anton lenkt ein.
«Aber eigentlich gehöre ich nicht hierhin. Ich weiß schon.»
«Und wo gehörst du hin?»
«Das ist die Frage.» Anton schiebt sich eine Strähne aus dem Gesicht. «Das finde ich gerade heraus.»
«Du wohnst hinten im Obdachlosenheim.»
«Sieht man mir das an?»
«Nein, aber —»
«Man sieht es mir an, klar. Sonst würdest du es nicht fragen. Und ich weiß, dass man es mir ansieht, ich bin ja nicht blöd.»
«Ich dachte es mir einfach. Du passt hier nicht hin.»
«Ich passe nirgendwohin, jedenfalls nicht für lange.»
«Und wie geht es dir da?»
«Den Verhältnissen entsprechend. Etwas hinterher in der Entwicklung. Wie deine … ja, vielleicht wie deine Tochter? Ich meine, Entschuldigung, ich kenne sie nicht. Aber — Quatsch. Ich meine, vielleicht habe ich mir einfach selbst ins Bein geschossen und hinke jetzt so lange hinterher, bis alles verheilt ist.»
Denise betrachtet Anton ohne Argwohn. Irgendwie kommt er ihr vor wie ein ehemaliger Rapper, der vor einer Halfpipe, auf der kleine Skater ihre Tricks üben, über seinen Ausstieg aus dem Rapgeschäft schwadroniert, von der Sonne geblendet und dabei eitel zur Seite lugend, nicht ganz ehrlich im Versuch, die Fassade zu wahren. Wahrscheinlich hat sie etwas in der Art vor kurzem auf YouTube gesehen. Er hinkt also hinterher, denkt sie. Soso.
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