Thomas Melle - Sickster

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Zwei junge Männer stehen an vorderster Front einer überhitzten Konsum- und Leistungswelt — und halten stand, bis die Beschleunigung ihr Leben erfasst, überwuchert: Der idealistische Magnus Taue schreibt für das Kundenblatt eines Ölkonzerns, fühlt sich als Loser und hasst seine Arbeit mit der Wut eines Schläfers. Thorsten Kühnemund, Manager und Macho, leidet insgeheim am erfolgreichen Hochglanzleben voller Druck und Alphatierneurosen, er betäubt sich mit Alkohol, schnellem Sex und Abstürzen im molochartigen Clubbing der Stadt. Aus Schulzeiten bekannt, freunden die beiden sich zögerlich an. Doch dann brechen die Fassaden ein. Magnus fühlt sich zu Thorstens Freundin Laura hingezogen, und alle drei strudeln ins Haltlose. So beginnt eine Suche nach irgendeiner Wahrheit des Empfindens, Denkens und Tuns — eine Suche im Rausch, Schmerz und Wahn, und in der eigenen Seele …
Einfühlsam und radikal erforscht Thomas Melle ein sich immer schneller um ein leeres Zentrum drehendes Leben — bis an die Grenzen des Ichs und darüber hinaus. «Sickster» ist ein großes diagnostisches Zeitbild — und das Romandebüt eines Autors, dessen Sprache, so Iris Radisch, «bis ins letzte Komma aufgeladen» ist.

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Er holte sich ein Bier, öffnete es und trank.

Er setzte sich wohin und ließ sich von der flachen Siebziger-Musik einlullen. Eine winzige Blessur an seiner Oberlippe brannte.

Raue Kehlen gaben gutturale Laute von sich, die sich vermengten und schwerer, härter wurden; eine Wand aus Stimmen und Gelächter, die wuchs, heranwuchs, näher kam. Lachen pappte zusammen und verstopfte die Gehörgänge; alles wurde dumpfer, ohne sich zu entfernen; alles buk zusammen, zu einem klumpigen Brei, wie zähe, erkaltende Lava. Erstarrte.

Trinken. Bekannte begrüßen. Weitergereicht werden. Gespräche bestimmen. Lachen. Lächeln. Abwägen, ausbrechen. Der Raum füllte sich. Die Musik wurde weiter aufgedreht. Paare begannen zu tanzen, Friesenrock, eine in Adelskreisen übliche Korsettversion des Rock’n’Roll. Magnus sah die Tänzer in ihrer gestanzten Ekstase, die Glieder, die herumwirbelten in vorgefertigten Bahnen, die blonden Seitenscheitel, immer wieder in die gegelte Position zurückgeworfen, die Gesichter, die sich alle so ähnlich waren um den Mund herum, schmallippig, eingekerbt, von angestrengter Freude verzerrt. Aus all diesen jungen und schon so alten Gesichtern sprach nichts als die blanke, sich ihrer selbst bewusste Frechheit. Eine jahrhundertealte Frechheit, dachte Magnus, eine durchgereichte Frechheit über die Generationen hinweg. Jeweils nur geliehen von den Eltern, welche in jedem frechen Grinsen, jeder hochgezogenen Augenbraue durchschimmerten, als Blaupause, als Morphvorlage. Jede Generation war nur eine Stufe der Verwandlung des Immergleichen. Diente nur dem ewigen Schulterschluss von Großeltern und Enkeln.

Da war Erik wieder, in seinem Jankerl. Führte galant eine hübsche Laura-Ashley-Blondine herum, ein Tippi-Hedren-Imitat, das sich bei ihm untergehakt hatte und Augen machte, als würde ihr gerade die ganze Welt zum ersten Mal erklärt. Erik redete unentwegt, aber kontrolliert auf sie ein. Sein Blick sprang ruhig von einem Objekt zum nächsten, glitt manchmal seiner hübschen Begleitung übers Gesicht, dann wieder in den Raum zurück, so als sei er der Gastgeber hier und müsse alles checkermäßig unter Kontrolle haben. Schließlich blieb der Blick auf Magnus hängen und hellte auf. Er hauchte der Blonden erst etwas ins Ohr, dann auf die Wange. Sie quittierte es mit einem Lächeln, das entzückt und abgebrüht zugleich war. Er ließ sie stehen und kam herüber.

«Wie geht’s, Taue, noch immer in der Stadt? Korrekt! Dann lassen wir gleich die Korken knallen», sagte Erik.

«Jo. Dann lassen wir paar Böller los», sagte Magnus. Eriks Augen lagen ruhig und bestimmt auf ihm, als wollten sie seinen Blick im Zaum halten.

«Karen ist auch da», sagte er, «hinten im Garten, aber Vorsicht, ist Glatteis auf der Veranda. Hat sich gerade schon einer hingelegt, aber volle Kanne.» Was sollte das bedeuten? Karen, im Garten? Wer war Karen? Glatteis, hingelegt? Was wollte er sagen? Oder war das alles wörtlich gemeint?

Sie prosteten sich zu.

«Was hast du denn für Feuerwerk dabei? Hoffentlich was Verbotenes, frisch aus Asien, ja?»

«Mach dich auf eine Höllenshow gefasst, Taue.» Wieder kam ihm Eriks Blick seltsam vor. Ruhte länger auf ihm als nötig. Schlechtes Gewissen?

«Der Himmel wird lodern. Bengalisch. Höllisch. Dantisch.»

Tippi Hedren tauchte aus dem Nichts hinter Erik auf und stupste ihn an. «Okay, ich komme.» Er zwinkerte Magnus zu. Das ist ein dreifach gezinktes Zeichen, dachte Magnus, schnipste mit den Fingern und zeigte auf ihn.

«Ich muss. Bis gleich, Freund.»

Der Himmel wird lodern? Dantisch?

Fünf Minuten vor zwölf. Draußen grummelte es schon laut. Schüsse hallten. Magnus hatte fünf oder sechs Gläser Champagner getrunken und tänzelte zwischen den Menschengruppen herum, tauchte durch dieses Meer fester Worte. Matte Augen hockten über gesteiften Kragen und glotzten gehemmt die Mitwelt an. Magnus lachte. Come on! Die Gesichter verschwammen schon zusehends. Schulterschlüsse und Umarmungen überall, wie gewohnt, auch Magnus blieb nicht verschont und verbrüderte sich mit fremden, satten Grimassen. Eine Pickelfresse glotzte ihn an, von ganz nah. Seine Beine trugen ihn sicher durch bankettlange Tischreihen. Er wippte mit dem Takt der Musik, «Last night a DJ saved my life». Gleich würden sie Prince auflegen: «1999».

Eine Rakete schoss am Fenster vorbei.

«Komm, Magnus, komm!» Jemand rief.

Vorsätze: Die alten Selbstverständlichkeiten vergessen. Die alten Freunde verloren geben und vielleicht, irgendwann, neu kennenlernen. Nichts mehr erwarten, von niemandem. Die Erwartungen der anderen nur erfüllen, wenn es sich nicht wie ein Verrat anfühlt. Zurück zur Musik driften, immer wieder. Mehr Bier trinken. Bald tanzen. Sich drehen. Tanzen und nicken.

Was Jonna wohl für Vorsätze hatte? Er konnte sie nicht fragen; sie war gar nicht gekommen.

Vorsätze, erster Zusatz: Nicht an Jonna denken.

Rieke sah ihn an. Ihre offenen, warmen Augen funkelten in der Dunkelheit des Gartens schwärzer und kostbarer als ein Stück vergessener Mitternacht. Lichtreflexe durchzuckten ihre Netzhaut.

Null Uhr. Großer Lärm. Der Rhein wurde gegrüßt und befeuert. Das neue Jahr war da.

Näher, und näher. Ein Kuss, auf die Lippen.

Kurz, und wieder gelöst.

Rieke zog gespielt verwegen an ihrer Zigarette. Magnus steckte sich auch eine an und entzündete an der frischen Glut einen Knaller, wartete zwei, drei Sekunden, bis die Zündschnur genügend weit heruntergebrannt war, und warf ihn in hohem, übermütigem Bogen in die Nacht. Zu den anderen Punkten und Sternen, zu den Nadellöchern und Hungermalen des Glücks.

«Come on!», rief er.

Raketen zerschellten am Langen Eugen, zerschnitten den Himmel in abgezirkelte Stücke. Heuler sirrten vorbei. Jetzt fiel die Flut, aus diesem Schatten heraus, in diese künstlichen Sonnen, und verpuffte. Ich sehe das alles, dachte Magnus, ich fühle das alles.

Er legte einen Arm um Rieke. Ständig wurde nachgefeuert. Der Himmel war beschäftigt, zerplatzte voller Lichtsträhnen. Feine Spinnenfüße tippten von innen gegen seine Haut. Magnus schloss die Augen und zog Rieke noch näher an sich, fast krampfhaft, und fühlte sich am Nacken getroffen, während er sie sachte, doch bestimmt bei der Schulter packte und ihr einen langen, innigen, gekonnten Zungenkuss gab.

Gekonnt, dachte er, gekonnt.

Grell gleißte eine rote Lichtspinne über ihnen auf und verglühte im Fall. Kleine Käfer und Augen stürzten in exzentrischen Bahnen mit nach unten, neonfarben, körperlos. Andere Raketen preschten nach, loderten auf, krachten geometrisch auseinander.

Der Himmel war beschäftigt. Die Jugend vorbei.

Ein Kegel rotierte vor ihren Füßen, gelb, blau, rot, weiß.

FÜNFTER TEIL UND RANDWUND

Boys don’t cry

The Cure

Dieser Glocke aus Schweißdunst, Hintergrundmurmeln und Volksmeinung entkommen, aus dem kalten Neonlicht gestürzt. Das Headset abgerissen, zum Klo. Im Großraumbüro stank es nach hundert Leibern und tausend Meinungen. Alles war abgedämpft, wie hinter einem Teppich, der ständig nachgewoben wurde von tickenden Schiffchen und säuselnden Stimmchen. Hände hackten willenlos auf abgegriffene Tastaturen ein, was glasige Augen darüber träge weglasen, ohne sich groß um den Inhalt zu kümmern. Namen schwirrten durch die Teppichluft, unzählige, meist unwichtige Namen, Politiker, Quizmaster, Soapstarlets. Wurden wiederholt wie ungeliebte Mantras, beiläufig heruntergenudelt, vermengten sich zu einem unauflöslichen Brei, der, von Sonntagsfragen, Prozentzahlen und Altersangaben gebunden, automatisch aufquoll, wie jeden Abend.

Wo andere ihre Pause machten, ging Laura immer aufs Klo. Sie machte keine Pause bei der Arbeit, wollte nichts mit den anderen Idioten zu tun haben, die sich an der Fensterfront trafen, dort blöde Äpfel und Stullen aßen und die letzten «Interviews» wiederkäuten. Laura machte nie Pause. Dafür ging sie fünfmal in ihren vier Stunden aufs Klo. Sie schloss sich dann ein in die Kabine, ließ ein paar Tropfen farblosen Urins und atmete . Der Mischgeruch aus Blähung, WC-Stein und Urin war so viel sauberer als der Sud da drinnen im Affenkäfig, dieser dicke Sud aus Studentenausdunst und Zickenparfüm, Mundgeruch und Oberlippenschweiß. Laura setzte sich auf die Klobrille und sog den künstlichen Hygiene-Geruch ein, um das Hirn freizukriegen und den Volksempfänger darin wenigstens für paar Sekunden abzuschalten.

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