Unten wurde jetzt der verglaste Aufzug bewundert, die transparente Flaschenzug-Konstruktion mit den freischwebenden Gewichten. Die Gäste saßen im Atrium, in Ledersitzen, die Beine übereinander geschlagen. Der Mann ließ ein paar physikalische Begriffe fallen und skizzierte Funktionsweise und Geschichte («die Ägypter, die Pyramiden!») des Flaschenzugs. Die Frau blickte ihn an, hob kokett eine Augenbraue. Eine Korkenzieherlocke, die ihr frech über die Stirn gefallen war, wurde nicht zurückgesteckt. Sie betrachtete seinen Lippenschwung, der sich im Reden ständig verschob. Er hatte Comiclippen mit einem Bartschatten darum, als hätte ein Zeichner sich soeben entschlossen, diesem Kerl etwas Verwegenes, Raubeiniges zu verleihen, indem er ihm Wangen, Kinn und Oberlippe fein schraffierte. Sie wusste, dass sie ihn halb schmachtend, halb sachlich anblickte, und sie wusste, dass er es wusste. Die sexuelle Spannung von einst diente ihnen inzwischen als einheitsstiftendes Tool, als jederzeit einsetzbares und vertrautes Instrument, das sie spielen, dessen Klang sie modulieren konnten, wie es ihnen passte. Es konnte beliebig herbeizitiert und künstlich reanimiert werden, um temporären Teamgeist zu schaffen, um aus zwei Monaden eine Diode zu zaubern, elektrisch aufgeladen und abgesichert gegen die böse Konkurrenz.
Lautlos glitt einer der beiden Aufzüge herab. Heraus trat ein Mann, oder eher: ein Bild von einem Mann, mit blondem, leicht gelocktem, schwer gelgehärtetem Seitenscheitel und stattlichem Kreuz, insgesamt eher von mittlerer, fast kleiner Statur, aber mit einem Blick begabt, der einen — und erst eine — spöttisch durchdrang, sekundiert von einem wissenden Lächeln, Wangengrübchen, Brad-Pitt-Augen, Prinz-Eisenherz-Kinn. Ein Macher, ein Tunichtgut, ein Duellant.
Die Frau vergaß sich kurz, vergaß Auftrag und Teamgeist. Er kam auf sie zu, fixierte sie, dann ihn, dann wieder sie. Sie schüttelten einander die Hände, offiziell, steifnackig wie Kommunalpolitiker, auch wenn ihre Blicke seltsam flackerten.
«Kühnemund», sagte das Bild von einem Mann, mit seinem Mund, dem geschwungenen, «Thorsten Kühnemund, guten Tag, ich freue mich.»
Jaja, dachte die Frau und starrte auf sein gespaltenes Kinn, mit mir nicht, du Arsch, mit mir nicht.
II. ALS SPACEMEN SICH DEN RAUM ERTROTZTEN
Ein Unternehmen, das wie ein Raumschiff strahlt, ist auch ein uraltes Insekt. Sein Panzer ist fest und trotzig, sein Blut kein Blut, sondern Öl: Öl aus den Adern der Erde, Quallenblut, Steinsaft, Fett der Saurier, menschenfern. Ein gepanzertes Tier hat teil am großen Puls der Welt, der durch die Pipelines strömt, in den Kabeln sirrt, über die Tabellen wabert, aus den Medien tickert — so wie alle ticken und weben und spannen und leben.
Das Tier sendet, frisst, empfängt, scheidet aus, ein Insekt aus lauter kleinen Insekten, ein Ameisenstaat, der tagaus, tagein seinen Hort befällt, emsig nagt und rechnet, die optimalen Strategien generiert für Schmierstoffverkauf, Shopumbau, Imagewertsteigerung, Kundenbindungsplan.
Ein Unternehmen, das ein Insekt ist, ist auch eine Staatsqualle: Bilanzen summen in den Gehörgängen ehrgeiziger Manager, geben den Takt auf den Fluren vor, das Schritttempo der Beine in Nadelstreifen (so leichtfüßig, der Teppich dämpft alles), ein Ticker in jedem Kopf.
Wenn man sich einem solchen Gebäude von außen nähert, suggeriert es Transparenz. Viel Glas und Licht lädt den Blick in die Tiefe ein. Ohne opak zu sein, bleibt das Gebäude aber dennoch undurchsichtig. Es versperrt die Sicht nicht, es zerstreut sie, und zwar mit Methode. Lichtreflexe auf Lichtreflexen ziehen den Blick in eine schwindelnde Tiefe, die gar nicht da, sondern Illusion ist, der Blick zersprengt sich an der Oberfläche, ohne es zu merken, und bevor das invertierte Bild, das auf die Retina trifft, vom Hirn überhaupt umgerechnet werden könnte, hat es sich tausendfach verflüchtigt in gefrorene Quecksilbersprengsel, umgemorpht zu Glitzereffekten, transzendiert in reine Oberfläche, an der alles und jeder abgleitet. Dahinter summt ein weggespiegelter Abgrund.
So wie die Welt der Wirtschaft die Idee von Vergangenheit leugnet, indem sie sie in Ergebnisse und Erfahrungswerte auflöst, Gedächtnis nur als Notat auf Monitoren und Papieren kennt und Erinnerungsreste in Zukunftskonzepte ummünzt, so lebte Thorsten Kühnemund im Hier und Jetzt, im Modus eines ständig sich erneuernden Präsens, das die Zukunft nur als Fluchtpunkt kannte. Diese Illusionslosigkeit, die der wahren Existenz des Menschen näher kommt, als diesem gemeinhin lieb ist, erfuhr er als zynisches Glück, als immerweißen Blankoscheck und Freischein, tun und machen und lassen zu können, was er wollte. Selbst dass die Zukunft im Unternehmen eine große, wenn nicht die größte Rolle spielte (denn alles Profitdenken richtet sich naturgemäß auf die Zukunft) — selbst diese doch seine Lebenswelt bestimmende, zutiefst kapitalistische Protension beeinflusste sein Denken nur sozusagen professionell. Im Büro wertete er Marktstatistiken, Verbraucheranalysen und AC-Nielsen-Daten aus, um neuen, kommenden Verkaufskonzepten den bestmöglichen Unterbau zu verschaffen, auf dass die Zukunft margenträchtig gedeihe. Im Privaten dagegen hangelte er sich von Augenblick zu Augenblick, wucherte im Jetzt, zwar liiert, zwar in einer typisch westberlinerischen Altbauwohnung voller Design und Raumgefühl angekommen und mit den nötigen Sicherheiten und Luxusgütern ausgestattet, aber dennoch immer auf dem Sprung, on the run , zutiefst unzuverlässig, ohne dass dies sich bisher je manifestiert hätte, innerlich unstet, unter der verkühlten Fassade heißnervös und grundsätzlich imstande, sein ganzes Leben von einem Moment auf den anderen zu verlassen, ein neues anzufangen oder gar alles, alle ihm möglichen Leben mit einem Strich zu beenden, einfach so, im Feuer. Insofern war er ein negativer Möglichkeitsmensch. Jedenfalls war dies sein Eindruck von sich selbst. Er hielt sich für einen Hedonisten, einen Augenblicksjongleur unter der Maske des erfolgreichen, verantwortlichen Managers, der nur angesichts der jederzeit möglichen Katastrophe so weiterleben konnte, wie er lebte.
Er trank einen Red Bull, spielte mit seinem Schlüsselanhänger und lauschte den Erörterungen der beiden Großhandelsvertreter. Es ging um neue mögliche Erweiterungen des Tiefkühlsortiments in den Shops, die Erfüllung sehr spezieller Kundenwünsche betreffend, gerade am Wochenende oder feiertags, tiefgefrorene Preiselbeeren etwa und handgesalzene Lachse. Thorsten fand sowohl die Sortimentserweiterungen als auch die Dame, die diese kühl und sachlich anpries, höchst interessant. Unten im Atrium hatte er sofort ein Zucken wahrgenommen, das seltsam unlokalisierbar geblieben war. Es war nicht recht in ihrem Gesicht gewesen, aber auch nicht in seinem: Es war eher zwischen ihnen gewesen, ein kurzer Energieschub, ein Lichtwechsel, wie wenn Wolken die Sonne umschatten und die Szene willkürlich abdimmen, und er hatte gesehen, dass auch sie es wahrnahm, er sah es an der Art, wie sie sich gespielt geschmeidig aus der schwarzen Ledercouch schraubte und in katzenhafter Gänze präsentierte. Und wieder, wie immer, hatte er nicht anders gekonnt, als diese Frau halbnackt und willig zu sehen; es war ein innerer Reflex, mit dem er leben musste, ein zwanghaftes Bild, das in Variationen angesichts jeder attraktiven Frau in ihm aufblitzte, ein Hurenbild mit aufgeknöpfter Bluse und hervorwippenden, weißen Brüsten, die ihm entgegenwuchsen, und mehreren lasziven Mündern, aus denen schnelle Zungen schossen, die volle Lippen leckten.
Denn Thorsten war im Laufe seines nun schon siebenunddreißigjährigen Lebens zu einer Art Sexmaniac geworden — manisch in der Tat und noch mehr im Geiste. Gemeinhin wird unserer Medienwelt nachgesagt, einer allumfassenden und tiefgehenden Sexualisierung anheimgefallen zu sein und diese zu progagieren: kein Werbebild, das nicht den perfekten Körper und seine allgegenwärtige Verfügbarkeit feierte; kein Slogan, der sich nicht einer obszönen Zweideutigkeit verdankte; keine Show, die nicht irgendwelche Geilheiten bediente, um die omnipotente Quote zu befriedigen. Entfesselter Sexus auf allen Kanälen, vielfach kodiert, aber immer offensichtlich. Ähnliches war Thorstens Bewusstsein passiert: Es war durchsexualisiert worden, und zwar komplett.
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