Sie kümmere sich drum, verspricht sie schüchtern und will gehen. Der Nachbar taumelt ihr hinterher und bemerkt, er wolle sie ja nicht bedrängen, aber es müsse schnell etwas geschehen, damit der Schaden nicht noch größer werde, schnell. An der Tür nickt sie ihm zu, und er nickt zurück. Sein schmieriges Grinsen lässt sie fast ausspucken.
Ihr Vater sieht inzwischen aus wie ein halber Zigeuner. Die Haut ist vom Nikotin noch lederner geworden, die Falten und Runzeln haben Inzucht getrieben, die Augen sind schon fast zugewachsen vom ständigen Blinzeln. Er seufzt und setzt sich auf einen der Kneipenstühle, die er seiner Tochter geschenkt hat, nickt, nimmt einen Schluck Bier, raucht und schnauft. Nach drei weiteren Schlucken geht er mit Werkzeugkasten, Bierflasche und Kippe im Mund in Richtung Bad und verschwindet dort für zehn Minuten. Er will ungestört sein, signalisiert die geschlossene Tür. Es klirrt und rumpelt.
Nach getaner Arbeit wird das zweite Bier schon schneller gekippt, und die Augen des Vaters öffnen sich etwas mehr. Die inzwischen vierte Zigarette glimmt verdrießlich im Aschenbecher. Denise kann nichts dagegen sagen, weil er ihr geholfen hat. Er hat die Sache in Ordnung gebracht, nur Haare im Abfluss, sagt er, um den Rest wird sich die Hausverwaltung kümmern müssen. Er schnauft heftig, fast hört man die Polypen, die ihm das Atmen erschweren.
Als sie das Schweigen bricht und ihn fragt, wie es ihm geht, winkt er ab und deutet auf sein Knie: kaputt. Die Flohmärkte müssen derzeit ohne ihn stattfinden. Er ist gelernter Klempner, hat den Beruf aber schon lange Zeit an den Nagel gehängt und hält sich seit gut zehn Jahren als Trödler über Wasser. In seiner Wohnung und den Kellerverschlägen, die er besetzt hält, stapeln sich die Kisten und Möbelstücke, Ramsch aus Wohnungsauflösungen, der zu Geld gemacht wird, wo es nur geht. Gerade aber geht es nicht. Seit drei Wochen geht es nicht. Das Knie rebelliert. Es will nicht mehr.
Denise ist sich nicht sicher, ob es inzwischen nicht eine Art fixe Idee ist, wenn sie die Blicke der Männer auf Seltsamkeiten und Unregelmäßigkeiten abscannt. Jetzt sogar den ihres Vaters. Sie ist alarmiert. Das kann nicht sein, und was nicht sein kann, sollte sie nicht belasten. Es ist absurd, ihrem Vater dieses Wissen zu unterstellen. Und doch tut sie es schon automatisch, sie blickt dem Gegenüber vordergründig in die Augen, um das Gespräch aufrechtzuerhalten, aber in Wahrheit sucht sie hinter der Oberfläche eine zweite Schicht, eine geheime, versaute, sündenkundige Ebene, die sich in kleinen Blinzeleien und durchdringenden Blicken verrät, Erinnerungsflashs, vielleicht an ihre gespielten Orgasmen vor der Kamera. Sie glaubt fest, dass ihr Vater nicht weiß, was sie dort im Internet treibt. Nein, ihr Vater hat gewiss keinen blassen Schimmer. Und doch kann sie all die Symptome, die sie sonst so sicher sein lassen, auch bei ihm finden, die Fahrigkeit, die plötzlich stechenden Blicke, die Geilheit, die Verachtung. Also muss sie verrückt sein, denkt sie, oder auf dem Weg dahin. Letztendlich aber kann sie nichts ausschließen, gar nichts, alles ist möglich, weil alles öffentlich ist, es liegt da wie ein zigmal abgelichteter Leichnam, und plötzlich fühlt sich Denise gefangen in dieser Küche, mit diesem Vater, dessen Geilheit der Grund für ihre Existenz ist und dessen Geilheit sie genau jetzt bedrängt. Sie schlägt hektisch vor, in die Kneipe nach unten zu gehen, mit dem Babyphon, denn sie wolle jetzt auch ein Bier, nach dem Stress mit der Dusche, aber es sei keines mehr da, hier im Kühlschrank. Der Vater schnauft und nickt. Seine Augen sind wieder zu Schlitzen verengt. Er drückt die Kippe aus. Die Lunge rasselt.
Malenka hat Schicht, die vollbusige, blondierte Polin, die hinter der Theke regiert wie eine Gouvernante: «Mensch, Denise, lange nicht mehr da gewesen, und jetzt sogar mit dem Herrn Papa.» Denise weiß, dass Malenka sie nicht leiden kann, aber es ist nicht von Bedeutung, und sie spielt einfach mit beim Austausch falscher Freundlichkeiten. Malenka deutet fragend auf den Zapfhahn, und Denise winkt ab und bestellt einen Rum-Cola, ihr Vater gleich einen doppelten Whiskey. Aus der Jukebox dröhnt der Rummeltechno, reiß die Hütte ab, reiß-die-Hütte-ab . Zwei verwegene Gestalten hängen am Tresen, ein Mann, eine Frau. Denise kennt sie beide aus versoffenen Nächten vor Monaten, aber nicht beim Namen. Die Namen werden hier vergessen beim Trinken, die Schicksale eher nicht. Der Mann, eine hagere Gestalt, dem die Tattoos bis über die Wangen gehen, hat Kehlkopfkrebs und nicht mehr lange zu leben. Die Frau, ein Zwerglein mit verhutzeltem Gesicht, beschwert sich oft über ihre Kinder, die sie nicht mehr anrufen, und nach genügend Bieren beginnt sie immer, still zu weinen, es sei denn, ihr angeblicher Vater ist da, ein kaum älterer Gnom mit langem weißem Bart, der zahnlos auf die Ausländer schimpft, wo er nur kann. Wenn er da ist, weint das Zwerglein nicht, sondern schmiegt sich fast schon zärtlich an ihn, soweit ihre groben Bewegungen noch Zärtlichkeit hinkriegen. An einem der Ecktische schmettert ein Taxifahrer seine BILD-Zeitung auf, als sei das von weltpolitischer Bedeutung. In einer Sitznische sitzt einsam der leicht spastisch gelähmte Mittfünfziger, den Denise einmal eher aus Spaß «Mörder» nannte, als er ihr zu lange und zu böse in die Augen blickte. «Das ist doch so lange her», sagte der dann leise, und Denise wurde es ganz anders. Sie ignoriert ihn vorsorglich. Hinten am Billardtisch stehen die notorischen Touristen oder Studenten, die sich neuerdings in dieser Kneipe einfinden, wahrscheinlich wegen des Lokalkolorits.
«Ich zahle», ruft Denisens Vater und knallt sein Portemonnaie auf die Theke, entreißt ihm zwei Euro und geht stolzen Schritts zur Jukebox, um sie zu füttern. Er hat einen beachtlichen Musikgeschmack und kann der prolligen, basslastigen Schlagerauswahl immer wieder nostalgische Perlen abringen, die Kinks, die Eurythmics, Nancy Sinatra. Malenka bongt ein, und in Nullkommanichts stehen die Drinks da. Denise und ihr Vater stoßen an und kippen los. Zeit der Erleichterung. Das Babyphon blinkt friedlich.
«Hier, dieser Finger ist genau wie bei deiner Mutter», sagt ihr Vater und hält den Ringfinger von Denise zwischen Daumen und Zeigefinger.
«Leicht krumm», sagt er, «und du gehst auch genauso wie sie. Und dann dein verdammter Starrsinn. Wäre deine Mutter nicht so starrsinnig gewesen, wir wären jetzt in Hannover und hätten ein besseres Leben. Aber wir hocken hier», er macht eine ausladende Geste, «und haben das, was wir haben.»
Denise muss grinsen, dabei hasst sie es doch, wenn er wieder von ihrer Mutter zu reden beginnt, und von den angeblichen Ähnlichkeiten. Aber es ist ihr auch egal inzwischen. Hauptsache, er spricht nicht von seiner neuen und wieder neuen Freundin. Immer gibt es eine neue Freundin, jedes halbe Jahr, und jedes Mal hat Denise den Eindruck, es ist genau dieselbe Person, auch wenn sich die Namen ändern, aber Namen sind Schall und Rauch, weiß sie, auch in diesem Etablissement, wer gestern Patrick hieß, heißt heute Ralf.
Neben Denise sitzt Wolle, der nicht Wolle genannt werden will, ein Taxifahrer, dem ebenfalls ein paar Zähne fehlen, mit schütterem Zopf und einer Leidenschaft für Kreuzworträtsel und Frühbiere. «Du hast das gesagt mit den Tieren, die im Meer leben und an Land gebären», behauptet Wolle, und Denise hat keine Ahnung, wovon er redet. «Doch, doch, du warst das, mit der Schildkröte, mit den Robben, und jetzt sitz ich vor ein paar Tagen am Neptunbrunnen, da wo der nackte Irre erschossen wurde, und schaue mir die Tiere an, die den Neptun von außen bespritzen, und das sind alles Tiere, die im Wasser leben und an Land gebären. Da habe ich gestaunt und an dich gedacht», sagt Wolle und blinzelt etwas tumb, «aber diese einen, wie heißen die denn, diese komischen, die ich unheimlich schön finde, Leguane, oder wie? Das sind so eine Art Echsen.» Denise weiß nichts zu sagen, sagt nur «ja, das sind Leguane, glaube ich», und Malenka schreit «Gunnar, auch noch eins?», und Wolle wendet sich wieder seinem Kreuzworträtsel zu.
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