«Zickenzone» steht auf dem Fußabtreter, und Anton will angesichts dieses faden Witzes sofort wieder Reißaus nehmen. Aber da steht sie schon im Türrahmen, klatscht in die Hände und freut sich wie ein Kind über den seltenen Besuch.
«Anton», ruft seine Mutter, «was für eine Überraschung! Komm herein, was willst du essen!»
Die Wohnung, die einst Krebs hatte, sieht jetzt aus wie in Agonie erstarrt. Staub hat sich auf die Massen an Kränzen, Plastikblumen und Kerzen gelegt, ein paar verglaste Bilder haben Sprünge. Es wird nichts mehr repariert. Antons Mutter eilt im Trainingsanzug zur Küche und will ihm sofort ein Plastiktütchen Orangennektar anbieten — oder lieber ein Bier? Anton winkt ab und setzt sich an den zerkratzten Lacktisch.
«Was möchtest du», fragt die Mutter, «Dilleier, Hühnerfrikassee, Schnitzel?»
«Ich habe schon gegessen», seufzt Anton und verflucht die Entscheidung, hierhergekommen zu sein.
«Du musst etwas essen», beharrt sie, «ich habe alles eingefroren, das dauert fünfzehn Minuten, dann ist es fertig.»
Anton weiß, dass sie nicht aufhören wird, ihn damit zu nerven, also gibt er schnell nach und bestellt Dilleier. Die gibt es nirgendwo anders, kommt ihm vor, und wenn, dann heißen sie Senfeier und schmecken wässrig oder versalzen. Mutters Küche also wieder, denkt er und schmunzelt, ohne dass sein Gesicht sich regt.
Die Elektroschocks haben ihren Tribut gefordert. Als letztes Mittel gegen die Depression kamen sie zum Einsatz, da keine Chemikalien mehr helfen wollten, und haben den Geist von Antons Mutter gleichzeitig geheilt und zerstört. Geheilt von den Depressionen, ja, aber zu welchem Preis: Die Denk- und Redestrukturen wurden erst aufgeweicht und dann angeätzt, und was vorher als leichte Zerstreutheit und liebenswerte Einfachheit angesehen werden konnte, ist jetzt bloße Regression ins Infantile und Formlose. Die Rede kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, vom Hundertsten ins Tausendste und gruppiert sich nur unzusammenhängend um dieses trotz allem so starke Ich, das sich renitent und querulatorisch durch seine schlichte Welt bewegt. Und das mit Anfang sechzig. Aber es geht ihr verhältnismäßig gut, und Anton hält es hierbei so wie mit den Gläubigen: Er glaubt zwar an keinen Gott, aber wem es etwas bringt, bitte. Werdet glücklich mit eurem Kinderglauben. Auch du, Erzeugerin, auch du. Denn gesegnet sind die Naiven, und die Versengten, sie werden nicht mehr brennen müssen.
Aufgescheucht hetzt Antons Mutter vom Herd ins Bad, um sich die Haare zu richten, stolpert dann zurück zu Mikrowelle und Ofen, während sie Anton erzählt, was Frau Scheffler und Frau Obderbeck in der Firma wieder gegen sie eingefädelt haben, welche Kleidungsstücke gerade bei Aldi im Angebot sind, und wie unerträglich sie die eine Talk-Moderatorin findet, deren Name ihr gerade nicht einfällt, die Frau von dem einen Schauspieler mit den grau melierten Haaren. Der Fernseher quatscht von der anderen Seite auf Anton ein, er stellt ihn leiser.
«Mach ruhig aus», sagt sie und «gut siehst du aus, woher hast du denn das Jackett?»
«Das ist ein Anzug», sagt Anton, «den habe ich mir gekauft, aber billig, bei Humana.»
Sie strahlt. Sie würde ihm jetzt gerne einen Kuss geben, das weiß er, und er weiß, dass sie weiß, dass er es nicht zulassen kann, aus Abscheu, Distanz, Überdruss.
«Es geht dir besser, oder?», fragt sie, und bevor er antworten kann, sagt sie, dass sie es wusste, nach jedem Tal kommt eine Höhe, auch bei ihr sei das so gewesen. Dann geht es wieder um Frau Obderbeck und Frau Scheffler, und überhaupt, auch um ihre Vorgesetzte Frau Mollenhauer, aber sie lasse sich nicht mehr piesacken, die Zeiten seien vorbei. Gut sehe er aus, ruft sie ihm nochmals über die Schulter zu. Schließlich stellt sie ihm die Dilleier hin.
«Nicht so gut gelungen sind mir die», sagt sie, «aber fürs Erste wird’s reichen.»
Anton lauert. Irgendwann muss die Rede aufs Geld kommen. Aber wann? Bald lassen sie sich vom Abendprogramm bestrahlen. Anton kennt das seit Jahren und lässt es über sich ergehen. Er sieht, wie seine Mutter es bei keinem Programm mehr als fünf Minuten aushält und ständig weiterzappt, nah am Leben sein will, wie es die Boulevardmagazine ihr suggerieren. Sie bleibt bei Talkshows hängen, bei den Realdokus, die sie für voll nimmt, bei den Psychodramen, die sie mit dem eigenen Schicksal vergleicht, aber nur kurz, nur im Vorübergehen. So zappt sie seit Jahrzehnten. Anton wartet und wartet und wagt es noch immer nicht, die dreitausend Euro anzusprechen. Ob er es überhaupt versuchen soll? Sie hat nicht viel Geld, vielleicht könnte sie ihm gar nicht aushelfen, und er würde nur die Hysterie wecken, die ihr immer noch unter der Haut kribbelt, jede Sekunde. Besser, er lässt es. Er löffelt einen Pudding, fühlt sich in seine Kindheit zurückversetzt und schweigt folgerichtig.
Sein altes Zimmer dient inzwischen als Abstellkammer für Leitzordner, Ramsch und überflüssige Kleidung in Massen. Hier ist nichts von dem geschehen, was eine normale Jugend ausgemacht hätte. Kein Biertrinken mit Jungs, kein Rummachen mit Mädels, keine Andeutung auch nur irgendeines Exzesses. Alles ausgelagert und weggescheucht von einer Hysterie, die immer das Beste wollte und nur das Schlimmste erreichte. Anton legt sich auf die zu weiche Matratze, die nach Staub und Parfüm riecht, und versucht zu schlafen. Es gelingt, aber er schläft miserabel, mit eingedrehtem Arm, in klischierter Embryonalstellung und permanent schwitzend.
*
Etwas kitzelt, erst in der Nase, dann um den Mund. Ein zotteliges Dings, eine Federboa, ein Monster? Denise erschrickt, reißt die klebrigen Augen auf. Linda liegt neben ihr und spielt mit den Haaren ihrer Mutter, steckt sie ihr in Nase und Mund und kichert. Denise fährt hoch, ihr fällt die lange Nacht ein, sie sucht ihr Handy, die einzige Uhr in der Nähe, und atmet auf, als sie sieht, dass noch Zeit ist, wenig zwar, aber Zeit. Sie gibt Linda einen Kuss und fragt sie, ob sie noch kurz in ihr Zimmer gehen kann. Linda bejaht mit der Bedingung, dass sie Schokostreusel aufs Brot bekommt und keinen Honig. Denise gibt nach, muss sogar lächeln und bemerkt beim Aufstehen ihren stechenden Kopfschmerz.
Der Kopfschmerz begleitet sie bis in den Supermarkt, wo sie das Kühlregal mit Wurstpackungen bestücken muss, bevor gegen neun der erste Morgenschwall an Kunden kommt. Es riecht nach Putzmittel in der Filiale, und Denise wird fast schlecht. Sie kaut Kaugummi und trinkt hinten im Personalbereich alle zehn Minuten stilles Wasser aus einer Plastikflasche. Das Amphetamin, das sie zuhause genommen hat, hat eine klärende Wirkung auf ihren Kopf. Alles ist erträglich. Dann schellt es aus dem Kassenbereich, Herr Fricke drückt die Klingel zweimal und zeigt damit an, dass zu viele Kunden warten und eine weitere Kasse geöffnet werden muss. Denise nickt, stampft geräuschlos zur Kasse und öffnet sie. Die Schlange ist schon da.
Ein Kind wirft sich auf den Boden und heult. Die Mutter versucht, es wieder hochzustemmen, aber die Marionette will nicht stehen. Ein Betrunkener torkelt sichtlich, sagt kein Wort. Die anderen Kunden halten einen Sicherheitsabstand. Denise arbeitet alles ab. Eine Tonne an Produkten ist es schätzungsweise, die sie in einer Stunde hochhebt, da der EAN-Code sich meist auf der Unterseite befindet. Ein Kollege hat das angeblich ausgerechnet. Und ja, das wird alles wegprozessiert. Von den Münzen bleibt eine Kupferschicht auf den Fingerkuppen, die sich später kaum abwaschen lässt.
Bald ist der erste Kundenschub abgearbeitet. Denise nickt Herrn Fricke zu, der zurücknickt, dann schließt sie die Kasse wieder und geht in die Lagerhalle, trinkt Wasser und verfrachtet zehn Lagerkisten Wurstpackungen auf dem zitternden Wagen.
*
Als Anton aufwacht, ist seine Mutter schon in der Firma, bei Frau Mollenhauer und Frau Scheffler, bei Intrigen und Mobbing, wobei längst nicht mehr klar ist, ob die Intrigen und das Mobbing wirklich oder nur eingebildet sind. Sie fährt meist früh zur Firma, weil da noch wenig zu tun ist und die Zeit für sie dennoch heruntertickt. Gefeuert werden kann sie mit ihrem Behindertenstatus kaum mehr; die Personalabteilung toleriert ihre letzten beiden Jahre vor der Rente, um kein Aufsehen zu erregen. Es lohnt sich einfach nicht.
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