«Nicht schlecht, was?», ruft Hermann und verschwindet kurz. Da blickt Anton schon nicht mehr in den Spiegel. Er schaut nach draußen, in den Garten. Alles sieht so frisch und grün aus, fast obszön, die pralle Natur. Plötzlich hat er einen Kloß im Hals. Das ist seit Monaten nicht mehr passiert. Er will weinen.
Er merkt kaum, wie Hermann, wieder zurück, ihn in einen neuen, alten Anzug steckt, grau und elegant. «Perfekt», meint Hermann, «schau dich an, alter Charmeur.» Anton zuckt mit den Achseln. Aber doch, der Anzug gefällt ihm. Er gefällt ihm wirklich. Hermann schnalzt mit der Zunge und macht einen militärischen Gruß.
*
Rihanna singt glasklar und vom Autotune entseelt durch die Boxen, der Beat stampft, und Denise denkt, wieso nicht einen Undercut. Rihanna hat einen Undercut, einen krassen, und Denise möchte vielleicht auch einen, einen leichten, aber erkennbaren. Und eine neue Farbe. Das Schwarz muss weg. Sie will die Kontrolle darüber haben, wer sie erkennt und wer nicht.
Als sie auf dem Stuhl sitzt, kämmt George, der bestimmt nicht George heißt, ihr das Haar und liebkost einzelne Strähnen. Dann atmet er durch und sagt, er sehe schon.
«Was siehst du?», fragt Denise.
«Diesmal geht es dir nicht nur um die Spitzen», sagt George und hockt sich neben sie.
Obwohl er offensichtlich nicht schwul ist, schwult er herum, stützt das Kinn auf die Faust, blickt sie ernst durch seine Ray-Ban-Brille an. Er sieht aus wie Mads aus dem Frühstücksfernsehen, der skandinavische Modetyp, der aus hässlichen Entlein akkordweise hässliche Schwäne macht.
Denise starrt in den Spiegel. «Du hast recht.»
«Ich weiß», sagt George, «das ist mein Schicksal. Und es ist kein leichtes.»
Denise muss lachen. «Undercut», sagt sie, «aber nicht zu krass.»
Er markiert die mögliche Stelle, sie nickt.
«Und eine neue Farbe», sagt sie.
«Ich weiß», haucht George, «ich weiß doch.»
George vermutet eine Trennung. Denise bejaht das mit einem angesäuerten Gesichtsausdruck und zieht sich eine erfundene Beziehung aus der Nase, die gerade beendet sei. Sören also sei zurück zu seiner Exfrau. George verzieht den Mund und nickt. Und zurück zu seinem Kind. George atmet zischend ein, als habe er sich verbrannt. Und das Kind, ob das nicht schon lange vorher ein Problem gewesen sei? Ja, aber Denise habe es zuvor nicht so wahrgenommen. «Er war doch inzwischen auch mein Sohn!», verzweifelt sie. George schüttelt verständnisvoll den Kopf, während die strohigen schwarzen Haare allseits niederregnen.
Irgendwann muss Denise gar nicht mehr viel erfinden, George konstruiert die Geschichte durch seine Vermutungen einfach mit, und so entsteht ein kleines Drama, das Schulzeit, Betrügereien und Abtreibungen miteinschließt. Als es an die Farbe geht, sie haben sich für einen düsteren Zobelton mit Lowlights entschieden, markiert das für George auch den Gezeitenwechsel: Flut statt Ebbe, Blick nach vorn statt Blick zurück, Zukunft statt Vergangenheit. Er muntert die vermeintlich gebrochene Denise auf, macht dezente Komplimente für den scharfen Schnitt ihres Gesichts, schäkert mit ihr herum. Dann muss er kurz weg. Sie sitzt alleine da und bemerkt jetzt die Wartenden um sich. Die warten nur, denkt sie, die gucken nicht. Und wenn sie gucken, dann, weil sie warten.
Nach dem Färben sieht Denise aus wie frisch der Gala entsprungen, und sie hält den Kopf schräg und macht einen Schmollmund. Dann zieht sie dem Spiegel eine Modelgrimasse, ein poppiges Grinsen mit herausgestreckter Zunge. George muss lachen, klatscht in die Hände und sagt: «Du bist ein Star, mein Schatz.»
*
Er wollte schon gehen, aber Hermann hat ihn fast genötigt. Jetzt sitzen sie da und kauen Couscous. Cathrin ist inzwischen Veganerin, zwar nicht dogmatisch, aber doch so, dass gerade, so die offizielle Version, nichts anderes im Haus war. Das Couscous ist mit Erbsen und anderem kleinem Gemüse durchsetzt, und Anton kommt sich vor wie ein wiederkäuendes Tier, das keine Zähne, sondern eine Kauleiste im Mund trägt. Cathrin mümmelt den Brei in kleinen Häppchen.
Es scheint ein stiller Kampf um Hermann entbrannt zu sein. Zwar setzt sich Cathrin vordergründig für Anton ein. Doch er kennt sie seit Jahren, ihren defensiven Widerstand, die Krallen, die sie ausfährt, wenn ihr Reich in Gefahr ist. Sie hegt, seit dem Ausrutscher, ein gesundes Misstrauen gegen Anton und sieht sich inzwischen in einem Maße bestätigt, dass es für Misstrauen eigentlich schon wieder keinen Grund mehr gibt. Das Versagen ist offensichtlich, Mitleid angebracht. Und dennoch weiß sie, Anton hat das ältere Recht, die Freundschaft mit Hermann geht weit zurück, auch wenn sie diesen Sachverhalt niemals offen ansprechen würde. Das wäre albern. Eine Freundschaft ist keine Beziehung.
Der Ausrutscher stopft ihr seit je das nervöse Mäulchen. Anton weiß nicht, ob Hermann weiß, dass Cathrin und Anton nach der Geburtstagsparty eines Repetitors, auf der Anton ein letztes Mal mit seiner Band aufgetreten war, miteinander abgestürzt sind, auf klassische Weise, klein und schmutzig. Die Verschwiegenheitsklausel trat sofort nach den Orgasmen in Kraft, und Cathrin hat seitdem, und wie lange ist das her, Jahrzehnte ist das her, kein vernünftiges Wort mehr mit Anton gewechselt. Seine Andersartigkeit, jetzt eine Katastrophe, mag damals noch verwegen gewirkt haben: ein dirty young man zur schnellen Projektion flüchtiger Gefühle, der etwas Tierähnliches bekam, sobald er trank, der Abenteuer jenseits der Paragraphen versprach, und sei es nur für zehn Minuten. Anton hatte sich diese Wirkung bisweilen zunutze gemacht. Dann nahm die Verwahrlosung überhand. Und seine ambitionierte Schülerband, die bereits zur hobbymäßig dahinvegetierenden Studentenband geworden war, inzwischen fast nur noch Cover spielte und längst nicht mehr auf einen Plattendeal hoffte, schlief ohne Verabredung ein. Die einzelnen Mitglieder gingen ihrer Wege, und Anton wählte den abgelegensten Pfad.
Er sieht Cathrin an, versucht, sich zu erinnern. Es kommen nur einzelne Bilder, die kleinen, festen Brüste, die Narbe dazwischen, die geschlossenen Augen und der Höhepunkt, wie so oft, beim Reiten. Ansonsten weiß er nichts mehr. Da ist nichts. Vielleicht war da nie etwas. Sein Schoß ist taub und kalt, und womöglich war er das schon immer.
«Du hörst ihm gar nicht richtig zu», sagt Cathrin und nippt am Wein.
«Natürlich höre ich ihm zu», sagt Hermann und schabt seinen Couscousrest zu einem kleinen Haufen zusammen.
«Du beschwichtigst immer nur und denkst, das reicht», sagt Cathrin.
«Leute, ihr hört mir offensichtlich beide zu», sagt Anton und merkt sofort, dass er gar nicht gefragt ist.
«Du redest über den Prozess, als sei er schon gewonnen. Dabei sehe ich das nicht. Das Gutachten scheint zu Ungunsten von Anton ausgefallen zu sein. Und der Richter, der Richter ist was, Anton?»
«Ein dumpfer Schrebergärtner», sagt Anton.
«Genau. Und nur ein minimaler Prozentsatz schafft es überhaupt, die eigene Geschäftsunfähigkeit nachzuweisen. Und du tust so, als wäre alles gut, als würde ihn das nicht noch mehr hineinreiten», sagt Cathrin.
«Wenn nicht er, wer dann», sagt Hermann.
«Er schätzt doch nicht einmal seine Situation richtig ein», sagt Cathrin.
«Doch, tue ich», sagt Anton. «Tue ich.»
«Ich sehe das nicht», sagt Cathrin. «Ich sehe das einfach nicht.»
Nach dem Essen probiert auch Anton einen Schluck Wein, den ersten seit Wochen. Er schmeckt säuerlich und gut, eine Spätlese der Sünde. Sein Blick streift das Bücherregal, die alten Dostojewskis aus Hermanns Studienzeiten stehen dort, samt Neuübersetzungen, aus Schuld und Sühne wurde Verbrechen und Strafe , genau, so war das, erinnert er sich. Aus Mord wurde Kredit, aus Tragödie Farce, aus Raskolnikow Anton, denkt Anton und ist zufrieden mit diesem Gedanken, der aus einer anderen Zeit zu stammen scheint. Aus einer Zeit, in der er noch der Illusion unterlag, eigene, spannende Gedanken zu denken. Wo Verbrechen noch Schuld nach sich zog, wo Schicksal nicht einfach nur Bürokratie bedeutete. Er seufzt.
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