Und überhaupt — wessen Informant? Langsam und sekundenschnell dämmerte Magnus ein viel größerer, viel epochalerer Zusammenhang. Dies (aber was war: dies? ) war schon lange unterwegs gewesen. Dies waren nicht nur die Freaks auf Villacam, nein. Dies waren nicht nur Freaks aus dem Netz. Dies waren — mehr. Viel mehr. Dies waren vielleicht sie.
Nicht mehr lachend, nur noch schwitzend klopfte Magnus die Wände ab. Er beobachtete eine dunkle Stelle an der Zimmerdecke. Dort könnte unter Umständen eine Kamera versteckt sein. Er sprang hoch, warf Socken nach dem Loch, zeigte den Mittelfinger. Dann wurde er sich der Lächerlichkeit solchen Tuns bewusst und lief zum Fenster. Drüben hockten die Tauben in der Wand wie immer. Er wusste nicht mehr, was zu tun war. Sein Blick torkelte umher, stolperte über die Straße, die dalag wie ausgestorben. Wo eben noch eine Wahnsinnskarawane vorbeigedröhnt war, schlich nun eine Katze herum, setzte sich nieder und leckte sorglos ihre Tatzen.
Drüben, auf der anderen Straßenseite, leuchtete das besetzte Haus in der Abendsonne. Die Fenster waren zerschlagen, mit Laken verhangen, standen leer, gähnten. Er sah niemanden, und doch hatte Magnus das Gefühl, dass sein Blick erwidert wurde. Vielleicht starrte das Haus als ganzes zurück? Er winkte hinüber, ruderte bizarr mit den Armen. Sofort erschrak er, voller Scham. Das Haus ist ein Haus, versuchte er sich zur Vernunft zu rufen, ein altes, zerfallenes, besetztes Haus, das ebenso wenig zurückstarrt wie irgendein anderes unbelebtes Ding. Dennoch konnte er den Blick nicht davon lösen. Lag es nicht auf der Hand? In einem der nackten Fenster schien ein Gesicht auf, und in dem Gesicht blitzte es. Dann war das Gesicht verschwunden. Magnus beugte sich vor und begann wieder zu winken, nicht nur zu winken, er gestikulierte auch, fasste sich theatralisch an den Kopf, um die Übermacht seiner Gedanken zu karikieren, ironisierte ihr Überfließen mit Haareraufen, Mattscheibenwischen, Grimassenschneiden, warf dann Kusshände und Stinkefinger gleichzeitig über die Straße und lächelte schließlich, die Finger zum Victoryzeichen gereckt, galant in die surrenden Kameras. Je mehr er jedoch agierte, desto toter schien die Fassade. So einfach machten sie es ihm nicht! Er fasste sich wieder an den Kopf und hatte einen «Geistesblitz»: Natürlich findet die Party in Sichtweite statt! Natürlich und wahrscheinlich in diesem Haus gegenüber. Also folgte er dem Ruf des Hauses. Dort würde wohl die Party sein. Dort würden sie sich erklären können.
Ein Schweinekopf hing über dem von vertrockneten Schlingpflanzen umrankten Torbogen, darunter in ungelenken Lettern: SCHWEINEPEST. Schritt für behutsamen Schritt betrat Magnus den Vorderhof, als sei er vereist. Zu seiner Linken glotzten ihn abgewrackte Wohnwagen und Busse an, mit laienhaften Graffiti besprüht und von vergilbten Vorhängen in den trüben Fenstern vermummt, während rechts eine ausgeglühte Feuerstelle den Geruch von Ruß und altem, verbranntem Fett verbreitete. Hinten, an der Hauswand, saßen zwei große, magere Gestalten auf einer Bank, mit verfilzten, schlampig gefärbten Haaren und doppelten bis dreifachen Nasenpiercings, mit zerrissenen, buttonbewachsenen Lederjacken und herunterhängenden Nietengürteln — Relikte eines Punkgestus, der so sinnlos war, dass er nicht einmal mehr als Spiel funktionierte. Aber Magnus war sich seiner alten Einsichten nicht mehr sicher. Vielleicht waren die Punks nur engagiert, für seine Party. Vielleicht hatten sie sich ihre Punk-Haltung erst vor einer Woche zugelegt, und er musste sie wieder von diesem Trip herunterbringen? Es würde sich herausstellen, wie alles.
Sie nuckelten an ihren Bierflaschen und starrten ihn gelangweilt bis feindselig an. Rechts von ihnen stand eine Tür weit offen, Easy-Listening-Musik klang leise heraus. Schemenhaft wurde eine Theke sichtbar. Sofort hatte Magnus Lust auf ein Bier. Die Pseudopunks könnte er gleich noch befragen. Bier bedeutete Energie, und er brauchte reichlich davon, um die letzten Hürden vor der Auflösung des Rätsels zu nehmen. Nun hatte er ja Zeit, stand vor dem Ziel, war vielleicht sogar ein wenig zu früh; ein Bier würde ihm jetzt keiner übelnehmen; es würde ihm genau die richtige Dosis Lockerheit einimpfen.
«Eine Schluckimpfung, bitte», sagte Magnus und lächelte, wie immer, während er sich auf den Barhocker lümmelte. Der Barmann mit dem T-Shirt voller Ölflecken schaute ihn skeptisch an und schob ihm ein Hasseröder hin. Über der Theke hing eine Girlande aus winzigen, blinkenden Plastiktotenschädeln, die dem Gast zuzublinzeln schienen. Eine Punkfrau neben ihm löffelte Milchkaffee. Der Milchschaum kam Magnus für einen Moment pervers vor, so lockerweiß und schaumigheiß aufgequirlt. Keiner sagte ein Wort. In einer Ecke kickerten zwei Dreadlocks-Jungs, ganz in ihr Spiel versunken. Die Lounge-Musik knisterte wie Zuckerwatte.
Magnus beruhigte sich; jeder Schluck Bier beruhigte ihn und ließ die Gedankenströme zäher fließen. Was soeben noch als Wellengang in seinem Kopf hin- und hergeschwappt war, verteilte sich nun in alle Glieder. Irgendetwas, das wusste er, stimmte nicht in seiner Rechnung. Was war passiert die letzten Wochen? Er konnte es nicht erkennen. Dass sich etwas zusammengebraut hatte hinter seinem Rücken, war offensichtlich; ob es gutartig war oder bösartig (ein Verdacht, der sich immer aggressiver aufdrängte), stand noch dahin. War er hier richtig? Waren der Hinweise nicht zu viele, waren sie nicht zu ungenau? Gab es denn nichts Konkretes mehr?
Er spülte das Bier hinunter, stand auf und wandte sich dem weißen Rechteck aus Licht zu. Das Licht änderte seine Körnung. Er ging los. Eine Stimme rief ihm etwas hinterher. Du hast nicht bezahlt. Sofort fuhr es mit Wucht durch sein Gehirn. Bezahlt wofür? Hatte er denn ein Verbrechen begangen? Sollte er für seine Euphorie bezahlen?
« Hey! »
Es war der Barkeeper.
«Ja?»
«Du hast noch nicht bezahlt.»
Entgeistert suchte Magnus nach einem Hinweis in dem Stoppelgesicht.
«Bezahlt? Wofür denn bezahlt?»
«Für deine zwei Bier. Drei Euro.» Herausfordernd lehnte sich der Barkeeper (der immer mehr einer Wachsfigur mit angeklebten Haaren glich) über den Tresen und hielt ihm die zerfurchte Handfläche hin. Magnus war sich völlig sicher, dass er bezahlt hatte. Er bezahlte immer sofort, nicht erst nach dem Verzehr. Außerdem hatte er nur ein Bier getrunken.
«Ich habe schon bezahlt. Außerdem habe ich nur ein Bier getrunken.»
«Nein, hast du nicht. Drei Euro.» Die Wachsfigur baute sich bedrohlich vor ihm auf, mit verklebten Augen. Magnus rätselte, was gemeint sein könnte. Vielleicht war es nur eine Losung für: Die Party kostet Eintritt? Vielleicht musste Magnus sich an irgendjemandes Internetkosten beteiligen? Da er noch nicht ganz verstanden hatte, nach welchen Regeln dieses Spiel konstruiert worden war und wie weit sie reichten, sprach er kein weiteres Wort und bezahlte. Die Wachsfigur ließ Luft ab und fiel zufrieden in sich zusammen.
Draußen änderte das Licht unaufhörlich seine Farbe. Magnus suchte nach einer künstlichen Beleuchtung, fand aber keine. War der Himmel schon immer so wild gewesen? Er kicherte, ging hinüber zu den Punks und fragte sie, ob sie etwas von der komischen Party wüssten. Sie antworteten nicht, glotzten ihn nur an.
«Von der Party? Diese Internet-Party?»
Sie sagten etwas in einer Sprache, die er nicht verstand. Ein gewitzter Schachzug.
«Bitte?»
«Nix deutsch. Nix verstehn. Russki.»
«So sprechen Ausländer nur in schlechten Comics», sagte Magnus und fügte hinzu: «Wenn das gerade Russisch gewesen sein soll, dann spreche ich Hindi.»
Die Punks stellten sich taub und dumm, standen auf und trotteten über den Platz zum Ostflügel des Hauses. Magnus folgte ihnen, denn es war offensichtlich, dass sie das wollten; auch wenn sie ihn vordergründig ignorierten und lachhafte Fetzen ihres Russisch-Kauderwelschs austauschten; auch wenn oder gerade weil sie ihn keines weiteren Blickes würdigten. So reserviert verhalten sich nur Menschen, die einen anlocken wollen. Sie schlossen eine beklebte Eisentür auf und gingen hinein. Magnus fing die Tür auf, bevor sie wieder ins Schloss fallen konnte, lächelte siegesgewiss und hatte ein mit Postern tapeziertes Treppenhaus vor sich.
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