«Entfremdung», dachte sie. Das gibt es doch gar nicht. Das darf es doch nicht geben, so ein Wort. Eine marxistische Erfindung ist das, ein hegelianisches Konstrukt, semantischer Müll der Frühmoderne, seit Generationen weitergereicht. Sie starrte in den graublauen Schein. Das ganze Zimmer war in dieses seichte Laptoplicht getaucht.
Ein Licht wie von den Heiligenscheinen alter polnischer Ikonen, dachte Laura, oder wie in den herb-romantischen Horizonten Caspar David Friedrichs. Sie starrte auf die Sätze, die in ihrem lügnerischen Times-New-Roman-Font aussahen wie bereits gedruckt, wie längst veröffentlicht. Sätze, die sie wohl selbst geschrieben hatte, lange her, Sätze einer Seminararbeit mit dem Titel «Rechtswirkungen von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts». Siebzehn Punkte hatte sie dafür bekommen, vor einem Jahr; bei Juristen sind solche Noten eine Sensation. Ihr Professor, ein ätherischer, weißhaariger Dandy, der es, obwohl homosexuell, mochte, sich mit hübschen Assistentinnen zu umgeben, hatte vor zwei Wochen gefordert (und er hatte dabei einen Apfel am Revers geputzt, mit seinen langen, feingliedrigen Fingern, die sich um die glänzende Frucht schlossen), sie solle die alte Seminararbeit noch einmal geringfügig überarbeiten, um das neue, solchermaßen zum mündlichen Vortrag aufbereitete Paper bei der kommenden Freiburger Juristentagung «Wirkungen von Recht» vorzustellen. Sie solle die Sätze straffen, die Argumente schärfer konturieren, die Transparenz der Methodik offenlegen. Sie wisse ja, wie das gehe, er mache sich da keine Sorgen, er kenne doch seine Laura, die zukünftige Assistentin.
Der Morgenmantel lastete auf ihren Schultern, warm und flauschig, schwer und feucht wie ein soeben erlegtes Tier. Sie starrte auf die Sätze, messerscharfe Formulierungen, die sich zu wasserdichten Ableitungen verhakten. Das war alles sehr logisch und stringent. Aber sie verstand es nicht mehr. Begriffe (Evaluation, Wertewirkung, Sanktionserwartung, Zielkonformität) oder Argumentationsschritte (Prämisse, Subsumtion, Deduktion, Konklusion) waren ihr nicht mehr zugänglich. Nur die Oberfläche, die lexikalische Bedeutung der Worte war für sie erreichbar, ihre Übersetzung in Funktionen, ihr wirklicher Gebrauch und Nutzen in actu communicationis dagegen waren verschütt gegangen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, außer dem einen, furchtbaren, der ständig wiederkehrte: dem Gedanken an drohende Nachfragen aus dem kritischen Auditorium, wenn sie nochmals äh erläutern könnten also mich würde in diesem Kontext noch interessieren ob und äh warum in welcher Form worin und wer , und ihr wurde schwindlig und heiß zugleich.
Sie schloss die Augen und hörte ihren Atem. Hörte ihn lauter als mit offenen Augen. Ein und aus ging die Luft, ein, und aus, durch ihre Lungen. Sie öffnete die Augen, und schloss sie wieder, und öffnete sie wieder, im Takt des Cursors, der sie blinkend verhöhnte.
Eine neue Krankheit kündigt sich an. Woher, warum, das weiß man nicht, man ist sich selbst nach wie vor die Fremdeste, nichts hilft. Die Erinnerung an den ersten Augenblick der Panik ist so schwierig. Laura versuchte sich zu konzentrieren, sich zu fassen, ihre Kräfte zu bündeln. Es gelang nicht, aus Angst, aus Angst vor der Wiederholung dieses Augenblicks. Die Wiederholung würde ihr endgültige Gewissheit über den bisher nur als Befürchtung zugelassenen Gedanken geben, dass sie krank war, verheerend krank. Die Wahrscheinlichkeit, die bisher nur angedachte Möglichkeit war, würde sich sofort zur Gewissheit verfestigen, dachte sie, den Blick festgezurrt am Monitor.
Wobei Wahrscheinlichkeit ein zu schwaches Wort war: Der Verdacht hatte sich innerhalb der letzten Tage derart verhärtet, dass Laura die Krankheit bereits als Faktum angenommen hatte — jedoch nicht als Krankheit. Es gab Symptome, die Klischees waren, die Klischees gewesen und jetzt Symptome waren, und es gab Gedanken, die unentwegt in Richtung Krankheit dachten.
Sie hielt ihren Atem an und horchte in die Stille. Spürte den Druck, das Gewicht der Luft in ihren Lungen. Hörte, als Erinnerung, Kontrast und ebenfalls Hohn, Thorstens Atem. Wie anders er atmete, nachts, betrunken. Nicht so flach und rastlos, so oberflächlich wie sie, sondern regelmäßig ein und aus, schwer, aber unbewusst, zugedröhnt, aber frei. Wie war das, Frauen atmen mehr mit der Brust, Männer mit dem Zwerchfell? Alles in der Vogue Gelesene bisher Quatsch , dachte Laura, stand auf und ging in Richtung Toilette.
Ich atme und denke, dass ich atme, ich versuche mich nicht auf meinen Atem zu konzentrieren, ihn nicht zu bemerken, nicht an ihn zu denken, was natürlich das genaue Gegenteil bewirkt, totale Gefangennahme im Atem. Denke ich, ich darf nicht an meinen Atem denken, denke ich sofort nur noch an meinen Atem, ausschließlich, unausweichlich. Das Gehirn hat seine Eigendynamik, es stürzt von alleine los, bevor ich irgendwo Halt finden könnte. Sofort bin ich mir meiner selbst als Organismus bewusst. Damit fängt es doch an: mit diesem Bewusstsein meiner selbst als fragiler Organismus, innerlich aufgewühlt, zutiefst sterblich, umspannt nur von sehr dünner Haut, nein, es war kein Bewusstsein, eher nervöse Evidenz, nein, Körperperzept, nein, nicht.
Lauras Herz raste. Sie war auf dem Weg zur Toilette stehen geblieben, lehnte an der Wand, neben einem frühen Martin Eder.
«Jetzt bewusst langsam atmen», sagte sie laut, «nicht zulassen, dass es passiert. Es gibt kein Problem, ich bin allein, hier ist kein Zwang, nur atmen muss ich, ein-atmen, aus-atmen, ein und aus, im Rhythmus, langsam, die Atemfunktion stabil halten, bitte. Der Atem funktioniert, ich kann mich auf ihn verlassen. Er hat eine Funktion, die er erfüllt, eine Aufgabe, der er Zug um Zug verlässlich nachkommt. Es atmet von selbst. Es atmet in mir. Von selbst.»
Sie sah hinaus auf die Straße. Über einem Dachgiebel dämmerte das letzte Licht weg. Kaputte Aura, dachte sie. Oder — Aureole? Georg-Trakl-Dämmerung. Eine Streife fuhr langsam vorbei. Es hatte Blitzeis gegeben. Kältegebeugt trippelten die Passanten vorüber, gingen wie durch vermintes Gelände, um nicht zu fallen. Laura nickte. Ein stummer Schmerz glitt durch sie hindurch und weg. Sie schüttelte den Kopf und sagte leise zu sich: «Das gibt es nicht. Das darf es nicht geben.» Sie setzte sich wieder an den Computer. Der Cursor hieß sie zwinkernd willkommen.
Daneben strahlten die Sätze fein aufgereiht und säuberlich ihre Letterngestochenheit aus, hieb- und stichfest, im LCD mit Aktivmatrix, entspiegelt und augenschonend — aber Laura fühlte, dass es sie auseinanderreißen wollte, dass sie die Sätze selbst auseinanderreißen, zerfetzen, entkernen müsste, wenn sie nur den Mut hätte. Die Sätze standen da wie Stangen, wie Gitter ineinander verflochten, brillant vernetzt, solide verstrebt, die Fugen dicht. Ein schönes Argument. Ein makelloses Gefängnis.
Sie legte den Finger wieder auf den Cursor und drückte noch fester, noch entschiedener zu. Ihre Zähne knirschten. Die Flüssigkeit im Monitor schlug bunte flache Wellen wie ein stiller Alarm.
Der Japanischkurs in Bochum war die größte Niederlage in den letzten, an Niederlagen nicht eben armen Monaten gewesen. Japanisch hatte sie kaum, nur die Menschen um sie herum hassen gelernt: vorwitzige, selbstverliebte Bürgerskinder, die nichts konnten, als mit Scherzen wie mit Hochzeitsreis um sich zu werfen, behandschuht, spitzfingrig, prahlerisch. Während dieser Zeit hatten sich die neuen, unbekannten Anfälle vermehrt und verschlimmert. Sie wusste noch nicht, was sie davon halten, wie sie das nennen sollte, Klaustrophobie? Atempanik? Oder einfach — Angst?
In dem kleinen Herbergszimmer, das sie sich mit einer durchgeknallten Geschichtsstudentin geteilt hatte, war ihr das Mobiliar über allem Zeichenmemorieren und MTV-Flimmern mehr und mehr zu einer kalten, feindlichen Mondlandschaft geworden. Um irgendetwas Persönliches, Besitzergreifendes zu tun, hatte sie ihre Monatsblutung nicht aufgefangen und so, in einer betrunkenen Nacht, Laken und Matratze großflächig markiert. Das Personal hatte diskret darüber hinweggesehen und das Bettzeug hurtig gewechselt, als sei nichts geschehen. Laura hatte dann in der nächsten Nacht erneut geblutet, wider den blütenweißen Mief , wie sie dachte.
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