Ein miefiger Geruch schlug ihm entgegen, ein Geruch von feuchtem, schimmelndem Papier, von Moder, Leim und Patschuli. Die Augen mussten sich an die Dunkelheit gewöhnen; es ist die Dunkelheit, die blendet, dachte Magnus, nicht das Licht. Er trat ein. Die beiden Russen sprangen behände die Stufen hinauf, er sah nur noch ihre Doc Martens um die Ecke wirbeln, und waren im nächsten Moment auch schon verschwunden. So war das also. Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß und achtete vor jedem Schritt auf Seife oder Nägel, prüfte sorgsam jede einzelne Stufe, ob sie seinem Gewicht auch standhielt, nicht vielleicht präpariert war. Er traute diesem Treppenhaus nicht mehr, diesem Vorraum zum Ziel, der sicherlich von lustigen Schikanen und bösen Finten durchsetzt war. Auffällig harmlos die Geräuschkulisse: Kinderstimmen mischten sich mit Reggae-Musik; irgendwo pfiff ein Teekessel; ein Hund winselte aus dem Keller herauf. Draußen rauschten Autos vorbei. Alles wie immer, Villa? Alles wie immer.
Die Gewissheit wuchs, dass er hier richtig war. Nur musste er den letzten Raum finden. Die Wände waren voll mit Plakaten und Zetteln. Pfeile stachen ihm ins Auge, Pfeile in alle Richtungen, hoch, runter, schräg links, gleich rechts; Vektoren, die sein Koordinatenvertrauen nur verwirren sollten. Fotokopierte Porträts von politischen Gefangenen, für deren Befreiung geworben wurde, klebten dicht aneinander, darüber schlecht gezeichnete Partyflyer, Bücherlisten alternativer Seminare, daneben Privatanzeigen für Gitarrenstunden, Aufrufe zur Revolution, Schablonengraffiti. Magnus hörte ein Raunen. Kam es aus der Luft, kam es aus den Papieren? Sein Blick blieb an einem Aufruf zum revolutionären ersten Mai hängen: ein brennendes Auto, ein roter Stern, ein Tötet-den-Kapitalismus und ein Nietzsche-Zitat. In seinem Kopf knirschte es. Was hatte mit ihm zu tun, was nicht? Der Filter war von zu vielen Bits und Bytes verdreckt, die Zeichen und Bilder konnten ungehindert durch seine Augen ins System strömen, nackt und direkt und scharf und grell, und dort herumpoltern, anecken, Konzepte verbeulen, um im nächsten Moment wieder hinauszustürmen, weil andere schon nachdrängten.
Er schloss die Augen.
Stop.
Genug gezaudert, gelesen, gerechnet. Ein Mensch musste her. Ein Mensch würde ihm Auskunft geben. Er müsste einen Menschen treffen. In so einem besetzten Haus wimmelt es doch nur so von Menschen und Hunden? Er rannte die Treppen hinauf, nahm zwei, drei Stufen auf einmal, drückte eine Türklinke hinunter, verschlossen, wieder hoch, die nächste Klinke, verschlossen, Tür daneben, Klinke, offen. Dahinter ein verhangener Gang, unbegreifliches Chaos, versiffte Ikearegale, vollgestopft mit Zeitungen und Stofffetzen, am Ende sah er einen sonnendurchfluteten Raum, mit alten Sofakissen und Bettlaken ausgelegt. Eine bebrillte, magere Frau, die gerade damit beschäftigt war, Zeitungspakete unter die Regale zu schieben, blickte ihn an.
«Ja?»
«Gibt es hier eine Party?»
«Eine Party? Nein.» Sie stand jetzt vor ihm, war hässlich wie die Nacht. Ihr Rock bestand aus ledernen Flicken.
«Sind hier nicht diese Internetleute?» Er starrte über ihre Schulter weg in das Zimmer. Ein Kind turnte auf einer Matratze herum.
«Internetleute? Wie heißen die denn?»
«Ich weiß nicht … Arne? Ist ein Arne hier? Oder eine Villa?»
Die Frau sagte nichts mehr.
«Oder ein Johnny Japan? Ein Weazle? Sven und Elke?»
«Wo wohnen die denn?»
«Bitte?»
«Wo wohnen denn diese Leute?»
«Ich weiß es nicht. Villa?» Er rief Namen in den Raum. Das Kind, rasierter Kopf, Löffel in der Hand, näherte sich.
«Weazle? Raoul? Jonna? Villa!»
«Wo! Wohnen! Die! Denn!» Die Frau geriet außer sich, ihre Halssehnen spannten, eine Ader an der Schläfe trat hervor. «Wo wohnen die?»
Magnus starrte sie an. Esoterische Bitch! , dachte er. War die verrückt? Er hatte ihr doch gesagt, dass er es nicht wusste! Weiter unten im Treppenhaus rumpelte es, Schritte hallten hoch, Stimmen wurden lauter. Das Kind lugte hinter dem Rock der Frau vor, mit großen blauen Augen, und schüttelte den Kopf. Es hielt einen Löffel in der Hand. «Geh weg!», rief es. Seine Augen weiteten sich. «Nein!», rief es flüsternd. «Geh weg!»
Die Lippen der Frau bebten. Wo wohnen die denn? Sie schob ihren Kopf vor wie ein Geier und rang nach Atem. Das Gerumpel hinter Magnus war jetzt ganz nah. Er drehte sich um.
« Was ist denn los hier? », keifte eine hohe, raue Männerstimme. Das dazugehörige Gesicht kam um die Ecke: schielende Augen, köterblonde Dreadlocks und Zähne wie jüdische Grabsteine.
« Was willste? »
Grabgeruch, nasse Erde, Restschlamm in Kannen, welke Blumen. « Häh? Häh? » Rotunterlaufene Augen schielen dich an, vom inneren Bierdruck ausgebeult.
« Was du willst! », brüllte der Typ. Sein Atem roch nach Sellerie und Karies und Alkohol und Lauge.
«Ich, äh», sagte Magnus — und suchte das Auge, das er anreden sollte, keines schien ihn anzusehen —, «hier wohnen doch diese Leute, oder?»
«Welche Leu täh ?»
«Die Leute, die ich suche. Meine Freunde sind bestimmt auch hier.»
«Hau ab», sagte der Typ, knurrend, witzlos, ganz nah an Magnussens Gesicht.
«Aber —»
«Hau ab, sag ich.»
«Nein, ich bleibe. Im Gegenteil.» Magnus machte Anstalten, an der Frau vorbeizugehen, in die Wohnung.
«Nein», flüsterte das Kind, «geh weg, geh weg!»
Plötzlich packte ihn etwas von hinten, schleuderte ihn zurück ins Treppenhaus, gegen das Geländer. Ein Schmerz zuckte in der Wirbelsäule auf. Der hässliche Typ schnaubte und spannte seinen Bizeps an. « Hauste jetzt ab, oder nicht? »
Magnus war den Tränen nahe. « Aber ich bin mir sicher, dass — »
Ein Geschrei wie von einer Höllenhyäne ertönte, im Blitztempo war der Typ im Raum, schnappte sich einen Besenstiel, drehte um, lief wie von Sinnen auf Magnus zu, schlug dabei mit dem Stiel auf den Boden im Ninjazickzack, schrie noch lauter, der Besenstiel splitterte, Holz flog durch die Luft.
Magnussens Herz raste. Nur noch diese Prüfung, dachte er, nur noch diese letzte Prüfung.
Der Typ hob das spitze, zersplitterte Ende des Stiels hoch und hielt es unter Magnussens Nase.
«Was ist los, Alter. Alter, willst du es drauf anlegen. Ist dir dein Gesicht lieb, Penner. Dein kleines, hübsches Wichsergesicht, magst du es? Häh? Häh? »
Frau und Kind waren verschwunden.
«Du kannst mich gar nicht beeindrucken», sagte Magnus. «Du kannst —»
Im nächsten Moment traf es ihn an der Stirn, ein Licht blitzte auf, dann Dunkel, dann Schmerz, er torkelte rückwärts die Treppe runter, stürzte fast, sah nichts. Hielt sich am Geländer fest und kam zum Stehen. Dann wieder der Typ. Sein Gesicht entgleiste, löste sich in wirbelnde Kreise und Striche auf, ohne Kontrolle, schrie etwas, das Magnus nicht verstand, kam wieder näher. Noch ein Schlag gegen die Stirn, diesmal mit dem Handballen. Magnus fiel die Treppe hinunter. Lag da. Eine Tür rummste zu, Schlösser rasselten. Dumpf war zu hören, wie hinter der Tür das Kind laut weinte und schrie.
Wieder aufgerappelt ging er über den Vorderhof, jemand machte ein Feuer, Magnus hielt sich den Kopf und kämpfte gegen die Tränen an. Rauchschwaden wehten an ihm vorbei. Alles drehte sich.
Okay, sagte Magnus zu sich, was jetzt. Was jetzt.
Am Kopf blutend, trat er heftig in die Pedale, legte sein ganzes Körpergewicht hinein, überholte die Autos. Das Licht wurde brüchig. Irgendwohin musste es gehen. Irgendwo war die Party, oder der Empfang, oder die Erklärung. Es war spät. Sein Herz pochte gegen die Rippen, sichtbar, ähnlich dem Puls einer dünnhäutigen Echse. Magnus musste die Zeit überholen. Die wichtigsten Dokumente hatte er im Rucksack mitgenommen: ausgedruckte Webseiten, Stadtplan, Gedichtband, Magazine. Die Hinweise verdichteten sich auf die Schwartzkopffstraße. Hatte nicht einer seiner früheren Vermieter Schwarzkopf geheißen? Wie im Golfkrieg? Autos hupten müde. Muskeln liefen heiß. Magnus fühlte sich voller Leben, voller Angst. Er hatte den Schlüssel, irgendwo. Die Zeichen begannen zu leuchten. Das letzte Naturlicht starb hinten, jenseits der Charité, sanft und friedlich weg. Zweige knackten und gaben der Luft ihre Hitze zurück. Er kettete sein Rad an. Hier musste es sein, hier in der Nähe, ganz sicher. Seine Schritte klopften als Echo in der Hirnhaut, spürbar außen im Innendruck. Er folgte der Schleife, welche die Trambahn durch eine Wohnsiedlung zog, lauschte aufmerksam in die Luft und studierte das Stadtmagazin. Ein paar Takte klassischer, blechlastiger Musik, vielleicht Bruckner, dröhnten von fern herüber. Sonst nichts, nicht in der gegenüberliegenden Kneipe, nicht unter den Scheibenwischern der parkenden Autos. Was hatte sein Mitbewohner genau gesagt? Eine Tram kam an, hielt, wartete. Mit matschschweren Beinen stieg Magnus ein.
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