Da er keine praktischen Badelatschen besitzt, geht er barfuß über den steinigen, von Baumwurzeln durchpflügten Rasen, stolpert über eine Zeltschnur, einen Hering, schlägt sich fluchend die Zehen an. Er setzt sich ans Ufer. Sternenlicht treibt im Wasser. Der Himmel ist hoch, eine bleischwarze Kuppel mit pulsierenden Lichtschlieren, die Milchstraße, der Große Wagen, Kassiopeia, mehr erkennt er nicht am Himmel, mehr weiß er nicht am Himmel, und wozu auch. Den Großen Wagen wird es wenig kümmern, ob er Großer Wagen heißt oder nicht. Dann nähern sich Schritte, ein Rascheln, und Betty liegt neben ihm. Wind rauscht in den Ästen, ein Glucksen des Sees. Schweigen. Zu viel Schweigen vergeht, die Stille gewinnt, breitet sich zwischen ihren Körpern aus, wickelt sie ein, er hört sie atmen.
Als er Luft holt, um anzukündigen, dass er unbedingt ins Bett muss, weil müde, weil total fertig, weil die Augen fallen ihm zu, er ist sozusagen stehend k. o., hundemüde, legt sie den kleinen Finger ihrer Hand auf seinen. Ungefähr zwei Quadratzentimeter ihrer Haut berühren sich. Wie bedeutend zwei Quadratzentimeter sein können. Er sieht sie nicht an, kann sich aber vorstellen, wie sie aussehen muss im Sternenlicht, also schaut er lieber nicht, schaut ins Universum, das sich vermutlich im See im Spiegel betrachtet.
Irgendwann muss sie aufgestanden sein, denn er hört ihre Schritte, das Schnappen ihrer Flip-Flops, die sich schnell entfernen, hört den Reißverschluss des Zeltes, dann nichts mehr. Stille, aber eine Sternschnuppe, die krachend ins Wasser stürzt, und sein Wunsch, der elektrisch im Himmel steht, für einen Augenblick, irrational und ein Gefühl eher als eine Formulierung, leider absolut unrealisierbar.
An Schlaf ist ohnehin nicht zu denken, also beschließt er, Bier oder Wein zu kaufen. Er läuft an den Zelten vorbei, aus denen vereinzeltes Schnarchen dringt, aber natürlich gibt es keinen Wein, auch kein Bier, denn der Kiosk ist geschlossen, denn man schläft um diese Uhrzeit, was praktischer ist, also geht er zurück, vorbei am Toilettentrakt, den Waschräumen, und auf dem Betonplattenweg, der von einer von Insekten umtanzten Neonleuchte weiß erhellt ist, steht Betty im Schlaf-T-Shirt, ein Löwengesicht auf der Brust, ihre Toilettentasche im Arm.
«Nacht«, sagt sie, Blick auf seine Füße. Sie will an ihm vorbei, er will an ihr vorbei, aber beide wählen dieselbe Richtung. Ihre Oberkörper zucken vor Schreck, als sie fast aneinanderstoßen, und er, wie um einen Sturz abzufangen, umarmt sie heftig, hält sie fest, auch sie umklammert ihn, er spürt ihre Fingernägel, dann ihre Fäuste in seinem Rücken, ihr Gesicht an seinem Hals, das sich bewegt, weil sie den Kopf schüttelt. Er lässt sie los, damit sie sich umdrehen und davonlaufen kann, aber sie bleibt stehen, minutenlang, viel zu lang jedenfalls steht sie vor ihm da, mit Löwenkopf und Toilettenbeutel, vom Neonlichtviereck wie von einem Bilderrahmen aus der Nacht gehoben. Also küsst er sie, worauf es schwarz wird, Neonlampen und Sterne schließen ihr Auge. Er küsst sie, Hände an ihrem Hals, an ihren Schultern, und überall. Sie schmeckt nach Zahnpasta, er drückt sie gegen die Betonwand, dass ihr Hinterkopf aufschlägt.
«Entschuldige«, murmelt er und streichelt ihren Kopf,»entschuldige«, küsst sie, seine Hände liegen jetzt auf ihrem Gesicht, aber er hört nicht auf, sie zu küssen, und Bettys Finger tasten nach seinem Mund, seinen Wangen, als wäre sie blind. Sie gehen ein paar Schritte in der Umarmung, taumelnd, dann stemmt sie sich gegen ihn, löst sich von ihm, schüttelt wieder den Kopf. Ihr Blick aber fixiert ihn, feindselig fast, und plötzlich schnellt ihre Hand nach vorn, schlägt in sein Gesicht, und er packt ihren Ellbogen, drückt ihren Körper gegen die Wand, hält ihre Arme fest, rechts und links neben ihrem Kopf, den sie wütend schleudert, aber als er sie loslässt, ziehen ihre Hände sofort an seinem T-Shirt, ziehen ihn an sich, gleiten unter das T-Shirt, während ihr Mund den seinen sucht.
Sie schlafen im Stehen miteinander, für alles andere ist zu wenig Zeit. An die Wand des Toilettentrakts gelehnt, ihre Oberschenkel wie eine Zange um seine Hüften gelegt. Keuchend bleiben sie stehen, ineinandergefaltet, im rechteckigen Schein des Neonlichts, das wieder aufgeflackert oder nie ausgegangen ist. Sein Kopf liegt an ihrem Hals, sie schwitzen beide. Von fern nähert sich das Schlappen von Badelatschen.
«Hast du eine Zigarette?«, fragt sie.
«Komm«, sagt er, zieht sie hinter die Baracke, in den Wald, und hinunter zum See, Hand in Hand, er darf sie nicht loslassen, denkt er, wenn er sie loslässt, ist alles vorbei, ist das, was sich eben ereignet hat, nie geschehen.
Sie hocken am Ufer, rauchen Wolken in die Nacht. Viel Luft ist zwischen ihnen, und sie senden Blicke in den Himmel hinauf, aber in verschiedene Richtungen, der Himmel ist ja groß genug zum Glück. Sie sitzen da wie zwei Fremde, die zufällig im Supermarkt mit beachtlicher Wucht gegeneinandergestoßen sind.
«Der Große Wagen«, sagt Tom mit belegter Stimme, um etwas zu reden, und jetzt findet er es schade, dass er so wenig von Sternbildern weiß, wie schön könnte man einer Frau Sternbilder erklären, die ganze Nacht.
«Kassiopeia«, fährt er fort. Aber Betty weiß es besser, jetzt beginnt sie, ihm die Sternbilder zu erklären, obwohl dies traditionsgemäß eigentlich Männersache wäre: Großer Bär, Kleiner Bär, Jagdhunde, darüber hinaus Herkules, kehrt einfach die Welt um, während sie hinausdeutet, da- und dorthin, und er, sprachlos, nicht in den Himmel schaut, sondern auf ihre Wange von der Seite, auf ihren Hals, ihr Haar, das ihr kleines Ohr freilässt, das er unbedingt küssen muss, bevor der Tag kommt.
«Man könnte fast denken, dass sie uns zuschauen«, flüstert sie, wendet das Gesicht zu ihm, ertappt ihn dabei, dass er sie anstarrt, nicht die Sterne.
«Das tun sie auch«, sagt er, um etwas zu reden.
«Sicher?«
«Sicher. «Er sucht ihre Sommersprossen, ihnen möchte er Namen geben, nicht den Sternen. Fährt mit dem Finger im Zickzack über ihr Schlüsselbein,»Großer Wagen, Kassiopeia«.
Sie, mit einem Wimpernflattern, drückt ihr Kinn auf die Schulter.
«Wenn, dann finden sie uns sicher ganz schön lächerlich, mit unserer ganzen Einteilerei«, sagt sie, um auf die Sterne zurückzukommen.»Sie müssen uns lächerlich finden, mit unserem Ordnungsfimmel.«
«Uns?«, fragt er und lacht.»Wohl kaum.«
«Den Menschen an sich«, sagt sie, nach wie vor ernst, Arme um die Knie geschlungen.
«Ach so, an sich.«
«Der Mensch hat Angst vor der Unordnung, besonders am Himmel. Deswegen hat er sich hingesetzt und alles eingeteilt:»Ihr da drüben«, sagt sie,»ihr seid ab jetzt der Große Wagen, und ihr, ihr seid jetzt die Kassiopeia, okay, und ihr seid Herkules. «Betty malt im Himmel mit der Glut ihrer Zigarette.
«Irgendjemand muss schließlich Ordnung machen.«
«Vielleicht.«
«Vielleicht sind die Sterne total begeistert, dass endlich Ordnung herrscht.«
«Vielleicht.«
«Dass sie endlich mal jemand sieht und auch noch schön findet«, sagt er zu ihren Lippen. Er nimmt ihre Hand.
«Das darf nicht mehr passieren«, sagt sie.
«Ja«, sagt er.
«Nie mehr.«
Dann beugt sie sich zu ihm, schiebt seinen Oberkörper zurück, ihr Haar fällt auf sein Gesicht, sie küsst ihn. Anders jetzt, langsam, bedeutsam. Auf seinen Hüften sitzend, kreuzt sie die Arme, zieht ihr T-Shirt aus, Sternenlicht fließt über ihre Schultern, die Brüste, über ihren Bauchnabel, und in diesem Moment ist Tom davon überzeugt, dass die Zeit hier endet, sie bleibt stehen, weil sie einmal stehen bleiben muss , und kein Morgen, niemals.
Trotzdem: Irgendwann steigt die liebe Sonne über die Hügel, tut, als hätte sie von all dem nichts mitbekommen. Die liebe Sonne ist eine Ordnungsfanatikerin, schlimmer als der schlimmste Campingplatzbewohner, eine Erbsenzählerin, grauenhafte Bürokratin, und steigt pünktlich über den See. Betty und Tom, die noch einmal hinausgeschwommen sind, starren auf die rote Scheibe, die aus den Bergen bricht. Lanzen aus Licht in den See wirft. Sie schwimmen zurück, nebeneinander, im glatten stummen Wasser, ohne ein Wort zu sprechen. In Ufernähe bleiben sie stehen, umarmen einander, während sich der Vorhang der Dämmerung hebt und die Berge aus der Nacht reißt, die Villen, die Pinien, die Garagen, schläfrig und morgenfeucht und darüber das Vogelgezwitscher.
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