«Hier», sagte Mode, zwinkerte wie ein müder Boxerhund und drückte ihm eine Red-Bull-Dose in die Hand. «Mögen Sie doch, oder? Das Taurin wirkt auch als Anti-Kater-Mittel.»
«Ja», sagte Thorsten, «ich weiß. Das Taurin stimuliert Stoffwechsel und Kreislauf und fördert den Abbau von schädlichen Substanzen.»
«Und von Giften», sagte Mode.
«Und von Giften», sagte Thorsten.
«Und Alkohol ist ein Gift», sagte Mode.
«Medizinisch betrachtet», sagte Thorsten.
«Medizinisch betrachtet», sagte Mode, «ja.»
«Danke», sagte Thorsten.
«Gerne», sagte Mode.
Planogramm, Planogramm, Planogramm. Thorsten saß im Büro und musste endlich arbeiten. Er war auf der Flucht vor der betrieblichen Alkoholpolizei und stand vor dem Gesetz der Effektivität. Er hatte den Drang, etwas zu leisten, den skeptischen Blicken Gegenbeweise zu liefern, Erfolgsmeldungen zu generieren, revolutionäre Konzepte, und zwar sofort.
Er starrte auf den Monitor.
Ein Planogramm für den Bereich 34, «Mitteldeutschland» hieß das, Thüringen, regionale Relevanz, das Unternehmen war mit sechzehn Stationen dort vertreten, dazu dreimal weiße Farbe (das sind unternehmenseigene, jedoch markenlose, «anonyme» Tankstellen).
Er nahm die AC-Nielsen-Daten hinzu, die Kassenergebnisse der vier Teststationen in Berlin, Leipzig, Rostock und Dresden, verglich und rechnete und rechnete und schätzte ab. Er studierte die neuesten Trendbarometer der Marktforschungsinstitute und kam zu dem Schluss, dass die Apfelschorle auf dem Kamm der wachsenden Wellness-Welle im nächsten Sommer ganz oben mitschwimmen würde. Zurück zur Natur! Zum Wohle des Körpers. Einweg- und PET-Gebinde waren natürlich an prominenter Stelle und dreifach zu platzieren, die Margen sind größer, und Mehrweg ist Sache des Getränkehandels und nicht Sache der auf Spontankonsum abzielenden Convenience-Stores. Was war mit den Bittergetränken? Haben eine sehr spezialisierte, kleine Zielgruppe, aber Genießer, fast esoterisch, doch nicht zu verachten, nicht zu vernachlässigen, eine Position Bittergetränke sollte auch in kleinformatigen Kühlregalen vorhanden sein, denn Spezialisten neigen zum Bündelkauf und nehmen womöglich noch zwei Schachteln Zigarillos mit (neuer Presenter gleich im Kassenbereich!), oder vielleicht eine Tomaten-Mozzarella-Ciabatta im Backshop, oder gar eine Flasche Rioja gefällig? Die Klassiker Fanta, Coca-Cola, Sprite in allen Größen und Gebinden mittig. Wasser! ein ganz besonderer Saft, das wahre Ding, immer mehr im Kommen, siehe Wellness, siehe Studenten und urbanes Gesundheitsbewusstsein, die Zahlen sprechen für sich, und auch der Wasserverschnitt Bonaqua, sogenanntes Tafelwasser, läuft inzwischen gut. En vogue: stille Wasser, Volvic, Vittel, dazu die milden Wasser, die stummen Quellen.
Seine Stirn glühte. Der Warhol tanzte. Er rechnete weiter.
Im Power Point setzten sich die ersten präsentablen Ergebnisse zusammen. Thorsten geriet ins Schwärmen und trank noch einen Nescafé Quick.
Vielleicht einen Schuss Jägermeister hinein? In Gedanken haute er sich auf die Finger, seine realen Finger aber zitterten merklich. Das Denken wollte abschweifen, das Telefon klingelte, er hob nicht ab. Er starrte auf die Flaschenikonen, die er liebte. Er wusste, dass das Design der klassischen Colaflasche aus den dreißiger Jahren den Körperformen einer Frau nachempfunden worden war. Er starrte auf die Flaschenformen, stellte sich das Frauenbild in den Köpfen der damaligen Designer vor und wurde seltsam geil, auf eine aseptische, industrielle Weise, wie er sie schon kannte, wie sie ihn oft beim Shoppen in sterilen, amerikanisch hellen Supermärkten überkam, oder beim Anblick schweren, blitzblanken Industriegestells, oder beim Eintauchen in einen lagunenblauen, jungfräulichglatten Swimmingpool.
Thorsten driftete ab, er sah jetzt in allen Flaschen weibliche Silhouetten und fragte sich: Wie wäre es denn eigentlich mit einem Planogramm der Frauen? Große Gebinde, kleine Gebinde? Schlanke Dose, bauchige Flasche, Tetrapak? Premixed oder Flavoured? Einweg oder Mehrweg?
Er prustete los, so lustig fand er sich und diesen Einfall, sah schon Frauen aller Größen und Hautfarben schön kategorial aufgereiht in frischhaltenden Kühlregalen, Hand in Hand, luftdicht verpackt und regungslos, dann schluckte er seinen Lachanfall gewaltsam herunter und vergewisserte sich, dass niemand außer ihm im Zimmer war.
Ihm fiel ein, dass ein Schulkamerad einmal folgenden Witz gemacht hatte: «Wenn man mal Thorstens Kopf auffräst, ist da kein Hirn drin, sondern eine gigantische Eichel.»
Eine E-Mail flatterte in die Inbox, begleitet von einem hellen Ambient Sound.
lieber herr kühnemund/anbei der text zur abstimmung/ich hoffe, sie sind zufrieden?/korrekturen und verbesserungen bitte möglichst bald,/da redaktionsschluss schon in vier tagen./vielen dank!/best/taue/ps.: ich bräuchte noch die cd mit den auswertungen der teststationen, umsatzsteigerung seit optimierung, etc. pp. — könnten sie die mir freundlicherweise zukommen lassen? mit den vorher-nachher-fotos? danke!/pps.: schöne grüße von meiner tante!
Thorstens Laune fiel auf einen Tiefpunkt. Welche Tante bitte? Was sollte das? Dieser Taue ging ihm auf die Nerven. Thorstens Nase begann sofort wieder zu jucken. Auch der lockerflockige Ton, mit dem der Typ ihn quasi auf Augenhöhe, in Kleinschrift anredete, schmeckte ihm nicht, « best »! Es passte so überhaupt nicht zu dem verklemmten, arroganten Menschen, der ihn bis aufs Blut gereizt hatte, durch Sitzen, Schreiben, Surren, Nichtstun, durch die Art und Weise, wie er gesessen, geschrieben, gesurrt, nichts getan hatte: als schüchterner Feind, als verschreckter Rebell, im Ironiepanzer. Das war alles nicht miteinander in Einklang zu bringen. Allein die Tatsache, dass seine Gedanken sich genervt mit diesem Außenseiter befassten, ließ ihn noch einmal niesen. Er schnäuzte sich, sammelte schnell ( welche Tante? ) seine Notizen zum Kaffeekonzept-Meeting zusammen, sprühte die Mundhöhle mit Odol aus und machte sich zum Mittagessen mit den Shop-Beratern auf.
DRITTER TEIL JOHN CASSAVETES
It takes hold of my tongue
In situations like these
Depeche Mode
Komm jetzt, Schlaf. Nimm mich mit, ich bin unendlich müde. Erklär mir, was fehlt, wickle mich in dein Schwarzes. Sie hatte gehört, wie Thorsten in die Wohnung gepoltert und durch den Flur getrampelt war. Sie hatte es nicht hören wollen. Jetzt fühlte sie den Luftzug seines Atems, roch das Vergorene darin. Sie musste zweimal unwillkürlich schniefen, ließ aber dann bewusst einen Seufzer schlafenden Wohlbefindens hören, damit er nicht etwa dachte, sie würde wach sein, gar weinen.
Sein Atem strich über ihr Gesicht. Wenn sie ihn jetzt zu sich herunterziehen und umarmen würde, ganz nah, dachte sie, er seine Hand vielleicht auf ihre Brust legte, dann würde es sein wie immer. Er würde zu etwas sehr Kleinem, Altem, das sie sorgsam in ihren Armen hielte, und sie würden ihren Atem aufeinander abstimmen können.
Aber sie wollte nicht, und er wollte es nicht, und sie wollte ihm auch keine Szene machen, wo warst du so lange, wieso trinkst du so viel , sie wollte nicht wissen, mit welchen anderen Frauen er zu tun gehabt, in welchen Clubs er sich wie peinlich aufgeführt hatte, sie kannte das alles. Sie wollte schlafen, einen langen, tiefen, samtenen Schlaf, nicht träumen, bloß nicht träumen, einfach liegen und schlafen und weg sein, jetzt, wo er da war.
Am nächsten Tag saß Laura im Morgenmantel vor ihrem Laptop, seit Stunden schon. Sie tippte und löschte das Getippte und las dann das gestern Getippte und löschte es wieder. Thorsten war schon längst im Büro, gedopt mit Aspirin und Red Bull und Kaffee, er hatte vielleicht drei Stunden geschlafen und war aufgeschreckt, bevor der Wecker ging. Sie hatte es mitbekommen. Ihr Schlaf war dünn.
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