War Anton denn krank gewesen? Und war er jetzt noch krank? Wie verhält sich das? Anzeichen von Manie waren da, hieß es, doch Anton meinte, er hätte jederzeit die Kontrolle über sich gehabt. Aber weshalb hatte er dann einfach seine Wohnung gekündigt, ohne nach Ersatz zu suchen? Weshalb hatte er sich von Rausch in Rausch gestürzt und die peinlichsten Aktionen gebracht, bis hin zur völligen Zerstörung seines eh zweifelhaften Rufs? Jetzt, vor dem Gutachter, mussten diese Anzeichen zu einem stimmigen Krankheitsbild zusammengefügt werden, damit am Ende die erhoffte Geschäftsunfähigkeit herauskäme. Eine vertrackte Situation. Nach einer halben Stunde Wartezeit bat Professor Venth Anton zu sich ins Zimmer.
Zu oft hatte Anton seine angebliche oder wahre Krankengeschichte schon erzählt, er war es so satt. Immer wieder sollte er sich aufraffen zur Selbstanklage und zum seelischen Offenbarungseid. Ihm fiel des Professors Blinzeln auf, wenn er Anton anschaute, das Lid blieb kurz am Auge kleben, ein altersbedingter Tic, der seinen Status in Antons Wahrnehmung verniedlichte. Schon war die ganze Situation torpediert. Anton konnte Venth nicht ernst nehmen, und Venth sah in Anton nur einen weiteren Fall, der noch zwischen ihm und seiner Pensionierung lag. Alles, was Anton sagte, wurde bezweifelt. Er könne sich nicht erinnern? Maniker erinnerten sich grundsätzlich an alles . Aber der Alkohol? Einerlei. Venth schrieb mit, während Anton eingeschüchtert von seinem wilden Jahr berichtete. Allein das Mitschreiben machte Anton ganz kirre, und er stotterte sich von Vorfall zu Vorfall, ohne Chronologie, denn rückblickend war die Zeitkurve nur noch ein Wirrwarr aus einzelnen Punkten. Man müsse den Zeitraum seiner Ausgaben viel enger fassen, riet Professor Venth, drei oder vier Monate oder gar ein ganzes Jahr seien einfach nicht drin.
«Aber so war es doch», wandte Anton ein, worauf Venth nur den Kopf schüttelte. Hätte Anton sich einen Porsche gekauft, sähe es ganz anders aus, dann könne man genau diesen Kauf anfechten. Aber all diese kleinen Ausgaben, die Reise nach London, dieses Zerfaserte, nein, der Zeitraum sei einfach zu lang, um auf verminderte Geschäftsfähigkeit zu plädieren.
Anton fühlte sich mies und hintergangen. Keiner war auf seiner Seite. Warum auch? Dabei wusste er von Hermann, dass Professor Venth für genau dieses Gutachten in etwa die Summe bekommen würde, die Anton der Bank schuldete. Dreitausend Euro. Dreitausend Euro, die Anton bei einer Niederlage ebenfalls in Rechnung gestellt würden, wie die Gerichtskosten, wie die Anwaltskosten der Gegenseite, wie alles. Dreitausend Euro, die Venth gerade an Anton verdiente, die er Anton gerade sogar abknöpfte, ihm selbst, indem er ein Gutachten im Kopf vorformulierte, das Anton alle Aussichten auf Erfolg raubte. Könnten wir das alles nicht einfach lassen, und Sie überweisen meiner Exbank einfach Ihr überhöhtes Honorar, und ich kann versuchen, normal weiterzuleben?
Anton kommt sein Leben wie ein sozialer Abstieg in Sachen Begutachtungen vor. Während er da bei Sonja sitzt, hat er Flashbacks von seinen bisherigen Ämtergängen, den Schuldnerberatungen, Begutachtungen, Anträgen, Gewährungen. Um damals aufs Gymnasium zu kommen, musste er still dasitzen, intelligent tun und dann wie ein Idiot einen Ballon in der Luft halten. Ein parteienfinanziertes Stipendium wurde ihm beim Eintritt in das Studium nicht gewährt, da er in Sachen soziales Engagement anscheinend nicht punkten konnte; der Gutachter war ihm eh nicht sympathisch gewesen, ein lahmer Badener, der so langsam sprach, dass man ihm kaum folgen konnte. Und die letzte Amtsärztin, die Anton auf unverschämte Weise abkanzelte, hatte selbst keine Zähne. Sie saß ihm gegenüber und hatte einfach keine Schneidezähne. Dabei rügte sie ihn, er habe sich zu lange nicht gemeldet, und überhaupt, er müsse diese und jene Therapie in Angriff nehmen, ohne das ginge es nicht. Anton hatte versucht, nicht auf die Zahnwüste zu starren. Nein, er will nicht mehr begutachtet werden.
Als er satt und noch mit dem Kaffeegeschmack im Mund Sonjas Büro verlässt, verdrängt er die düsteren Gedanken, die Worte «Strick, Zug, Hochhaus», die Erinnerungen an all die falschen Begutachtungen, die Müdigkeiten danach. Was haben diese fremden Menschen ihm zu sagen, wieso beurteilen sie ihn willkürlich? Wieso muss er überhaupt ständig beurteilt und begutachtet werden? Anton bleibt im Gang stehen und lauscht dem Hall hinterher. Er will nicht in sein Zimmer gehen, er will aber auch nicht draußen sein. Also was?
*
Linda meistert alles vorbildlich. Sie ordnet Klötze zum Turm, hopst Vierecke nach, puzzelt wie eine kleine Weltmeisterin. Sie steckt verschiedene Formen in die passenden Löcher, erkennt und benennt Dreieck und Raute, schneidet Muster fast fehlerfrei mit der Schere aus. Dabei blickt sie, Zustimmung und Lob erheischend, immer wieder hoch. Denise könnte sie ohrfeigen.
Der sogenannte Vorführeffekt, nur umgekehrt: Was sonst misslingt, klappt hier wie am Schnürchen. Der Arzt nickt und ermutigt Linda, es noch besser zu machen. Die verhält sich gar geziert und putzig, spielt eine unbekannte Niedlichkeit aus, verfährt ruhig und souverän. Die sonst so aufreibende und lärmende Hysterie scheint Jahre entfernt. Denise ist genervt, es geht um den eh ungeliebten Inklusionsstatus, für den sie Termin nach Termin abreißen muss. Und jetzt tut ihre Tochter wie ein feines, begabtes Musterkind, dem keine Aufgabe zu schwer ist. Denise juckt es in der Nase. Sie hasst ihre Tochter gerade, die kindliche Freude, den Eifer, die Eitelkeit. Kann sie nicht wenigstens nur kurz mal halb so bockig sein, wie sie es sonst alle fünf Minuten ist? Dabei kann ihre Tochter doch gar nichts dafür. Sie bemüht sich und hat Erfolg. Denise sollte sich freuen. Oder nicht?
Der Arzt nervt Denise ebenfalls, mit seinen sanften Ermutigungen, der mild modulierenden Stimme, den kleinen Aufmunterungen. Er hakt die Übungen eine nach der anderen ab, schreibt noch eine Zahl dazu, die auf der dazugehörigen Skala wahrscheinlich ausgesucht weit oben steht. Dann wendet er sich Denise zu und nickt konspirativ. Ja, das sei doch sehr erfreulich, diese Fortschritte der kleinen Linda, grummelt er freundlich. Denise betrachtet ihre Tochter wie ein fremdes, in seiner ausgestellten Goldigkeit abscheuliches Kind. Dieses Kind hat sie alleingelassen. Wieso dieser Akt der Sabotage? Woher kann Linda das alles plötzlich? Der Arzt bemerkt ihre Not und neigt sich noch tiefer zu Denise hin. Er will ihr etwas zuflüstern.
Vielleicht will er ihr sagen, wie geil er sie gestern fand, im Netz?
Sie wendet sich nicht ab von ihm, obwohl sie sich bedrängt fühlt. Die Arzthelferin kommt zur Tür herein. Denise kann aufatmen. Der Arzt rückt dennoch nicht von ihr ab, sagt dann verschwörerisch: «Ich kenne diese Situationen.»
Welche Situationen?
«Keine Sorge, ich mache die entsprechenden Vermerke. Wir kriegen den Status schon durch.»
Linda merkt, dass über sie gesprochen wird, aber sie weiß nicht, worum es geht. Sie beginnt, die Türme, die sie aufgebaut hat, wieder umzuwerfen, die hübschen Formen in kleine Nichtse zu zerschneiden. Der Arzt nimmt ihr die Schere ab und streicht ihr über den Kopf.
«Fein gemacht», sagt er, und Linda grinst beglückt und zwinkert dümmlich.
Im Hausflur, auf dem Weg die Treppe hinunter, spürt Denise noch immer diesen leichten Schwindel, der sie in Arztpraxen fast jedes Mal überkommt. Sie muss aufpassen, dass ihr nicht schwarz vor Augen wird. Sie lässt Linda kurz los, um sich mit beiden Händen am Geländer festzuhalten. Die Welt droht, zu einem Punkt zusammenzuschnurren. Bevor sich Denise wieder gefangen hat, ist Linda schon gestolpert, zwei, drei Stufen hinab mit Gerumpel, und jetzt liegt sie kopfüber wie ein verschrecktes Jungtier auf der Treppe.
Die Erkenntnis, was passiert ist, hat noch nicht eingesetzt. Lindas Gesicht ist noch leer, sie sammelt sich, sammelt das Bewusstsein an, gleich wird sie losheulen. Denise ist erschrocken zur Stelle und möchte ihre Tochter wieder aufrichten. Aber Linda will nicht, fühlt sich gedemütigt von der Treppe, von der Schwerkraft, den Gesetzen der Welt, sie ist ein Kind, das sich weh getan hat, das keine Hilfe braucht, weil es nur heulen will, weil es das Unrecht hinausschreien muss. Denise wird von Ungeduld und Zorn gepackt. Sie schüttelt Linda und zieht sie hoch, «es ist nicht so schlimm», bevormundet sie ihre Tochter, «stell dich hin.» Linda weigert sich. Sie fällt wieder in den Babymodus zurück, heult nur unförmig, gibt unverständliche Fetzen von sich, sackt in sich zusammen: der Trotz der Benachteiligten.
Читать дальше