«Na? Geht’s gut?»
«Fertig bin ich. Gut fertig.» Ein Terrorlächeln habe ich auf. Ein Terrorlächeln.
«Wo haben wir denn heute gefeiert?»
«Hier und da … so eine Party, dann so … so ein Geburtstag.» Walter und Carmen schauten ihn verständnisvoll bis neidisch an, nickten nett und lächelten. Magnus wurde es schwindelig, während er sich an der Kühlschranktür festhielt.
«Äh, wo ist denn die Milch?»
«Hier. Du kannst dich übrigens auch sonst bedienen.» Nein, nur Milch. Er wollte Milch.
Magnus ging so schwindelfrei wie möglich auf den Küchentisch zu. Schnappte sich ein Glas aus der Vitrine. Setzte sich hin an den Familientisch ohne Familie. Jetzt war ein Kommentar vonnöten, ganz klar. Jetzt musste er reden.
«Äh, und, ich meine, wie war denn die Vernissage?»
Walter und Carmen waren für Magnus die Erwachsenenversion von sich selbst. So würde er wohl auch mal sein, in zwei, drei Jahren, wenn er so alt wäre wie sie. Die Horrorvision lebte gleich im Nebenzimmer. Und jeden Tag lieferten sie ein neues Update, jeden Tag frisch unter die Nase gerieben. Beide machten in Kunst. Arbeiteten in einer der Kunstkunst-Galerien in der Auguststraße. Waren auf dem besten Weg, gemachte Kultur- und Lebensmanager zu werden, Lifestyle-Sophistizisten, die sich dabei aber dennoch einen abgefahrenen, alternativen Touch bewahrten, in geschäftstüchtiger Unbeschwertheit. Alles lief wie geschmiert. Man knüpfte Kontakte, plante die ersten eigenen Projekte, ließ sich Reisekosten erstatten, schloss nebenher das Studium ab, im Einklang mit dem Professor und allem. Briet Zucchini, häutete Tomaten, röstete Sonnenblumenkerne. Hielt sich auch beim gemeinschaftlichen Abendessen an die Seminarordnung.
Magnus kam sich daneben vor wie im falschen Film, oder, als ob zwei völlig unterschiedliche Filme nebeneinander abliefen. Etwa so: Er selbst war wohl Statist in einem frühen Richard-Linklater-Streifen, der mehr und mehr einen schrillen Larry-Clark-Stich bekam, während die beiden anscheinend als Headliner in einer schlechten Hal-Hartley-Parodie reüssierten, bei der aber noch jede Furzszene zwanghaft in eine falsch ausgeleuchtete Billy-Wilder-Ausgelassenheit umgebogen wurde. Manche mögen’s erwachsen. Walter lachte los.
«A hu , a hu , also nein. Das ist grob.» Magnus hatte anscheinend etwas Sauwitziges gesagt, er konnte schon nicht mehr erinnern, was. Aber eigentlich hatte es sich ziemlich traurig angefühlt. Er goss sich noch ein Glas Milch ein. Niemals hatte Milch so gut geschmeckt.
«Hach, ich fühle mich richtig eklig erwachsen, wenn ich das höre», sagte Walter geziert. Das war so einer seiner Standardsprüche zu Magnussens nächtlichen Eskapaden. Offensichtlich hatte auch der Mitbewohner ein diffuses schlechtes Gewissen, wie Magnus. Offensichtlich starrte ein schlechtes Gewissen das andere an, und sie wussten nichts Rechtes miteinander anzufangen und wussten auch gar nicht genau, was eigentlich ihr Grund war.
Überhaupt, Walters fröhliche Verklemmung. Jedes Wort, das er sprach, kam Magnus vor wie eine Münze, die Walter im Mund erst zehnmal hin- und herwendete, bevor er sie, dann aber ganz lockertuerisch, ausspuckte. Jeder Satz aus Walters Mund kam ihm entgegengestelzt wie ein Therapierest, ein Diskurskrüppel, ein psychoanalytisch zusammengeschultes, zusammengeschissenes Etwas. Jede Silbe war eine Vorsichtsmaßnahme.
Leute, die zu große Skrupel hatten, sich auszusprechen oder frei zu bewegen, weckten in Magnus immer genau dieselben Skrupel, nur noch viel stärker, verquerer, behinderter. Dann fühlte sich Magnus immer wie ein Zerrspiegel aller Menschenschwächen.
Das Indianeramulett in Walters Hemdausschnitt wippte hin und her. «Grenzgradig. Von der Konzeption her interessant, aber von der Hängung eher teilgeil.» Walter und Carmen diskutierten die gestrige Ausstellung. Aber sie hatten das wohl schon einmal besprochen und käuten das Ganze nur noch einmal für Magnus wieder hoch und durch. Er nickte und lächelte und nahm einen großen Schluck Milch. Seine Hand zitterte. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen.
«Ja, etwas mehr Platz zwischen den Bildern wäre gut gewesen. Und die Plastiken asymmetrischer, chaotischer verteilt», sagte Carmen. Magnus schreckte auf. Er musste für mindestens zehn Minuten weg gewesen sein. Hatte er auch geschlafen? Aber keine/r hatte etwas gemerkt. Walter löffelte sein Müsli, seine Apfelstücke in Biomilch und ließ sich derweil über die Unerträglichkeit der FAZ aus. Carmen lutschte an einer Lachsschnitte und pflichtete ihm bei. Ein Leben wie im Ambient Sound, ein zäher, hauchheller Loop, immer derselbe, ein abgemischtes Frauenlachen darin. Und ich werde bald auch so sein, ein Filofaxkurator, ein linker Spießer, ein gemachter Kulturfreund, dachte Magnus. Und sagte:
«Nun, ihr scheint ja glücklich zu sein. Hier mit dem Frühstück und der Kunst, und so.»
Etwas überrascht und irritiert sagte Walter, lächelnd: «Ja … man tut, was man kann …», und lächelte weiter.
Magnus sah die Wassertropfen auf den Tomaten, die Riffelungen im Lachs und den Meerrettich, das zehnschrötige Elfkornbrot und den feuchten Tofu daneben.
Ich würde jetzt gerne einen McRib vor euren Augen essen, dachte er. Saftig, vor geiler Sauce triefend, innen das ungesunde, schlimme Gummifleisch. Und mir dann mit dem parfümierten McFrisch-und-Sauber-Tüchlein die braunen Tropfen langsam und genüsslich vom Kinn wischen und, während mir hundert gelbe Eiterpickel aus der Stirn sprießen, mit vollem, zuckendem BSE-Mund verkünden: Macht kaputt, was euch kaputt macht. Euch selbst womöglich. Denn das knallt noch immer am besten. Und dann aufstehen, rülpsen und sterben.
Anstatt dies wirklich zu sagen oder zu tun, wurde ihm wieder nur schwarz vor Augen, und sein Magen morste ein paar kurze Krampfsignale ins Nervensystem. Und er setzte dieses Lächeln auf, die Währung, mit der allein man sich hier freikaufen konnte. Carmen und Walter hatten es bereits auf dem Gesicht, und Magnus wunderte sich abermals, dass ihre Gesichtsmuskulatur nicht längst versteinert war. Dieses Terrorlächeln. Dieses Lächeln wie eine Maske, unabsichtlich, ohne Hintergedanken, freiwillig verinnerlicht vor Jahren schon, aus Unsicherheit und Vorsicht, aus vorauseilendem Gehorsam, das Lächeln zum Erfolg.
Magnus stand auf und stieß dabei mit dem Knie an die Tischkante, der Tisch wackelte, und aus Walters Müslischüssel schwappte etwas Milch auf seine Hose. Carmen warf Magnus einen besorgten Blick zu.
Er fühlte seine Leber, rechts, oben. Stiche darin. Nein, dachte er, so werde ich nicht erwachsen. So nicht. Lieber mache ich so weiter wie bisher und scheitere. Lieber fucke ich mich ab, bis ich ganz am Boden liege und kein Terrorlächeln mehr mein Denken lähmt. Lieber fetzt alles richtig auseinander, als dass die Lüge mich falsch zusammenhält.
Das Bett mit den Flecken und der zerknautschten, schweren Bettdecke wartete schon. Ohne sich auszuziehen, warf er sich in die Federn und schloss die Augen. Ende, endlich Ende des Tages, Ende der Nacht. Ende.
Autos fuhren unten auf der Straße vorbei, eines davon hupte. Magnus hörte noch, wie Walter und Carmen an seiner Tür vorbeischlichen. Es mag durchaus sein, dass der Fehler bei mir liegt, dachte er. Aber es ist mir egal. Fehler sind wunderschön. Und schlief ein. Die Sonne heizte seinem fettigen Gesicht ein und trübte die Farbe der Multivitaminbrause neben seinem Bett. Seine Hand hing über die Bettkante. Sie zitterte nicht.
Liebe Villa! Geht es dir gut heute Morgen? Ich hoffe doch. Mir auch. Nur der Welt draußen — ach, Villa, ich weiß nicht. Die Hysterie scheint wieder da zu sein. Wenn die Leute nichts zu tun haben, werden sie hysterisch. Nichts passiert im Sommerloch, und plötzlich ist ein Virus der Star, oder das Genom und paar belgische Blagen. Aus Solidarität mit den Pferdegrippeninfizierten habe ich seit ein paar Tagen Nasenbluten. Echt wahr. Aber so richtiges. Plötzlich, scheinbar ohne Anlass, schießt mir Blut aus dem linken Nasenloch. Blut schmeckt komisch, metallen. Sind wir schon erkaltet? Unsere Bewegungen vorgestanzt? Die Gelenke verknorpelt? Oh, die Körper imitieren die alten Figuren, unter denen sie leiden. Das, was sie formte und unterdrückte, bricht aus ihnen raus. Damit lässt sich einiges erklären. Liebe Villa, meine letzte Hysterikerin traf ich vor zwei Wochen, frühmorgens vor dem Maria auf der Straße. Der Himmel schien schon hell und böse, der Asphalt war mir feindlich gesonnen. Die Hysterikerin flitzte auf einer wüsten Kreuzung hin und her. Ich ging vorbei, sie schaute mich an, ich sagte: Alles klar? und erkannte sie wieder, die war auch im Maria gewesen, eine Animateuse, hatte ich gedacht, weil die so housekatzig getanzt hatte, wo doch alle schon hinüber waren. Sie folgte mir ein paar Meter, ich drehte mich um. Was ist los? Da brach aus ihr ein Schwall kauderwelschiges Spanisch heraus, sie verdrehte die Augen, verkrampfte die Hände nach außen, zeigte auf mich, plapperte manisch, schien mir eine hochbedeutsame Botschaft übermitteln zu wollen. Sie war Spanierin. Sie war hübsch. Scheiße, dachte ich, die Druggies wollen mich wiederhaben. Die haben die Hysterikerin da mit Speed vollgestopft und ihr eingetrichtert: Du den fangen. Du den zurückholen. Der Chor der Druggies schien hinter der S-Bahn zu stehen und zu flüstern: Komm, Magnus. Komm zurück. Du kannst dich nicht verleugnen. Ich fragte: Kann ich dir helfen? Sie schlängelte sich um ein Baugerüst und machte diese unsäglichen Gesten, in einem Tempo, zu schnell für meine breiten Augen. Dazu ihre panische Mimik, die großen, leeren Augen, und diese Sprache, in einem irren, unverständlichen Tempo. Ein Mann lümmelte sich auf einer Bank auf der anderen Straßenseite und glotzte rüber. Wenn ich nicht aufpasse, wird die gleich vergewaltigt, dachte ich. Dann habe ich sie nach Hause gebracht und selbst gefickt. Die ging ab! Hahaha! Quatsch. Habe sie nach Hause gebracht, was nicht schwer war, da sie ungefähr zwei Häuser weiter wohnte. Schier unbegreifliches Chaos in ihrer Wohnung. Aus den versifften Ikearegalen quollen Pullover, Nutellagläser, wirre Manuskripte. Das Schlimmste war, wie sie vor dem Spiegel loslegte. Da konnte ich kaum hinschauen, obwohl ich fasziniert war. Sie schnitt Grimassen, schimpfte sich an, griente und schleuderte dreckige Gesten in die Luft. Ihre zwei Katzen fauchten mich an. Auf dem Heimweg in der S-Bahn, mein Fahrrad lag im Busch, im Tiergarten, wo wir diesen Sänger getroffen hatten, der auf seine Plattenfirma schimpfte, Scheiß-VIVA-Rotation, undsoweiter, hatte ich einen Schweißfilm auf der Haut, und der Hemdkragen klebte mir im Nacken. Die Sonne stach. Zu Hause warf ich mich aufs Bett und wichste und schrie: Villa, dein Name ist ein Haus! Dann schlief ich traumlos ein. Jetzt sieh, was Du angestellt hast! Ein Gruß nach Tübingen — Dein Magnus
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