Im Impuls sprang er auf und lief in eine Zimmerecke, um nachzudenken. Er starrte die Wand an, strich mit den Fingerkuppen über die Luftbläschen in der weißen Farbe. Die Gedanken jagten einander. Seit wann hatten sich diese Leute, die er nicht kannte und die ihn nicht kannten, darauf verständigt, in dieser doppelt gezinkten Sprache zu schreiben? Was war das für ein Code? Was bezweckten sie damit? Er eilte zurück zum Computer und lud alle Seiten der letzten beiden Wochen herunter, um sie nach Hinweisen zu durchkämmen, nach versteckten Absprachen, nach dem Zeitpunkt, wo sich diese Freaks da draußen auf ihren vertrackten Code geeinigt hatten. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Während die alten Seiten sich störrisch langsam aufbauten, aktualisierte er nochmals die neueste Seite und tatsächlich: schon wieder sieben neue Einträge. Die neuen Sätze waren in sämtliche Richtungen wendbar. Übereinandergelegt und zusammengelesen aber ergaben sie ein eindeutiges Bild. Magnus ging hin und her in seinem Zimmer und wurde immer wirrer und doch irgendwie klarer. Und je länger er überlegte (und er durfte nicht sehr viel länger überlegen, denn jetzt war Zeit zu handeln!), desto mehr wurde die Vermutung zur Gewissheit.
Von der einen Internetzelle ausgehend, hatte der Krebs des Verstehens also benachbartes Gewebe infiltriert, um es zu destruieren, von dort in andere Organe hineinzuwuchern und schließlich sämtliche Textkörper zu erfassen. Die Transformation einer einzigen Zelle betraf die ganze Vernetzung. Als Magnus wieder aus dem Fenster blickte, waren die Lichter im gegenüberliegenden Haus wie auf Kommando erloschen. Er winkte und lachte. Vom Balkon ging eine Sogwirkung aus. Aus seiner Anlage splitterte die Musik leise durchs Zimmer. War denn nun eine Party oder doch schon ein Mord geplant?
Es war schwierig, die richtigen von den falschen Hinweisen zu trennen. Die Differenzierung war immens. Hatte Walter (die beiden wollten umziehen!) mittags noch schwul-hektisch mit dem Stadtplan vor seiner Nase herumgefuchtelt und Straßennamen aufgezählt (die Magnus nun wie Hohn vorkamen, spöttische Winke der Städteplaner in seine Richtung), so hatten die Hinweise jetzt auch das Stadtmagazin metastasiert. Magnus erschrak, denn es war unleugbar schon vor einer Woche gedruckt worden. Oder? Hey! Oder hatten sie es nachgedruckt und ausgewechselt? Sie? Das Telefon schrillte. Er stöberte im Bücherregal.
Straßenschilder staken aus dem Boden wie Zahnstocher aus Käsehäppchen, bewipfelt mit kleinen Rechtecken, auf denen große Namen zitterten. Es war nicht mehr gleichgültig, wo welche Worte hinzeigten, welche Straßen einander kreuzten und welche parallel verliefen. Ihre Benennung war nie willkürlich gewesen, nie. Ihre Ordnung ging weit über die offensichtliche Benennung nach Schriftstellern oder skandinavischen Städten hinaus, und ein genau bestimmbares Gefälle der Namen innerhalb dieses Netzes ließ Magnus schwindeln. Für den Moment aber konnte all dies außer Acht gelassen werden. Wichtig war, aus dem wuchernden Bedeutungsnetz die richtigen Zeichen zusammenzulesen und seinen derzeitigen Ort zu bestimmen.
Die Suche begann. Eine Schnipseljagd? Schon im verwucherten Hinterhof fand Magnus den ersten Hinweis, einen Zettel mit verschwommenen, kugelschreiberblauen Waschanleitungen. Und die Tür zum Keller stand offen. Es brannte Licht. Hinuntergehen? Nach den ersten Schritten auf den schmierigen Stufen der Treppe blieb er stehen, fühlte sich unsicher. War dies eine Falle? Dort unten wartete etwas auf ihn, das war sicher und doch nur eine Finte. Ein stärkerer Sog, ein mehrstimmiges Rufen kam woanders her. Magnus ließ den Zettel fallen und schritt wieder hinauf, dann besann er sich, ging nochmal hinunter, holte den Zettel und legte ihn draußen genau an die Stelle zurück, wo er ihn gefunden hatte.
Er lief, hey ho! die Köpenicker Straße entlang. Die Autos rauschten vorbei wie im Comic, viele Laster darunter, ungebührlich viele Laster, Mammutautos, die in Richtung Alexanderplatz donnerten. «Laster fahren an dir vorbei!», rief er und lachte, indem er gegen einen Zaun trat. Er erinnerte sich: Bei einer bestimmten Adresse hatte der Blick seines Mitbewohners besonders intensiv geflackert, und sein Finger hatte sich, träge vor Bedeutungsschwere, sehr langsam über den zerknitterten Falk-Stadtplan geschleppt. Brunnenstraße? Torstraße? Magnus lief immer schneller. An der Ecke erstand er zwei Bierdosen, um Energie und Kühle zu tanken. Der Vietnamese wagte nicht, ihm in die Augen zu blicken. Magnus hielt die Bierdose kühlend an die Stirn, fragte den Vietnamesen nach der Richtung. Er würde ihm doch ein Zeichen geben, wenn er —? Er gab ihm kein Zeichen, nein, sondern senkte erneut den Blick zu Boden.
Auf einer Baustelle war das rot-weiß gestreifte Absperrungsband dramatisch zerrissen und tänzelte in der vom Verkehr aufgewühlten Luft. Der Bürgersteig war von kleinen Zetteln, Fäden, Scherben übersät. Auf einem Werbeplakat grinsten zwei Frauen und leckten etwas Saures dabei. Die Sonne glühte wie eine frisch umgeschmolzene Münze. Magnus dachte: So sieht die Welt also aus! Ha!
Die Stimmung war umgeschlagen, es hatte einen Sprung gegeben, in der Atmosphäre, der Luft, dem Licht. In der U-Bahn hielt er es nur eine Station aus: von der Jannowitzbrücke zum Alexanderplatz. Er glühte vor, in der Mitte des Ganges stehend ohne Halt, die ruckelnden Erschütterungen mit dem Körper auffangend. Die U-Bahn ist mein Skateboard , sagte er zu einer hübschen Studentin, die laut lachte, aber wie gekitzelt. Am Alex überfiel ihn leichte Panik. Es war schon vier! Die Uhren nickten im Wind. Wohin? Magnus rannte die Torstraße hinunter, die Brunnenstraße hinauf. Die Leute sahen ihn entgeistert an. Manchen stand ein aufatmendes «Endlich» ins Gesicht geschrieben, manchen purer Hass. Nummer fünfundvierzig, hatte sein Mitbewohner gesagt. Oder vierundfünfzig? Mit Überwachungsanlage, hatte er gesagt! Es musste demnach ein komplett saniertes Haus sein. Er bog in eine Nebenstraße ein, fand ein verdächtiges Haus mit Video-Bullauge über den Klingelschildern und studierte die Namen. Sie gaben keinen Aufschluss. Er musste etwas Grundlegendes übersehen haben. Er klingelte, redete mit den knisternden Stimmen aus der Gegensprechanlage, lief kichernd zurück zur Brunnenstraße und hielt ein Taxi an, das just in diesem Moment aufgetaucht war, wie bestellt. Zu Hause angekommen, fiel Magnus über die Radtaschen seines Mitbewohners her, die plötzlich nicht mehr in dessen Zimmer, sondern im Flur aufgestapelt herumstanden. Der Anrufbeantworter blinkte: eine Botschaft von einer seit Monaten brachliegenden Bekanntschaft, die mit ihm wegen eines «Kriegsprojekts» über Geschosse reden wollte. Du kennst dich doch aus mit Geschossen? Magnus fasste sich an den Kopf. Ging es etwa um Architektur? Danach die fremde Stimme einer alten Frau: Hast du meinen Brief bekommen? Er stürmte in die Küche und durchwühlte alte Post, aber kein Brief fand sich zwischen den Rechnungen. Ein Lachanfall besprang ihn. Im Netz gab es keine neuen Einträge. Er scrollte hinab zu alten Texten. Die ineinander verhakten Sätze waren die bekannten, aber neu lesbar, wie tote Runen, die kleine Flauschbälle laichten, welche in seinen Kopf eindrangen und dort sofort zu schleimigen Gremlins aufpoppten. («Was ein gemeiner Film!», rief er aus.) Es war offensichtlich: Diese Leute hatten sich nicht nur miteinander abgesprochen, seit Tagen, vielleicht Wochen — sie hatten ihn auch beobachtet. Sie wussten so viel über ihn, seine täglichen Verrichtungen, seine Abneigungen, seine Vorlieben, dass keine andere Erklärung möglich war. Wie aber hatten sie dieses Kunststück angestellt? Stand Walter mit ihnen in Kontakt? Sein Mitbewohner , dem Magnus eh nicht mehr über den Weg traute, der immer mit gespaltener Zunge und Wattebäuschen in den Backen redete — ihr Informant? War er überhaupt im Urlaub gewesen? Solariumsbräune hatte in seiner Haut geglänzt.
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