Also wurde die prächtige Birke, die leider ein paar Kilo zu prächtig war, einfach auf die Straße gedonnert, mit großem Hallo, Trara und Tamtam. Sie rollte dann in Richtung Bürgersteig weiter, landete im Rinnstein und lag dort wie ein zu Tode gestreckter Schimmel. Es schien ihr aber zu gefallen. Sie schien, wie gesagt, erleichtert. Und die drei konnten wieder lachen und machten sich müde auf den Weg nach Hause.
Schon zwei, drei Kilometer weiter. Magnus fror. Mit Erinnerungen ließen sich Zeit und Kilometer überbrücken, sodass die Kälte nicht zu aufdringlich wurde. Leider war Magnus aber kein Erinnerungsmensch. Das nostalgische Schwelgen in Gewesenem gab ihm nichts, und es gelang ihm auch selten. Die Vergangenheit war ihm nicht wichtig. Ganz anders als Leif, der wohl am liebsten nochmals die ganze Schulzeit durchleben würde, wollte Magnus so wenige Gedanken wie möglich an die Vergangenheit verschwenden und sie schon gar nicht bereden oder wiederauferstehen lassen.
Gleichwohl hatte er nichts zu verstecken oder zu verdrängen, falls er das überhaupt beurteilen konnte. Er hasste weder seine eigene Vergangenheit noch die Vergangenheit an sich. Nur hatte eine von beiden ihm zu viele Versprechen ins Ohr geflüstert irgendwann, Versprechen, die noch auf ihre Einlösung warteten.
Und ein Taxi kam auch nicht vorbei.
Zwei Stunden später. Das Blau über Gimmersdorf wurde scheckiger, ging ins Weißliche, Neblige. Die Autos auf der Landstraße dröhnten lauter und zahlreicher, trotz Silvestermorgen, schoben diffuse Lichtkegel vor sich her, die den Milka-Nebel nicht auflösen konnten. Noch immer nickten und wisperten die Tannen, wenn auch leiser. Sie waren schon geschrumpft im wachsenden Streulicht.
Magnus trank die Bierdose leer, zerknüllte sie, warf sie in einen bereits zugemüllten Busch, ging weiter.
Bewaffnet mit einer in Red Bull aufgelösten Aspirin stieg er die Treppe hoch, an einer Armee alberner Damenschuhe vorbei, die meisten nie getragen. Die Schlafzimmertür stand offen. Das abgewrackte Bett ungemacht, aber leer, umzingelt von Vasen, Töpfen, Enten, Pelikanen, Statuen, von Silber, Gold und Silbergold, sprießend und herausschießend wie Orchideenstempel oder die dürren Schwänze verirrter Alter, bereit zur Befruchtung: und um das Bett Wälle aus Boulevardblättern und Cosmopolitan —Heften, die Lily sich von einem Klinkenputzer hatte aufschwätzen lassen, und Landschaften von ungetragener Billigkleidung, echten Pelzen, Markenfälschungen, Rolex-Etuis.
Die Wünsche sind suspendiert, die Lebensentwürfe verblasst, es gibt keinen Gefährten mehr, der zu einem steht, das Haus ist geblieben in gütlicher Trennung und muss jetzt herhalten als Gegenüber der Bepartnerung. Die Träume sind zerbrochen, die Scherben unter räudige Bettvorleger gekehrt, um sich nicht zu schneiden, sich niemals wieder zu schneiden. Alles Leben konzentriert sich im Jetzt. Keine Andenken an die Vergangenheit werden zugelassen, schon gar nicht welche an die gescheiterten Ehen, Teil für Teil wächst der Blick zu, wird die eigene Biographie mit Tigerkissen und Leopardenbettzeug weich erstickt.
Auch zum Jetzt gehörig: die Erotik der Spätentwickelten, dieses Noch-was-vom-Leben-haben-Wollen, ausgestellt in nackten Plastikgriechenärschen, schwülstigen Loverlippen auf gerahmten Postern, prallen Mädels als Lampenständer, schlampig versteckten Kondomen. Der kurze Flur auf dem Weg, gesäumt von Sektflaschen, Geschenken flüchtiger Liebhaber, aufgereiht wie Trophäen, von Sternenbändern umwickelt und von Plastikobst interpunktiert, und Papiersträuche und Seidenwedel, Insignien kleiner Sehnsüchte, Schleifen und Schleifchen, glitzernde Halbmonde, zwitschernde Vogelpärchen aus Ton, Stoffnikoläuse, rosarote Deckchen, denen man, obwohl jahrzehntealt, noch immer den Firmengeruch ansah, Raufaser und Flauschteppich, Vergeilung des Billigkapitalismus, Leerlauf des Lebens.
Verdammt. Magnus ließ Wasser in die Badewanne ein, zog sich aus und suchte sich unter Hunderten von eingestaubten Duschgelproben und Badelotionen die heraus, die am wenigsten exotisch-papayaesk klang. Er riss sie auf und ließ sie in das rauschende Wasser tropfen, das sich rosa färbte. Kunstefeu rankte über seinem Kopf, ein üppiger Plastikbaum kitzelte ihn an der Seite. Er befühlte seinen Hals, fand seinen Puls nicht. Unter dem Spiegel stand die Armee von Lippenstiften, Pflegemasken, Haarbändchen, Haarsprays, Schatullen, Ramschhalsketten, rosenbehauenen Zahnbürstenständern, halbvollen und leeren Parfüm-Flakons, kleinen Kupfermäusen, Porzellanengeln.
Dann stieg er in die Badewanne. Das Wasser, heiß auf der Haut, schäumte nicht, hatte den Rosastich abgelegt und sich stattdessen goldgelb verfärbt. Magnus tauchte unter, den ganzen Körper unter Wasser, schloss die Arme um seine Beine und ähnelte kurz einer Bernsteinfliege, die noch nichts vom kommenden Zeitstau, vom Wandel der Aggregatzustände weiß. Magnus hielt die Luft an; Magnus weinte.
«Na ja, der alte Witz.»
«Welcher?»
«Liegt ein Mädchen nackt und ohnmächtig vorm Crash. Kommst du vorbei, hebst sie hoch, schaust ihr ins Gesicht, lässt sie wieder fallen und sagst: ‹Nee, die kenn ich nicht.› Kommt Leif vorbei, hebt sie hoch, schaut ihr ins Gesicht, lässt sie wieder fallen und sagt: ‹Nee, die kenn ich auch nicht.› Kommt Erik vorbei, spreizt ihr die Beine, schaut kurz rein und sagt —»
«Nee, die ist nicht aus Bonn.»
«Genau», kicherte Jonna und strich sich eine schwarze Strähne aus der Stirn.
«Hast du eigentlich auch was mit dem gehabt? Irgendwann?»
«Nein. Gott bewahre! Ich bin doch ein braves Mädchen.»
Sie blickte aus dem Fenster des Cafés, eine Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen. Eine Frau mit Kinderwagen ging vorbei. Ohne den Blick vom Wagen zu lassen, sagte sie: «Ist das nicht seltsam, wie viele Paare erst nach der Schule zusammengekommen sind? Da hat man Jahre Zeit, und erst wenn alles vorbei ist, stürzen sie sich aufeinander wie bescheuert. Am besten noch in der Abi-Zeit, kurz vor Torschluss. Als hätten sie während der Schulzeit Ladehemmung gehabt.»
«Die Schule trägt eben nicht zur Entfaltung der Persönlichkeit bei. Vielmehr hemmt sie selbige», bemerkte Magnus, als würde er zitieren.
«Und kommen jetzt nicht voneinander los», vervollständigte Jonna ihren Gedanken. «Nein, es liegt nicht an der Schule an sich, glaube ich, es liegt eher an dieser Nähe. Ständig kauert man aufeinander herum, beobachtet sich und verkrustet.»
«Auf der Schule ist es wie auf dem Dorf. Alle total gehemmt und beschränkt.»
«Ja. Du und Annabelle wurden immer als Ausnahmen angesehen.»
«Kann sein.»
«Obwohl ihr gar nicht zusammengepasst habt, wie ich finde.»
«Ich habe sie ja gehasst vorher. Nein, stimmt nicht. Ich —»
«Kitschig, oder? Wenn Hass in Liebe umschlägt … »
«Ist längst vorbei. Und gehemmt bin ich jetzt auch wieder. Wie früher. Alles beim Alten. Wie der kleine Junge, dem seine Mutter das verhasste Pausenbrot in die Schule nachbringt. Kennst du doch noch, den Kleinen, oder?»
«Ihr ist übrigens nichts Besseres eingefallen, als dich zu verdächtigen.»
«Wem? Bella?», hustete Magnus. «Weshalb denn verdächtigen? Ich meine: wessen?»
«Dass du für diese anonymen Anrufe verantwortlich bist.»
«Ich? So ein Quatsch.» In Magnus schäumte eine stille, lähmende Wut hoch, wie neuerdings immer, wenn er etwas Neues über Annabelle erfuhr.
«Absurd. Ich habe sie natürlich nicht angerufen.»
«Ist klar.»
«Hallo? Ein helles Hefe, bitte.»
«Jetzt schon?» Jonna macht ihren spitzen Mund. «Na gut. Für mich auch, bitte. Und einen Korn.»
«Einen Korn? Hast du noch was zu beichten, Mädchen?»
Jonna lächelte. «Vielleicht?»
«O weh. Für mich bitte einen Wodka dazu. Und einen Korn. Danke.»
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