Lieber Magnus! Ob das was zu bedeuten hat, weiß ich nicht, aber ich spüre es auch, dieses Kribbeln, unter der Haut, und ich will tanzen und tanzen, um dieses Kribbeln zu betäuben, das Nervenfieber zu löschen, und vielleicht will ich auch meinen Geist ölen, der als Geist in der Maschine steckenzubleiben scheint. Nur worin, ist die Frage. Woher kommt denn der Gruß? Doch wohl nicht aus Berlin? Villa
Villa, Dein Name ist ein Haus, und meine Stadt ist tatsächlich Berlin, aber glaube nicht, dass ich die Stadt liebe. Im Gegenteil, Berlin verursacht Übelkeit, Hysterie, BZ-Flimmern. Aber zeig nur einen Nippel, und mein Schwanz wird sehr hart. Kannst du dich mal ausziehen für mich? — Magnus Das werde ich gerne tun. — Villa Das machst du gut, sehr gut. — Magnus So? — Villa Etwas schneller, und fester. — Magnus Spürst du es auch? — Villa Oh ja. Jetzt halt sie mir hin. So ist gut. — Magnus Was habe ich denn hier verpasst? Wer ist denn dieser Magnus? Wird Villa jetzt zur Cyberschlampe? — Major Tomsky24
Der Spaß schien lau, die Wirkung aber war beachtlich. Magnus und Raoul hatten Villas Tagebuch geentert und einen zweitägigen Dialog zwischen Magnus und Villa fingiert, der ein sachtes, schräges Näherkommen in der Virtualität suggerierte. Das Bier hatte ihnen noch die eine oder andere Zweideutigkeit eingeflüstert; insgesamt nichts Schlimmes. Als Magnus am nächsten Tag dann die Seite wieder aufrief, herrschte dort helle Aufregung. Die deutschlandweit verstreuten Villa-Fans hatten sich über Villas Billigkeit empört und Magnus als «Penner» und «Möchtegern» gedisst. Dann hatte Villa sich eingeschaltet und überdreht (in durchgehend großen Buchstaben und mit aufdringlichen Ausrufezeichen-Trios hinter jedem Satz) beschworen, dass jemand sich in ihr Tagebuch eingehackt habe, dass sie nicht Urheber dieser fiesen Geschichten sei und ihr Tagebuch nun für ein paar Tage schließen müsse, bis ein einbruchssicherer Zugang programmiert sei.
Magnus musste lachen und trank ein Bier. Dann ging er zurück ins Tagebuch, löschte Villas Einträge und textete weiter.
Es war Anfang September. Ein neuer Morgen dimmte heran. Zeitschalte. Die große Maschine stampfte wieder los. Alle liefen zielgerichtet durcheinander, in U-Bahnen, auf Gehwegen, in Autos, durch Zentralen. Der Herbst matschte auf den Straßen, und Magnus Taue blätterte frischgeduscht in der Hochglanzbroschüre zur Sicherheitsoffensive. Die S-Bahn stand still und stieß alle fünf Minuten ihr dummes Großstadtkeuchen aus. Die Leute saßen, stierten und lasen. Verantwortung ist ein Imagewert, man kann mit ihr punkten , so stand da, in der Broschüre. Magnus verstand nicht, wie man solche Sätze schreiben konnte. Dabei stammte der Satz von ihm. Er schüttelte den Kopf und lächelte. Die S-Bahn fuhr los.
Von der RADIKAL-Glaskuppel strahlten Lichtstalaktiten herunter; dickere, gewaltigere als der einzige Strahl, unter den «diese Karikatur von Kühnemund» (so er in seinen Gedanken) sich kürzlich im Club so angeberisch gestellt hatte. Magnus hatte Thorsten heimlich beobachtet und genau den Augenblick abgepasst, wann er seinen «Arbeitskollegen» — ein Attribut, nein, eher schon ein Prädikat , mit dem Magnus den vierschrötigen Brad-Pitt-Verschnitt nur ironisch bedachte — wann er ihn also ansprechen würde, wenn er ihn denn überhaupt ansprechen würde. Eigentlich hatte er das nämlich nicht vorgehabt. Eigentlich wollte er den Job so weit wie möglich von seinem Leben fernhalten, zumal von seinem Nachtleben. Es erfüllte Magnus insgeheim mit Scham, für den europaweit führenden Mineralölkonzern und also für das Kapital an sich zu arbeiten.
Er betrat das Atrium. Seine Kunststoffsohlen quietschten auf dem gebohnerten Marmorboden. Anzüge schwebten vorbei, gescheitelte Männer, die ihn feindselig ansahen, Frauen in Kostümen, die ihn ignorierten. Die Empfangsdamen blickten erst auf, als er vor ihnen stand.
«Guten Tag.»
«Guten Tag, Herr Taue.»
«Ich habe einen Termin bei Frau Starck.»
«Ja, ich rufe eben an.»
Seit dem elften September mussten Gäste, Partner und sonstige Kollaborateure persönlich im Atrium abgeholt werden. Drehkreuze, von Chipkarten zu öffnen, waren aufgestellt worden. Magnus setzte sich zum Warten in die schwarzlederne Sitzgruppe und starrte den gewaltigen Flachbildfernseher an, auf dem die neuesten Triumphe von RADIKAL im Loop gesendet wurden: hier ein Weltmeister in der Formel 1, dort eine neue Errungenschaft in Sachen Naturschutz, dazu Auszeichnungen für die innovative Shoparchitektur, Kursverläufe an der Börse, Interviews mit der Geschäftsführung in London und Berlin. Magnus war nervös. Immer wurde er nervös in dieser Sitzgruppe, vor dem nächsten Termin, der immer auch ein Stück Niederlage, ein Stück Selbstverlust und eben einen weiteren kleinen, räudigen Seelenverkauf bedeutete.
Der Aufzug sank herab; Magnus sah den Flaschenzug und die schwerelose Bewegung; er sah Thorsten und Françoise herunterschweben, der Fahrstuhl war aus Plexiglas und transparent; sein Tinnitus meldete sich. Immer meldete sich in Stresssituationen, die weder mit Musik noch mit Alkohol gedämpft werden konnten, sein Tinnitus und erinnerte ihn an den Makel, der ihn mehr und mehr von der restlichen Welt trennte. Der Tinnitus war dabei nur ein Zeichen. Der Makel bestand in etwas Größerem und Wesentlicherem als einem bloßen Hörschaden.
«Nun, Herr Taue, sind Sie bereit? Schön, Sie zu sehen!»
Françoise war wieder äußerst französisch, um Kollegialität und trikolorische Gastfreundschaft bemüht; sie trug bordeauxrote Schuhe, einen ebenso gefärbten Schal, ein dunkelblaues Kleid und — als Signalaccessoire — einen knallgelben Gürtel.
«Guten Tag.» Magnus sah schon nichts mehr vor lauter Farben. Er sagte «ja» und drückte beiden die Hände. Dann wurde ihm kurz schwarz vor den Augen. Dann fing er sich wieder.
Sie fuhren nach oben. Keiner sagte etwas.
Magnus bekam den Termin schließlich hin.
Aber fünf Minuten nach dem Briefing musste er sich an einem Bauzaun übergeben.
Zu Hause sah er nach, was bei Villa los war. Viel, wieder. Er kam nicht mehr von ihr los. Irgendwann schlief er ein und hatte zerrüttete, dünne Träume. Dann wachte er auf.
Dann war Donnerstag.
Zunächst war da ein Umstülpen. An jenem Donnerstag. An jenem, jenem Donnerstag. Die ganze Welt ging fort. Ging fort, oder zeigte sich erstmals, die Welt in ihrer Ganzheit — wie man es nimmt, oder gibt, oder lässt. Ein Aufwölben, ein Umstülpen, und dann das Nachrücken, die nachträgliche Erleuchtung , das verspätete Einklinken in den Gesamtzusammenhang.
Magnus verstand plötzlich, verstand den Krebs der Wahrheit, der von einer winzigen Parzelle des Internets namens Villacam ausgegangen war. Er begann, nachdem sein Identitätskarneval erste Denkwucherungen, auch auf Feindesseite, nach sich gezogen hatte, bei der Lektüre der zahlreichen Repliken immer genauer zwischen den Zeilen zu lesen, aber auf eine Art und Weise, die selbst Bibelexegeten verängstigt hätte.
Das Gelesene, in diesem Fall die Hasstiraden in Villas Gästebuch, kehrte nämlich die Richtung um und begann, ihn zu lesen. Das Zwischen-den-Zeilen-Lesen wurde unendlich umkehrbar. Jedes Wort begann, mehrdimensional zu schillern, und alles war auf alles beziehbar. Erstaunlicherweise geschahen Codierungen nicht immer in Form von einfachen, rückübersetzbaren Metaphern, sondern oft innerhalb der Gesamtheit eines Stimmungsbildes, in dem die Reibewirkung aneinander schabender Wortfelder und sich streifender Bedeutungspartikel eine Spannung erzeugte, aus deren Mitte kleine Botschaften an Magnus höchstpersönlich entsprangen. Andererseits wurden die Bilder an anderen Stellen unschärfer, fast labbrig, und die Verweise schossen, nicht zu halten, nicht zu fassen, in zu viele Richtungen davon. Magnus blieb an schludrigen Nebensätzen hängen und fragte sich, ob die zahlreichen Rechtschreibfehler darin ebenfalls gewollt waren. Ein Sehsack ? Er lachte schrill auf. Was für eine Unverschämtheit! Er klopfte sich auf die Schenkel und lachte noch spitzer; lachte über den Sehsack, über die Unverschämtheit, über seine Schenkel und über sein Lachen.
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