«Darf ich bitten», fragt Denisens Vater dann charmant, er war auf dem Klo und hat die Jukebox erneut traktiert, und Denise sagt ja, nach dem dritten Rum-Cola, und so tanzen sie zwischen den Barhockern und Kneipentischen kurz zu Falco. Irgendwo glitzert so etwas wie eine Discokugel oder eine Art Scheinwerfer mit verschiedenen Farben, die durcheinandergewirbelt werden. Die Musik trägt sie kurz davon, und sie kann sich tanzend an ihren Vater anlehnen, ohne dass es sich unangenehm anfühlt.
Drei Drinks später ist alles wie ein Spaß, der nie aufhören wird. Die Musik geht Denise gut in die Beine, der Kopf hat abgeschaltet. Sie weiß, es wird enden, aber es fühlt sich kurz so an, als ginge es immer weiter. Ihr Vater tanzt mit der Putzfrau, die geschmeichelt kichert, und drüben haben die Studenten oder Touristen oder Künstler oder Kunststudenten eine Pause beim Billard eingelegt, um sich zu unterhalten und weiterzutrinken. Expats heißen die, wenn sie aus Spanien oder den USA sind, denkt Denise und merkt, dass einer dieser Expats sie schon länger im Blick hat und mit seinem Freund über sie tuschelt. Sie streckt die Brust ein wenig raus und gibt sich die kühlste Fass-mich-nicht-an-Miene, die sie draufhat, den tödlichen Blick, den sie früher vor dem Spiegel geübt hat: rohe Abweisung, die für Interesse sorgt.
«Noch einen Rum-Cola, bitte», sagt sie.
«Den musst du aber selbst zahlen», sagt Malenka und nickt in die Richtung, wo gerade noch ihr Vater und die Putzfrau getanzt haben. «Sind abgezischt, mit schönen Grüßen», sagt Malenka, und Denise versteht nicht, wie schnell die Zeit vergehen kann, wie unaufmerksam sie schon ist, gerade war es noch zwei, jetzt ist es schon vier und tiefe Nacht, und ihr Vater ist weg.
Als Malenka ihr den Drink hinstellt, steht der Spanier oder Italiener neben Denise und sagt auf Englisch, dass der auf ihn gehe, wenn sie ihn richtig verstanden hat, und Denise sagt «who the fuck are you», und der Spanier oder Italiener sagt «Gonzo», was Denise auch nicht weiterbringt, aber immerhin sagt sie «hi, I’m Denise.»
Sie reden miteinander, aber eher körperlich als wirklich mit Worten, wobei Denise genau merkt, dass sie wohl nichts mehr als eine Wette ist, denn Gonzos Kompagnons verfolgen sein Gehabe und scheinen die Fortschritte zu kommentieren. Kurz tanzen sie miteinander, Denise und Gonzo, und er will sexy sein, windet sich mit dem Takt und macht ganz auf Latin Lover, aber Denise muss lachen und sagt «you are so wrong», greift sich den Drink, macht eine Abschiedsgeste zu Malenka und torkelt aus dem Laden.
Als sie den Hinterhof ihres Wohnhauses überquert, regt sich plötzlich ein unförmiger Schatten rechts von ihr, sie erschrickt fürchterlich und ruft «huch!» oder «hoppla!», wie ein ertapptes Kind, dem vor Schreck die Worte abhandenkommen.
«Keine Angst, nicht erschrecken», lallt der Schatten, und sie erkennt, dass es ihr Nachbar von unten ist, dessen Namen sie nicht kennt und dessen Wohnung sie nie kennen wollte. Er sitzt dort mit einer Flasche Whiskey-Cola oder Rum-Cola oder Korn-Cola und hält seine Privatparty ab.
«Ich sitze hier nur und feiere, keine Angst», sagt der Nachbar. Seine Brillengläser scheinen matt, die Augen sind nicht zu erkennen.
«Sie haben mich erschreckt», sagt Denise und versucht, ein versöhnliches Lachen hinzubekommen.
«Keine Absicht», brummt er freundlich. «Sie haben wohl auch gefeiert, was?»
«Ein wenig», erwidert Denise und merkt, wie wenig bedrohlich der Schatten eigentlich ist. Ihr Nachbar ist nur ein gelangweilter Arbeitsloser, der einen Wasserschaden zu melden hatte. Von ihm geht keinerlei Gefahr aus.
«Ist es jetzt weg, das Wasser?», fragt sie.
«Ja, es suppt nicht mehr nach.»
«Ich habe das gleich machen lassen.»
«Danke sehr.» Er prostet ihr mit der Colaflasche zu und nickt.
«Nicht dafür.»
Fast möchte sie sich zu ihm setzen, aber das wäre fehl am Platz.
«Dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht. Und bloß keine Träume.»
«Danke.»
Sie geht weiter, dreht sich noch einmal um. «Wieso denn keine Träume?»
«Ach, nur so gesagt.»
«Nur so?»
«Ja, na ja. Das Problem ist nicht das Leben. Das Problem sind die Träume, verstehen Sie? Das Problem sind nur die Träume.»
Dann setzt er die Flasche an, nimmt einen tiefen Schluck und summt eine betrunkene, leise Melodie. Schon hat er sie und sich vergessen.
Oben in der Wohnung hört Denise eine gebrannte CD mit Schlagern aus ihrer Kindheit, Milva, Gitte Hænning, Nino de Angelo. Sie setzt sich vor den Computer und geht, genüsslich am Rum-Cola nippend, auf die Pornoseite, wo sie ihren Pornonamen «Nadine Laval» in die Suchmaske eingibt und sich dann erneut die eigenen Clips ansieht. Gar nicht schlecht, findet sie, wäre sie ein Mann und nicht sie selbst, sie würde sich vielleicht jetzt auf diesen Porno einen runterholen. Sie gibt sich die Höchstzahl an Sternen, liest die Kommentare, die sich nur positiv über sie auslassen, und fühlt sich gut und gewollt. Schon über zwanzigtausend Mal wurde der Film angeklickt und angesehen. Es macht sie stolz. Sie kippt den Rest des Drinks hinunter, schreibt unter dem Pseudonym Gonzo die Sätze «Who is that nadine chick? She is hot! We want more!» in die Kommentarspalte und legt sich in Klamotten aufs Sofa schlafen. Ihr fällt ein, dass sie das Babyphon unten vergessen hat, aber das ist nicht schlimm, sie ist ja da jetzt und hört und sieht, wenn es sein muss, alles.
*
«Garcong!»
Anton macht es wie in Pulp Fiction. Er ruft nochmals: «Garcong!», denn er möchte gerne zahlen. Ja, sehr gerne möchte er zahlen, er tut das nicht nur aus Zwang, es ist ihm ein inneres Bedürfnis, hier und jetzt seine Rechnung zu begleichen. Denn zahlen muss sein, am Ende.
Dieses Restaurant ist auch nur ein Edelpuff, denkt oder sagt er, eine Nobelkaschemme, die auf Schwarzwald tut und letztlich nur den dumpfen Szenies einen weiteren Hotspot andienen will. Anton wischt sich genüsslich den Mund mit der Serviette ab und legt diese dann fein gefaltet auf den Teller, auf dem vorher noch ein riesiges, zartes Schnitzel lag. Jetzt rumpelt es in seinem Magen. So gediegen und viel hat er schon lange nicht mehr gegessen. Er ist sich nicht sicher, ob man ihn hier noch kennt. In diesem Restaurant, wo er nun Rhabarberlimonade trinkt, hat er in jenem verrauschten Sommer öfter gesessen und sich einen durchaus schlechten Ruf erarbeitet, durch Herumpoltern und unerwünschtes Flirten, durch Selbstgespräche und aufgedrängte Diskussionen. Doch der Kellner lässt sich nichts anmerken. Ohne eine Miene zu verziehen, legt er die Rechnung im Lederumschlag auf den Tisch und entschwindet wieder. Anton rundet großzügig auf und empfiehlt sich.
Anton ist jetzt ein Lebenskünstler. Als solcher muss er sich inszenieren, um überhaupt noch aufrecht gehen zu können, um die Last nicht so erdrückend auf den Schultern zu spüren. Und was ist schon Geld? Papier, nichts als Papier. Geld ist virtuell, sie spekulieren alle drauf und scheitern oft, es sind Zahlenspiele, es ist Roulette, es ist nichts, nichts, nichts. Alle, die noch an die Rente glauben, müssen Idioten sein. Alle, die auf die Zukunft wetten, auch.
Mit befreitem Schritt poltert er die Straße entlang, raucht zur Verdauung und Neutralisierung des Geschmacks im Mund eine schnelle Zigarette. Auf der anderen Straßenseite erkennen ihn ein paar Penner, er winkt zurück, sie feixen und mokieren sich über seinen schnieken Aufzug, sein gestriegeltes Äußeres. Anton bindet sich eine imaginäre Fliege um und zeigt mit Daumen und Zeigefinger an, dass alles perfekt ist. Die Penner müssen lachen und prosten ihm zu und spornen ihn an, «nur weiter so, Junge, nur weiter.» Sie sind besoffen und zufrieden. Anton will aber noch nicht trinken. Anton will die zweite Station seiner Reise antreten. Er überlegt, wen er besuchen soll, bevor er wieder verwahrlost, und entscheidet sich, obwohl es ihn traurig machen wird, für seine Mutter.
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