«Und ihr», sagte er, als die Bedienung wieder weg war, «ihr wart nur im Bett? Fuck Buddys? Oder was?» Er musste ein Gähnen unterdrücken. Der Wodka-Bull schmeckte säuerlich.
«Experimentaltheater», sagte Edwin. «Ins Experimentaltheater bin ich gegangen, drei-, viermal. Die studiert ja Theaterwissenschaften.»
«Ouh», hauchte Thorsten ironisch, steckte sich eine Zigarette an und zog gierig an ihr.
«Ja. Dafür gab’s dann aber auch Experimentaltheater im Bett», grunzte Edwin, «aber hallo! Akrobatik!», schrie er und wischte sich mit dem Ärmel über die glänzende Stirn.
«Ouh», sagte Thorsten wieder, «hört sich nicht gut an, hört sich gar nicht gut an.»
«Doch, war aber gut, war aber sehr gut», sagte Edwin, «das ist es ja, das ist ja das Problem. Sie ist ein weiblicher Fakir, eine Schlangenfrau, ein Wunderwerk der Elastik!»
«Ich verstehe», zwinkerte Thorsten dümmlich und winkte die Bedienung erneut herbei, um Edwin davon abzuhalten, weiter ins Detail zu gehen. Er konnte seinen Saufkumpan gerade schlecht ertragen, er konnte sich nicht ertragen.
Die Bedienung schlurfte heran, misstrauisch.
Thorsten sagte: «Mein Kollege hier und ich, wir möchten heute ans Limit gehen, werte Dame. Haben Sie eine Empfehlung? Einen Drink womöglich, der uns ausknockt mit der Geraden? Den Muhammad Ali unter den Drinks, sozusagen? Wir spüren nämlich nichts mehr, werte Dame», sagte er. «Wir sind stumpf. Wir brauchen’s mit dem Vorschlaghammer. Sonst sind wir tot.»
«Spinner», sagte die Bedienung und schmunzelte; in ihren Augen funkelte eine Discokugel.
Thorsten sagte: «Ich kann erkennen, dass diese Augen auch schon bessere Zeiten gesehen haben. Das Feuer in ihnen, wie lang ist es erloschen? Komm näher, Hase. Glüht da noch was? Ich sehe nur Asche. Willst du dich nicht mit uns feuern, feiern, Ferien nehmen von dir selbst? Nein? Wie heißt du, Hase? Willst du auch was trinken? Du bist eingeladen. Heute wird attackiert. Bis ans Limit gehen wir heute. Wir fahren am Anschlag, roter Bereich. Was geht noch heute Abend? Geht heute Abend noch was? Ich zahle!»
«Zwei Sexkiller also», sagte die Bedienung müde und drehte sich wieder um.
«Sexkiller? Sind damit jetzt wir gemeint, oder sind das die Drinks?» prustete Edwin.
«Beides wahrscheinlich», sagte Thorsten, «wahrscheinlich beides.» Er schaute sich um. Die Leute standen an der Bar wie von einem Bildhauer verworfene Skulpturen und hatten seltsame Frisuren, denen man nicht ansehen konnte, ob das Verschnittene daran gewollt war oder nicht. Thorsten jedenfalls konnte es nicht, oder konnte es nicht glauben, dass diese Haare Ergebnisse eines absichtsvollen Willens darstellen sollten. Er selbst hatte einen konservativen Scheitel, der fünzig Euro kostete, beim Lehrling eines Prominentenfriseurs. Die Bedienung kam zurück mit den Drinks, er nippte daran: ultramarin und bitter.
«Das ist ja Schlumpfblut!», lachte er. Dünner Nebel wallte neben ihm auf. Er reichte der Bedienung einen Fünfziger.
«Ich tauche mal unter», er stupste Edwin an, der inzwischen mit einer leicht verfetteten Naturschönheit redete. Eine Vocoderstimme sang eine alte Weise, ein verlorenes Spotlight huschte über eine Gruppe von Herumstehenden. Er kam neben einem Liebespaar (sie Camouflage, er versteckt hinter einer dieser Pornobrillen, wie sie damals gerade wieder aus der Mode kamen) zum Stehen. Sie diskutierten das Gefühl, das man beim Küssen gepiercter Zungen hat.
«Wie eine fleischige Pepsidose vielleicht?», schlug das Mädchen vor.
Die Pornobrille lachte und warf als Zeichen des Amüsements den Oberkörper nach vorne; unter dem engen T-Shirt trat die Wirbelsäule hervor wie der Kamm einer Echse.
Thorsten tauchte wieder zurück, von der einen Masse in die andere, vorbei an einer DJane mit Nasenring und porzellanenem Gesicht, die zu ihrem punktgenauen House seltsame, unlesbare Fingerzeichen in den Raum schickte. Er schwappte weiter an den Rand der Tanzmenge und rammte dabei aus Versehen einem hübschen Mädchen mit Cosma-Shiva-Lippen den Ellbogen in die Seite. Es funkelte ihn leicht wütend an. Bald schon war der in den Beinmuskeln hochruckende Mitwipprhythmus so stark und zwanghaft, dass Thorsten nur noch tanzen wollte. Er trat wie absichtslos auf die Tanzfläche, um sich die Starre aus dem Leib zu schütteln, den Lichtpunkten der Discokugel hinterher.
Eine fahrlässige Berührung an der falschen Stelle oder zur falschen Zeit kann einen Menschen ruinieren. Sie kann seinen Körper, der vielleicht äußerlich unversehrt bleibt, innerlich verkrüppeln. Nicht selten ist auch der umgekehrte Fall, dass ein Körper innerlich intakt bleibt, aber von außen, von der Stelle her, wo ich ihn fälschlicherweise berührt habe mit meinen dummen, feuchten Fingern, langsam und fast unbemerkt aufgefressen wird, und nur ein leises Zischen ist zu hören in der Nähe des Brandherds, und es wird als Einziges von diesem Körper bleiben. Wörter können Krebsgeschwüre ins Hirn setzen, die schon nach Sekunden mächtige Metastasen in alle Glieder pumpen. Zumeist ist es noch komplizierter, denn Psyche und Physis weben viel ärger und komplexer ineinander, als unsere geistigen Kapazitäten es jemals ausrechnen oder aushalten könnten. Niemals können die Ursachen einer Krankheit klar und distinkt aus dem Körper oder aus dem Geist geschnitten und wie sichergestellte Geschwüre ins Licht gehalten werden, auch wenn man nach gängiger Praxis genauso verfährt. Wir haben, auf unserer ewigen Jagd nach Gründen, keinen wirklichen Zugang zu uns, und das Licht, unter dem wir stehen, heißt Dämmerung. Die konsequente Frage wäre: Töte ich Leben oder erhalte ich es? Und diese Frage müsste noch die geringsten meiner Handlungen begleiten. Aber sie ist vielleicht nicht beantwortbar, denn wenn ich meine Geliebte umarme, ist meine Hand womöglich das Messer, das an ihrer Haut entlangschürft — und es könnte sein, dass meine Zunge beim Kuss in ihren Hals schnellt, ihr den Kehlkopf eindrückt, die Luftröhre verstopft, und ich wüsste nicht einmal, dass meine Geliebte gerade anfängt zu sterben, vor meinen Augen oder in meinen Armen, und niemals käme ich oder irgendjemand auf die Idee, dass ich gerade durch meine Umarmung zum Mörder oder Würgeengel geworden wäre.
Thorsten kam sich immer so vor, als würde er als jemand anderes tanzen, nicht als ein bestimmter anderer Mensch, sondern als liquides Patchwork tausend abgehackter und zersprengter Körperreste aus all den Videoclips, die er in seinem Leben gesehen hatte. Teils bewusst, teils unbewusst imitierte er Gesten, Schritte und Sprünge aus den vorgefertigten Starschnittchoreographien. Bierdunst stand in der Luft, oder stank sein befleckter Ärmel? Er sprang hoch. Das Aroma eingewachsten Holzes mischte sich hinzu, von Schichten süßlichen Parfüms und herben Rasierwassers durchwirkt, seine Nase war sensibel wie nie, trotz aller Betrunkenheit. Er fand sich umfangen von einer Glocke industrieller Ausdünstungen und künstlicher Lockstoffe, in der säuerliche Inseln frischen Menstruationsgeruchs schwammen.
Ihm kam alles sehr biologisch vor plötzlich. Er sah aufschmatzende Zellwände, chemisch wabernde Prozesse, glucksende Osmosen und hatte die fixe Idee, den Schoß einer neben ihm tanzenden Brünetten wittern zu können; der Geruch ihrer feuchten Pflaume stieg ihm in die Nase, und noch die zaghafteste ihrer Bewegungen knirschte in seinen Ohren. Er sah Männchen und Weibchen überall, ihr analysierbares Verhalten, Ursache und Wirkung, Puppe und Schmetterling, den Tanz der Hormone — und sich selbst mittendrin, allen Attacken ausgesetzt und selber ein Bewohner dieses Zoos. Selber geil und gehemmt, auf der Suche nach Fortpflanzung und Verfeinerung, gezeugt von Natur, gezeichnet von Kultur, in diesem Kreislauf kurzgeschlossen: Selbstporträt der Autopoiesis.
Er sah sich weiter um, scheinbar im Rhythmus versunken. Auf der Tanzfläche wurde geschüttelt, was da war: Fäuste, Beine, Brüste, Hirne, Hintern, Flaschen. Ein Typ machte genau vor einer Box Headbanging. Ein Rucksackmädchen hüpfte nervös auf der Stelle und wischte sich unaufhörlich eine Strähne aus der Stirn. Es war überfüllt in diesem Raum, das Licht abgedunkelt, ein einzelner Deckenstrahler ließ in der Mitte eine schmale, grelle Lichtsäule aus dem Boden wachsen. Im Hintergrund huschte eine Figur vorbei, Thorsten meinte, Taue in ihr zu erkennen. Er wunderte sich.
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