Thomas Melle - Sickster

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Zwei junge Männer stehen an vorderster Front einer überhitzten Konsum- und Leistungswelt — und halten stand, bis die Beschleunigung ihr Leben erfasst, überwuchert: Der idealistische Magnus Taue schreibt für das Kundenblatt eines Ölkonzerns, fühlt sich als Loser und hasst seine Arbeit mit der Wut eines Schläfers. Thorsten Kühnemund, Manager und Macho, leidet insgeheim am erfolgreichen Hochglanzleben voller Druck und Alphatierneurosen, er betäubt sich mit Alkohol, schnellem Sex und Abstürzen im molochartigen Clubbing der Stadt. Aus Schulzeiten bekannt, freunden die beiden sich zögerlich an. Doch dann brechen die Fassaden ein. Magnus fühlt sich zu Thorstens Freundin Laura hingezogen, und alle drei strudeln ins Haltlose. So beginnt eine Suche nach irgendeiner Wahrheit des Empfindens, Denkens und Tuns — eine Suche im Rausch, Schmerz und Wahn, und in der eigenen Seele …
Einfühlsam und radikal erforscht Thomas Melle ein sich immer schneller um ein leeres Zentrum drehendes Leben — bis an die Grenzen des Ichs und darüber hinaus. «Sickster» ist ein großes diagnostisches Zeitbild — und das Romandebüt eines Autors, dessen Sprache, so Iris Radisch, «bis ins letzte Komma aufgeladen» ist.

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Thomas Melle

Sickster

No, no, no, no

I didn’t think so

Nine Inch Nails

PROLOG IM DUNKELN

Einer lacht immer zu früh, etwa bei koreanischen Filmen, obwohl er gar kein Koreanisch versteht. (Ich sage er , denn das sind wirklich Ers und meist nicht Sies ; die Sies lachen woanders.) Es gibt also immer einen, der loslacht, obwohl es gar keine Pointe gibt. Etwa im Dunkelschwarzen, im Kino: Leute, die vorgeben, alles zu verstehen, und dabei eben nie etwas verstanden haben.

Sie sitzen im Kino. Um Sie herum eine Dunkelheit, die fließt und gleitet. Gleich geht der Film los. Gleich gibt es ein Spektakel. Sie freuen sich. Sie halten das Ticket in der Hand. Popcorngeruch. Weiche, tiefe Sitze. Neben Ihnen Leute. Werbung.

Und los.

ERSTER TEIL ABITUR

stay in school

cuz it’s the best

Peaches

Der Startschuss ist wörtlich zu nehmen: ein ohrenbetäubender Knall. Ihm folgt, feiner als haarfein, ein Riss.

Es war der Sommer 1994, und der Abikorso der Canisius-Schule zog durch die stille, der Bedeutungslosigkeit entgegendämmernde Stadt Bonn. Aufgekratzt und zugleich etwas dumpf vom Feiern, das sich über Tage hingezogen hatte, dumpf auch von der langen Prüfungsphase und der plötzlichen Erleichterung, der kein rechter Sinn zugeordnet werden konnte, wollten die Abiturienten nur noch jubeln. Sie schwenkten die Bierflaschen, krächzten Triumphschreie in den Fahrtwind, hielten ihre Gesichter in die Sonne und holten aus den fingerbemalten Wagen so viel Lärm heraus, wie nur möglich war, durch Motorjaulen, Reifenquietschen, Dauerhupen: eine Schneise des Lärms, die sich gleich hinter ihnen wieder schloss.

Der Jubel der Abiturienten hatte dabei etwas Ausgestelltes, Gespieltes. Er war mehr Wollen als Jubeln. Diesen Tag hatten sie sich schon so oft vorgestellt und herbeigesehnt, dass er das Versprechen, das von ihm ausgegangen war, kaum einlösen konnte. Mit unbeholfenen, groben Gesten und vollmundigen Rufen versuchten die Abgänger, sich als die Könige des Tages zu fühlen, und fielen dabei seltsamerweise in Stereotype ihrer jetzt begrabenen Achtziger-Jahre-Kindheit zurück. Lara imitierte ohne Grund den ostfriesischen Komiker Otto Waalkes und presste immer wieder ein tiefes «Jaa! Jaaa!» aus ihren Stimmbändern hervor. Eva warf mit ihren Korkenzieherlocken um sich und genoss den Wind, ganz so, als sei sie in einem Werbeclip für Haarspray gelandet. Jakob trug Basecap und Sonnenbrille und schrie unverständliche Parolen durch eine Flüstertüte, welche noch aus Golfkriegszeiten stammte. Achim und Anja tanzten eine seltsame Mischung aus Lambada und Breakdance und spitzten ihre Lippen immer wieder zu Kussmündern, wenn sie sich in die Augen blickten. Alle johlten, klatschten, stampften.

Doch die Nachträglichkeit ihrer Bemühungen war nicht zu übersehen. Die Feier stand in Konkurrenz zu der aufgestauten Vorfreude, die sie selbst verursacht hatte. Dies war ihr Tag, aber es war ein Tag wie eine vergangene Erinnerung an eine Zukunft, die sich jetzt in ihrer ganzen banalen Sensationslosigkeit zeigte. Es schien, als wären die scheidenden Schüler das letzte Mal zum Diktat gerufen worden, zum Diktat des Spaßes. Und sie gehorchten. Das echolose Schweigen der Stadt passte gut dazu.

Ein Knall, außen, und innen sofort ein Riss. Hendrik hatte früher Amseln und Spatzen im Garten seiner Eltern abgeschossen, mit einer Gaspistole, die er während der Internatszeit in seinem obersten Schrankfach versteckt hatte, aus Angst vor Razzien. Jetzt, beim Korso, sollte sie endlich wieder zum Einsatz kommen. Aber die Pistole hatte Ladehemmung. Nervös fuchtelte Hendrik an ihr herum, zeigte sie ungeduldig den teilnahmslosen Passanten, reckte sie in die Höhe, zielte auf die Sonne, drückte und zerrte am Abzug — nichts tat sich. Er fluchte. Magnus saß neben ihm, im Cabrio von Lutz, und war schon scharf betrunken vom Sekt. Er beobachtete, wie die Röte in Hendriks Gesicht mit jedem misslungenen Versuch eine Nuance dunkler wurde, während der Schweißfilm darüber immer heller glänzte. Hendrik fluchte und fingerte an der Waffe herum. Er wollte unbedingt derjenige sein, welcher diesen Startschuss ins Erwachsenenleben abgeben würde, stellvertretend für den ganzen Jahrgang. Die Häuserreihen zogen an ihnen vorbei, das Schwimmbad, die Rigal’sche Wiese, die Redoute, der Kurpark: altbekannte Plätze der Kindheit, jetzt entzaubert und profan. Alles dies wird bald verlassen sein, dachte Magnus und nahm einen weiteren Schluck vom abgestandenen Sekt.

Plötzlich schnitt ein Schmerz durch sein Ohr, riss in einen Ort hinein, den er nie zuvor gespürt hatte. Er schreckte zusammen und jaulte auf. Der Schmerz war grell, nein, scharf und schnell. Ein Pfeifen setzte ein, laut, aufdringlich. Hendrik war auch erschrocken, feuerte aber sofort eine ganze Salve in die Luft, um das Missgeschick zu vertuschen, um den Fehlschuss wieder seinem Willen unterzuordnen, in die Reihe des Vorhergesehenen. Er fragte schnell, ob alles in Ordnung sei, und Magnus nickte, die Hand aufs Ohr gepresst. «Ist gleich wieder vorbei», sagte er, «pass aber auf, verdammt, das war zu nah.»

Namhafte und bestimmt amerikanische Wissenschaftler haben sich über die Hirnhälften Gedanken gemacht. Die linke Hirnhälfte gilt ihnen, überspitzt gesagt, als naive Buchhalterin; die rechte als fiebrige Verschwörungstheoretikerin. Links: werden einfache Regeln und Strukturen prozessiert, Unregelmäßigkeiten als Zufall verbucht. Rechts: leckt die Zwillingsschwester Blut. Geht ab in Assoziationen und Träumen, arbeitet sprunghaft, spürt Pfade auf, die nicht offen zutage treten, findet Zusammenhänge von Einzeldingen, die beliebig nebeneinander liegen. Koinzidenz? Schicksal! Anders gesagt: Während das Ursache-Wirkung-Schema in der linken Buchhaltung des Hirnes heimisch ist und dort dafür Sorge trägt, die Welt aufs Anschaulichste zu simplifizieren, entspringen genialischere Theorien wie etwa das dritte Gesetz der Thermodynamik, der Da-Vinci-Code oder die Chaostheorie der tendenziell paranoiden rechten Hirnhälfte.

Nun sind die beiden Hirnhälften — seltsames Spiegelspiel des Lebens — bekanntlich für die jeweils entgegengesetzte Körperseite zuständig. Verschwörungstheoretiker drehen sich deshalb vorzugsweise um die linke Schulter, wenn sie von hinten angesprochen werden. Was nun aber, wenn ein hartnäckiger Tinnitus im linken Ohr die rechte, assoziationssüchtige Hirnhälfte jahrelang unter einen subliminalen Strom setzte? Würden namhafte und amerikanische Wissenschaftler in so einem Fall auftretende psychopathologische Störungen ursächlich auf diesen psychosomatischen Druck zurückführen? Wäre das der stete Tropfen, der den Verstand aushöhlt? Käme dann der eine zu laute Bass in jener verrauschten Clubnacht, poetisch gesprochen, einem pathologischen Urknall gleich? Als Schöpfungsmythos der zentrifugalen Psychose, die, als innere Strahlung schon Jahre unterwegs, irgendwann die äußeren Ränder des Nervensystems erreichte?

Mit der Folge: gravitative Instabilität, Kollaps der Materie, ergo des Bewusstseins. Nennen wir es Neuralgie.

Später am Tag wachte Magnus auf. Er lag im Gras. Er wusste nicht, wie spät es war, ob er wirklich geschlafen hatte, wo er überhaupt war. Dann dämmerte es ihm: die Party, seine Freundin! Die Party war heute Abend in Godesberg, in einer Proletendisco namens Waveline , und alle würden hingehen. Aber seine Freundin und er waren nach Bad Breisig gefahren. Nur warum? Und wo war sie jetzt? Wieso lag er allein am Rande eines Radwegs auf einer Wiese, in Sinzig anscheinend, wenn seine Freundin doch in Bad Breisig wohnte? Und doch war da irgendwo ein Sinn. Es hatte eine Verabredung gegeben. Er konnte sich momentan nur nicht erinnern. Er blickte umher. Fertighäuser standen in der prallen Sonne und strahlten radioaktiv. Alle Gärten und Häuser waren genau abgezirkelt und sauber und sahen aus wie zum schnellen Abriss bereit. Kein Vogel am Himmel. Kein Mensch in der Nähe, nur Flächen und Quadrate. Das Brummen im Kopf war vom Pfeifen im Ohr kaum zu unterscheiden. Wird schon wieder verfliegen, das Pfeifen, dachte er, wie nach den Clubbesuchen, wie nach Rockkonzerten, wie das Brummen auch, wie jeder Kater bisher. Er stand auf, strich sich die Grashalme von der Kleidung, suchte einen Kiosk, um Bier und Wasser zu kaufen.

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