Thomas Melle - 3000 Euro

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Denise kommt mehr schlecht als recht mit ihrem Leben klar. Sie arbeitet im Discounter, ihre kleine Tochter Linda überfordert sie oft; eine langersehnte New-York-Reise bleibt ein — immerhin tröstlicher — Traum. Mit dem Lohn für einen Pornodreh will sie endlich weiterkommen, aber man lässt sie auf ihr Geld warten. Immer öfter steht Anton an ihrer Kasse, der abgestürzte, verschuldete Ex-Jurastudent, der im Wohnheim schläft. Vorsichtig kommen sich die beiden näher. Während Denise wütend, aber auch stolz um ihr Recht und für ihre Tochter kämpft, während Anton seiner Privatinsolvenz entgegenbangt, arrivierte frühere Freunde trifft, mal Hoffnung schöpft und sie dann wieder verliert, entwickelt sich eine zarte, fast unmögliche Liebe. Beide versuchen, sich einander zu öffnen, doch als Denise endlich ihr Geld bekommen soll und Antons Gerichtstermin naht, müssen sie sich fragen, wie viel Nähe ihr Leben wirklich zulässt … Thomas Melle erzählt von einer Liebe am unteren Rand der Gesellschaft, von der menschlichen Existenz in all ihrer drastischen Schönheit und Zerbrechlichkeit — ein zärtlicher, heftiger Roman über zwei Menschen und die Frage, was dreitausend Euro wert sein können.

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Thomas Melle

3000 Euro

you can’t fire me because I quit

Erstes Kapitel

Da ist ein Mensch drin, auch wenn es nicht so scheint. Unter den Flicken und Fetzen bewegt sich nichts. Die Passanten gehen an dem Haufen vorbei, als wäre er nicht da. Jeder sieht ihn, aber die Blicke wandern sofort weiter. Zwei Flaschen stehen neben dem Haufen, trübe und abgegriffen. Die Sonne knallt herunter. Es riecht streng, nach Urin, nach Säure und frühem Alter.

Anton träumt einen dünnen Traum, in ihm sind alle Arschlöcher weg. Jana betritt sein Zimmer, oder ist es eine industrielle Höhle; Anton muss eine Maschine bedienen, die etwas stanzt, Geldscheine aus Blech, vielleicht. Jana, sein Jugendschwarm, hockt sich zu ihm nieder und lächelt mit großen Augen. Ihr Hemd steht offen, halb sind die Brüste sichtbar. Anton nickt. Jana legt sich zu ihm, sie reden. Noch berühren sie sich nicht.

Wenn Anton träumt in diesen Wochen, dann von den alten Zeiten, die es so nie gab. Alternative Versionen seiner Jugend: Das Personal ist zwar dasselbe, aber die Ereignisse sind komplett irreal. Er schläft mit den Mädchen, die er nie haben konnte, er rettet die Freunde, die nicht mehr Teil seines Lebens sind, er feiert die Erfolge, die er nie hatte. Treibgut aus der Zeit, als noch alles möglich schien.

Der Haufen rührt sich. Die Passanten gehen weiter dran vorbei, machen teils einen größeren Bogen. Anton merkt, dass er aufwacht, gegen seinen Willen. Die Traumbilder werden durchsichtig, lösen sich auf. Jana ist weg, bevor er sie berühren konnte, die Maschine ist auch weg. Der Traumkanal schließt sich. Anton ärgert sich. Der Schlaf ist alles, was er noch hat. Er hält die Augen geschlossen, Schweiß läuft ihm die Wange hinunter. Noch nicht, denkt er, noch nicht, und versucht, den Schlaf zu verlängern.

Das ist eine Disziplin, in der Anton es zu einer Art Meisterschaft gebracht hat: den Schlaf verlängern, das Dämmern ausdehnen, den Traum stauchen und modulieren. Die Konsistenz des Schlafes willentlich verändern, das Bewusstsein verdünnen: Man ist da, aber unscharf, ganz tief unten, als tierische Präsenz, kein Gewahrwerden, nur Schemen um eine unbewusste Mitte. Wo normalerweise ein alarmierender Gedanke den Schlafenden zurück in die Realität reißt, kann Anton das Konkrete verwischen und im Ungenauen, Schläfrigen verweilen, die Schlafreste ausschöpfen. Mittlerweile fällt es ihm jedoch schwerer und schwerer.

Ein Sonnenstrahl trifft sein Gesicht, stichelt darin herum, die Augen erwachen und sehen durch die Lider rot. Das war’s. Er öffnet die Augen und orientiert sich, Bushaltestelle, Rucksack, Supermarkt, hier die Ecke, die nachts noch so gemütlich schien. Erster Müll um ihn herum. Sein Leben schießt ihm wieder in den Kopf, stimmt, so sieht das aus hier, so ist, was wurde. Er erinnert sich an seinen Entschluss, seinen Plan für die nächsten Tage, vor dem Gerichtstermin. Und er erinnert sich an die dreitausend Euro. Zunächst aber will er auf und weg von hier, wo er argwöhnisch beäugt wird, wohl den ganzen Morgen schon. Aufstehen, aufräumen, losgehen. Es ist ja wohl kaum so, dass er kein Zuhause hat! Denkt das nicht, Leute! Sein Zuhause, auch wenn er es nie so nennen würde, ist das Übergangsheim im Westen der Stadt. Dort sind sein Bett, sein Schrank, sein Tisch, o ja. Er hat sich am Abend einfach hier hingelegt, und aus der kurzen Verschnaufpause wurde eine Nacht im Freien. Warum auch nicht. Einübungen in die Zukunft, Vorwegnahmen des Unausweichlichen. Oder nur ein Witz, denkt Anton, ein Witz wie alles. Er steht auf, macht eine Verbeugung, grüßt ins Ungewisse und geht.

*

Die Uhr ist ständig eingeblendet in einem kleinen Sonnensymbol, und darin rattern die Minuten weg, viel zu kurz und schnell wieder. Die Moderatoren grinsen in den Morgen hinein und scherzen. Denise mag sie sehr. Sie wäre gerne so fröhlich wie sie, und so blond. Aber sie ist, wie sie ist. Dann dröhnt ein Jingle, dass die kleinen Boxen scheppern, dann kommt ein Beitrag über die nächste Mode. Denise sucht Lindas blaue Regenjacke und findet sie nicht, nicht im Schrank, nicht im Wäschehaufen, nicht auf der Anrichte, nicht in der Küche, wo die Spuren vom Frühstück noch auf Tisch und Boden kleben. Eine smarte Frauenstimme spricht von irgendwelchen Hinguckern . Denise will eigentlich sehen, was da so sehenswert sein soll, bemerkt aber, dass Linda schon seit Minuten verdächtig still ist. Als sie im Kinderzimmer nachsieht, sitzt ihre Tochter noch immer im Schlafanzug da. «Anziehen, aber schnell», zischt Denise, lässt Linda jedoch keine Zeit für Umständlichkeiten, sondern zwängt sie bereits in die Hose. Linda wehrt sich, will flüchten. Denise atmet schwer. Es kann nicht sein, dass jeden Morgen dasselbe Theater ist. Das kann einfach nicht sein. Linda entwischt ihr, torkelt, den einen Fuß halb im Hosenbein, in Richtung Schrank, stolpert und schlägt mit dem Kopf gegen das Holz. Sofort schreit sie auf und heult, das Gesicht verfärbt sich zu einer Boje. Denise reißt sich zusammen, geht zu ihrer Tochter und schaut nach, ob es eine Wunde gibt. Nichts, nur verweinte Augen und dieses Kreischen, das ihr die Tochter zum fremden, verhassten Kind macht. Langsam, sagt sie sich, ruhig, sie will kein Monster sein. Linda ist erschöpft und lässt sich ankleiden, nicht ohne gesagt zu haben, dass sie Denise den Tod wünscht. Sie sagt: «Du sollst tot sein.» Doch das sagt sie alle paar Tage. Es heißt nur, dass sie sich ergeben hat.

Vor der Praxis der Ergotherapeutin raucht Denise ihre erste Zigarette. Drinnen klettert ihre Tochter jetzt über Böcke und Würfel, greift nach Turnringen, schwingt ins Leere, während sie sanft gehalten wird. Linda liebt diese Dreiviertelstunde bei der Ergotherapie. Für sie ist es ein morgendlicher Ausflug zu einem geheimen Spielplatz, einem Ort ohne Wettbewerb, ohne andere Kinder, die sie in die Ecke drängen und drangsalieren wollen, voll abgerundetem Spielzeug und mit einer weichen Frau, die nur für sie da ist.

Die erste Zigarette am Tag ist die beste, und Denise genießt den Flash, der sie nach den ersten Zügen durchfährt. Rauchen ist Atmen, bisweilen, wie nach einem langen Sprint. Die Welt in ihrem Kopf fühlt sich kurz weicher an, wie gepolstert, die Gedanken betäubt, die Glieder leicht gelähmt. Denise starrt ins Nichts und doch auf die Straße, wo die Autos kurz verschwimmen. Noch ein Zug, tiefer jetzt. Die Verwaltungsgebäude um sie herum, aus welchem langweiligen Jahrzehnt auch immer, bekommen einen Stich ins Metallene. Der Himmel weitet sich, und für einen Augenblick sieht Denise sie wieder, die Stadt, die sich über alle anderen schiebt, wenn sie es nur will: New York. Ein New York aber, das keiner je sah, das nur sie kennt, mit hoch aufgeschossenen Wolkenkratzern, in denen sich zehn Sonnen spiegeln, die so hellgelb strahlen wie die Taxis, aus denen cremefarbene Models steigen, von denen Denise eines hätte sein können, wenn sie nur gewollt hätte, und zusammen mit ihnen würde sie diese Luxusversion, diesen Traum des Kurfürstendamms bevölkern, wenn Straßen denn träumen könnten, mit Hoteldienern in Livree, die freundlich grüßten und ihre glattschwarzen Zylinder lüfteten, Limousinen, die nicht protzten, sondern wirkten, an jeder Ecke ein Candyman, rotweißblaue Fransen in den Bäumen und Pollen in der Luft, so leicht und süß wie Zuckerwatte. Und ohne einen Laut würde sich der Fahrstuhl hinter ihr schließen, es ginge hoch in das ideale Apartment, so dezent und geschmackvoll, dass Börsenfilme aus den Achtzigern hier spielen könnten, mit einem paranoiden Michael Douglas in der Hauptrolle. Aber hat Michael Douglas nicht Krebs? Oder hat er ihn inzwischen besiegt? Weg ist das Traumbild, die Limousinen sind wieder Rostbeulen, die Bauten Verwaltungsklötze, und Denise ist Denise und hat aufgeraucht.

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