«Jetzt stell dich schon hin», zischt Denise und rüttelt ihre weinende Tochter durch, dabei fletscht sie die Zähne, ohne es zu merken.
«Du Spastikerin», entfährt es ihr, und sie erschrickt und wird gleichzeitig noch wütender. Wenn Linda nicht sofort aufhört zu heulen, wird sie ihr eine langen. Sie ist kurz davor. Krampfartig kneift sie Linda in die Schulter, ihre Hand scheint selbst von einem Spasmus durchfahren.
Früher hatte Denise bisweilen Tötungsphantasien. Ihre Tochter solle, wenn sie sich noch einmal so dumpf und renitent verhielte, bitte vom nächsten Laster überfahren werden. Vielleicht müsste sie gar nicht nachhelfen? Denise war erschrocken von der Grausamkeit der eigenen Gedanken. Aber sie konnte nicht aufhören, sich das Ableben ihrer Tochter bis ins kleinste Detail auszumalen, vom Unfall über ihr Alibi bis hin zum Kondolenzwahn danach. Sie selbst hätte keine Schuld, und keiner würde ihre Genugtuung bemerken. Sie fühlte sich manchmal wie die schlechteste und mieseste Mutter der Welt. Bis Saskia, eine alte Freundin, ihr auf eine Andeutung hin erzählte, dass es ihr genauso ginge. Mordideen schienen unter jungen Müttern gar nicht so selten zu sein.
«Ist alles in Ordnung?», schallt die Stimme des Arztes im Treppenhaus herab. Denise fährt herum, dort steht der Arzt mit seiner Helferin und blickt sie streng an.
«Ja, alles in Ordnung, sie ist nur gestürzt», beschwichtigt Denise mit zitternder Bravheit in der Stimme und will sich am liebsten selbst ohrfeigen. Linda steht nun alleine auf und beruhigt sich. Der Arzt macht eine despektierliche Miene, hebt die Augenbraue und geht nickend wieder ab.
«Dann ist ja gut», sagt er, gerade noch hörbar. Die Arzthelferin starrt Denise einen Augenblick zu lange an und sagt dann traurig: «Bis zum nächsten Mal.» Die Tür fällt zu. Denise atmet auf, nimmt ihre Tochter bei der Hand und schleicht die Treppe hinunter, aus dem Haus.
*
Sie schnauft sich durchs Zimmer, sammelt Wollmäuse und Staubfetzen auf, versucht eine gewisse Struktur herzustellen, wo Struktur niemals vorgesehen war. Immer wieder muss sie sich auf den Billigstuhl von Ikea setzen, um Luft zu holen. Anton hilft ihr, wo es geht, aber seine Mutter ist stur und will ihr eigenes System durchsetzen, das ihr selbst allerdings nicht transparent ist. Es ist nämlich eigentlich gar kein System, und dieses Nichtsystem trifft auf ein fehlendes Ordnungsprinzip. So kommt man schlecht voran.
«Bitte», sagt Anton schließlich. «Es ist wirklich nicht nötig.» Eine Wut steigt ihm in die Nase, aber er darf es sich nicht anmerken lassen. Es ist seine Mutter, sie meint es nur gut mit ihrer ziellosen Geschäftigkeit.
«Hier noch, die Briefe», sagt sie und fuhrwerkt in den Mahnungen herum. «Sind die alle von jetzt?»
«Ich weiß es nicht.» Anton lässt sich erschöpft auf sein stinkendes Bett fallen. «Ich weiß es einfach nicht.»
«Das schaffen wir schon», sagt sie und türmt die Schreiben zu kleinen Stapeln auf. «Es ist sicher kein Palast, nicht wahr. Aber erst einmal bist du hier gut aufgehoben. Und die Frau Sonja ist ja wirklich nett.»
«Ja, ist sie.»
Die Aktenordner meidet sie. Sie scheint Angst vor ihnen zu haben, denn dort sind die größten Klopper begraben. Wer sich einmal in die Aktenordner einliest, kommt kaum mehr frei.
«Bitte, Mama, ich bin sehr dünnhäutig gerade. Ich kann Überraschungsbesuche nicht so ab.»
«Bin ja gleich fertig.» Sie schwitzt. «Und dann gehen wir essen?»
«Heute nicht.»
«Jedenfalls, ich habe dir etwas Wurst und Käse in den Kühlschrank gestellt.»
«Ich weiß.»
«Ja, nicht, dass das verschimmelt.»
«Wird es nicht.»
«Und du willst wirklich nicht mitkommen? Ein Zneck?» Ein Snack.
«Nein, ich muss mich ausruhen.»
Sie freut sich insgeheim darüber, dass er sich wieder wie ein träger Teenager verhält. So kennt sie ihn, so ist er ihr nicht fern. Draußen tobt wie so oft Hansi, der verwachsene Gnom, und schreit herum, wie scheiße alles sei, «scheiße, scheiße, scheiße». Still schämt Anton sich für Hansi, und er schämt sich für sich, und für seine Mutter, und für dieses abgewichste Heim.
Seine Mutter sitzt im Stuhl wie eine Kröte und japst nach Luft. Dann kramt sie in ihrer Handtasche und fördert Kaugummis zutage. «Willst du auch eins?»
«Nein.»
«Okay. Hier sieht es jetzt manierlicher aus. Das schaffen wir schon, alles. Bringst du mich noch zur Haltestelle?»
Wenn Anton zurückdenkt, fragt er sich, wann die Weichen gestellt wurden, wo er die Abzweigung genommen hat, die ihn nach und nach von den alten Freunden und Kommilitonen entfernte. Gibt es da eine bestimmte Stelle, an der sich ein Nebengleis vom Hauptstrang der anderen abspaltete, auf dem er allmählich wegdriftete, erst unmerklich, dann unwiderruflich? Oder ist es die Summe der kleinen Entscheidungen, Versäumnisse und Auslassungen gewesen? Ist er stehen geblieben, und die anderen sind weitergegangen, oder hat er die anderen irgendwo hinter sich gelassen, und sie bewegen sich nun ruhig, aber stetig voran, während er einen ruinösen Sonderweg verfolgt?
Das ist nicht einfach festzustellen, denkt er, während er mit dem Tagesticket, das er sich von seiner Mutter hat spendieren lassen, und einer aufgedrängten Pizzastulle in der Hand durch die Stadt fährt und die alten Orte abklappert. Seine Mutter ist inzwischen zuhause, er hat sie abgesetzt, und die Kanäle und Programme jagen bei ihr bestimmt wieder wild über den Bildschirm, wie immer. Anton dagegen zappt auf seine Weise, er fährt seine Vergangenheit ab, die guten und die bösen Orte. Draußen auf Kaution, so nennt er das, irgendwen zitierend, der schon lange keine Rolle mehr in seinem Leben spielt.
Dort wohnte Peter, unten in der Parterrewohnung, die seine Eltern Ende der Neunziger kauften, als die Wohnungen noch preiswert waren und die Gegend sich aufregend und neu anfühlte. Peter und Anton waren damals ein wahres Zerstörerteam im Nachtleben gewesen, mit Unmengen an Alkohol, neuen Clubs, viel Getanze und auch ein paar Frauen. Und währenddessen hatten sie im Gleichschritt das juristische Grundstudium mit Einsernoten abgeschlossen, bei Professor Stephan, ihrem blendenden Vorbild, Antons heimlichem Vaterersatz. Sie hatten sich jung und unberührbar gefühlt. Die Schere ging erst im Hauptstudium auf, als Anton noch immer ein wenig zu viel feierte und zu oft in den Tag hineinlebte, Peter sich dagegen strikt an den Lehrplan hielt und seinen Freund mehr und mehr abhängte. Der Spießer in Peter war durchgebrochen, so redete Anton sich ein, rückversicherte sich hierüber auch in Gesprächen mit gemeinsamen Bekannten, und so trennte sich das Team irgendwann stillschweigend und ohne großes Getue. War Anton zu idealistisch oder einfach zu feige für eine richtige Karriere gewesen?
Jetzt wohnt dort wohl eine Studentin, wie Anton an der Wäsche auf dem Balkon zu erkennen meint, und drückt monatlich die Miete an Peters Eltern ab, oder gleich an Peter, wer weiß. Der lebt inzwischen in Düsseldorf, ist verheiratet und hat drei Kinder. Eines hätte auch gereicht, knurrt Anton in Gedanken. Und geht unverrichteter Dinge weiter.
Was Professor Stephan wohl macht? Lehren, gewiss, und jährlich neue Topjuristen auf den Weg bringen. Was mögen wohl inzwischen seine Themen sein? Hegel und die autopoietische Ethik, wie früher? Formen der Gerechtigkeit versus Formen des Rechts? Schale Begriffe, die aber bald zum ersten Mal von wirklicher Bedeutung für Antons Leben sein könnten.
Er hatte damals ein besonderes Interesse an der Rechtsphilosophie entwickelt und dieses in zähen Überstunden vertieft, aus bloßer Begeisterung, gewiss, aber auch, um Professor Stephan zu gefallen. Stephan war Anton nämlich ein Versprechen gewesen. Ein Selfmadegeist, autark und frei, dynamisch, blitzgescheit, ein Held in postheroischen Zeiten, dessen Ruf weit über die hiesige Universität hinausreichte. Anton hatte sich von ihm ein Gutachten gewünscht, für einen Ivy-League-Aufenthalt, der dann doch nicht zustande gekommen war. Doch das Gutachten, das Stephan als einzige, brillante Laudatio verfasst hatte, bewahrte Anton noch immer auf, irgendwo zwischen den Mahnungen und Drohungen, und Antons Mutter hatte es zigmal kopiert, es ihren Kolleginnen gezeigt und fernen Verwandten zugeschickt. Es war ein blendendes Gutachten. Die Zukunft hatte geraunt und gefunkelt.
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