«Nein, natürlich nicht», sagt Martina.
«Wer weiß», sagt Heike.
Wieder kommt Werbung, lauter gepegelt als die eigentliche Sendung, und schreit den drei Mädchen ihre Sehnsüchte zu: glatte Haut, beste Diät, ab in den Urlaub.
«Weißt du was», sagt Denise, «treib’s ab. Treib’s einfach ab. Dann musst du dich später nicht mit solchen Scheißfragen herumschlagen.»
Als die Freundinnen weg sind, liegt die Empörung noch immer in der Luft. Aber Denise fühlt sich befreit. Was sind schon Freundinnen wert, die solche Fragen stellen. Man sieht doch, wie die Menschen miteinander umgehen, hier auf diesem Bildschirm, genau hier, wo Natascha und Tessa sich plötzlich mit Marie verbünden und so tun, als sei nie auch nur irgendwas gewesen.
*
Aus einem Abfalleimer tropft Mayonnaise wie Eiter aus der ruhelosen Wunde. Anton ist aus dem saubersten Bett seit Jahren geflüchtet, steht nun in der U-Bahn-Station und starrt den Müll an. Er lag schon in seiner ewigen Embryonalstellung im Gästebett und wartete auf den Schlaf, aber der stellte sich nicht ein, und bevor er noch länger auf das Frühstück mit seinen verkaterten Ersatzeltern warten würde, stand er lieber mit der Morgendämmerung auf und machte sich auf den Weg. Denn bei Hermann und Cathrin würden sich seine Probleme nicht lösen. Aber wo? Und sind die Probleme überhaupt individuierbar? Oder ist nicht vielmehr Anton selbst ein einziges Problem, das nicht mehr aufzudröseln ist? Ein Problem im Anzug, immerhin. Er sieht sich im Fenster des herrenlosen Aufsichtshäuschens und nickt anerkennend. Bald kommt die erste U-Bahn, und die ersten Werktätigen werden drin dösen. Er wird sie sehen, und sie ihn, und es wird nichts bedeuten. Er wird in Richtung Heim fahren, er wird sich in sein Zimmer schleichen, die Unordnung sehen, die Mahnungen und Drohungen. Es wird sich nichts geändert haben.
Und doch, das gestrige Gespräch, dem er mehr beiwohnte, als dass er daran teilnahm, das Gespräch zwischen Hermann und Cathrin, es hat ihn angestachelt, hat seinen Reststolz geweckt. Vielleicht wird er es ihnen allen zeigen, den Rechtsanwälten dieser Stadt, den Cathrins dieser Welt. Das könnte doch immer noch machbar sein, oder? Theoretisch, denkt er und fühlt sich kurz wie ein Sportreporter, theoretisch geht hier noch einiges, meine Damen und Herren. Und vor allem, wird ihm kurz bewusst, trifft die Urtatsache noch immer zu: Er lebt. Ja, er lebt noch. Das ist längst nicht mehr selbstverständlich. Alles ist möglich, denn er lebt noch. Das lässt ihn kurz aufatmen. Anton steht vor einer leeren Werbefläche und malt Phantasiegesichter und Traumstrände hinein. Er hat einen Anzug. Er hat ein paar Tage. Und er will endlich seine Würde zurück.
Anton ist eigentlich schon Vergangenheit: So sah er sich in den letzten Wochen, so hatte er sich innerlich längst zu den Akten gelegt. Ein Untoter streift durch die Stadt.
Der Entschluss zum Selbstmord begleitet ihn nun schon anderthalb Jahre. Er hat ihn nur noch nicht umgesetzt. Ehemals nahen Menschen beschreibt er die Lage als weniger aussichtslos, als sie in Wahrheit ist, behauptet, er habe es verpasst, sich umzubringen, und müsse nun eben langsam wieder ins Leben zurückfinden. Solche Aussagen werden abgenickt und unterstützt. Anton aber hat den Schritt ins Nichts nur immer weiter hinausgezögert. Allein die Wahl der Methode stellt ihn vor gewaltige Fragen, die einen Entscheidungsschwachen nur lähmen können. Zum Erschießen braucht man eine Waffe. Springen könnte Rollstuhl bedeuten, und welches Gebäude ist schon geeignet und auch noch betretbar? Vom Mut ganz zu schweigen. Und will man sich denn so wegwerfen, zum Fleischhaufen werden? Zum Ertrinken schwimmt er zu gut, bildet er sich ein. Überdosen hat er schon hinter sich, dreimal Tabletten, einmal hätte vermutlich noch eine halbe Flasche Wodka obendrauf das gewünschte Ergebnis gezeitigt, aber wer kann da schon sicher sein. Seine Leber sei extrem belastbar, wurde von Medizinerseite gewitzelt. Als seinen Favoriten hatte er schließlich das «atypische Erhängen» auserkoren, Erhängen mit Bodenkontakt, faktisch die typische Variante. Er hatte ein Scoutingseil in sein Heimzimmer geschmuggelt und an der Türklinke festgemacht, dann eine Art Henkersknoten ins Seil geknüpft und sich schließlich langsam in die Schlaufe sinken lassen. Der Schmerz am Hals hielt sich in Grenzen, der Blutdruck im Kopf stieg sofort an, aber keine Spur von der Ohnmacht, die diversen Quellen zufolge doch nach etwa zwanzig Sekunden eintreten sollte. Strangmarken am Hals und geplatzte Äderchen im Gesicht wollte er vermeiden. Falls es misslang, sollte nichts sichtbar sein. So grüßte das Seil eine Woche lang an seiner Tür, und alle zwei Tage hängte er sich versuchsweise hinein, mal mehr, mal weniger todesbereit. Jetzt, jetzt, jetzt , dachte er dann, es klappt, ich gehe jetzt. Nichts passierte. Eine Zigarette nach jedem Versuch und weitere Recherche im unergiebigen Internet. Dann hatte er das Seil vergessen, nicht mehr wahrgenommen. Als eine kurze Affäre einmal bei ihm übernachten wollte, hatte er es deshalb versäumt, das traurig herabhängende Seil von der Tür zu nehmen, und sie brach bei seinem Anblick in Tränen aus und beschimpfte ihn wild. Er wusste nichts zu sagen und nahm sie in den Arm, um sie zu trösten.
In seinen Dämmerträumen wird er entführt, enthauptet, von fremder Hand erstickt. Eine Lawine nimmt ihn mit, ein Samurai taucht aus dem Nichts auf und vollbringt ansatzlos sein Meisterwerk. Geisterfahrer rasen Amok und radieren ihn zufällig aus. Er will entfernt, abgeschafft werden, er will es aber nicht selber tun. Passiv sterben will er, nicht sich aktiv töten. Der Gewaltakt gegen sich selbst hat etwas Unwürdiges, Reste einer metaphysischen Ethik strahlen aus irgendeiner verschütteten Vergangenheit herüber, und immer die zukünftigen Bilder von ihm als Selbstmörder, dessen Leben also sinnlos war in den Köpfen der anderen, die ihm doch eigentlich herzlich egal sein könnten. Ein Gerinnsel möge in seinem Kopf aufplatzen, bittet er, ein Herzinfarkt ihn zu Fall bringen. Irgendetwas. Bitte.
Aber diese Sinnlosigkeit, diese Sinnlosigkeit, die der Selbstmord offenbart, das nachträgliche Eingeständnis, es war alles nichts! Das Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, sagte jemand und ahnte kaum, was für eine Spitze er da gegen die Suizidenten richtete. Denn es ist nicht die Addition guter oder schlechter Augenblicke, die als Summe ein gelungenes oder nicht gelungenes Leben ausmachen, sondern eine Dramaturgie, eine Erzählung, die schließlich gut ausgehen soll, oder jedenfalls nicht schlecht. Wer da aufgibt und sich Gewalt antut, verwirkt alles Bisherige mit einem Strich.
Überdies glaubt Anton, dass er wohl in einen ewigen Dämmer fallen würde, wenn er es denn versuchte. Bei ihm würde selbst der Selbstmord schiefgehen. Und dann, er hat das als der Schlafexperte, der er ist, schon oft durchgespielt, säße er behindert und fast hirntot in einem Rollstuhl, der von anderen Händen bewegt werden müsste, wäre in einer Art pränatalem Zustand gefangen, wie unter Wasser, wo Formen und Farben verschwimmen, einzelne Worte auftauchen und unverstanden wieder verklingen, versuppen, verrauschen und auf den Grund niedersinken. Ewige Unmündigkeit, verlorenes Bewusstsein und keine Chance, daran etwas zu ändern.
Hermanns Rasierwasser dünstet noch nach, als Anton das Wohnheim verlässt, wo er kurz geschlafen hat. Sonja hat ihm eine Adressliste mitgegeben, die er in den übernächsten Mülleimer wirft. So ist allen geholfen, denkt er. Dann kehrt er um und fischt den Zettel wieder heraus. Sonja hat ihn belustigt auf den Anzug angesprochen, und er hat geantwortet: «Keine Atempause, Geschichte wird gemacht.» Sonja kannte ihren Einsatz nicht, also fügte er noch hinzu: «Es geht voran.» Worauf sie in ein halblautes Glucksen ausbrach.
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