«Na?«, sagt er leichthin zum Steg hinauf, wo Betty inzwischen auf ihrem Tigerpfotenhandtuch liegt. Er, mit ausgestrecktem, aber zitterndem Arm, lehnt scheinbar lässig am Holz, während sie sich aufrichtet.
«Na?«, sagt auch sie. Dann wischt sie sich etwas Sand vom Bauch.»Ist ganz schön bescheuert, so weit rauszuschwimmen«, sagt sie.»Wenn du Pech hast, erwischt dich nämlich ganz schnell ein Motorboot.«
«Ach was«, sagt Tom, kommt sich aber dumm, verantwortungslos und lächerlich vor.
«Ich geh schwimmen«, sagt sie, steht auf und springt ins Wasser.
Tom holt sich Pommes, hat aber, als er auf dem Steg sitzt, plötzlich keinen Appetit mehr. Trotzdem isst er sie auf, bis zum letzten verkohlten, fettigen, in Ketchup ertrunkenen Stückchen. Wischt sich die Finger an einer Serviette ab. Auf der Wasserfläche sieht er Bettys Kopf, der manchmal untertaucht, dann ihre Füße, Beine, die dem Körper hinterher ins Dunkle gleiten. Die Sonne steht inzwischen tiefer und wirft bronzefarbenes Licht auf Betty, die aus dem See steigt, ans Ufer läuft. Er sieht, wie ihre Hüftknochen glänzen, sieht die feuchte Wölbung ihres Bauches, die Muskeln ihrer Oberschenkel. Ihre Arme sind über den Kopf gebogen, als sie mit beiden Händen ihr Haar aus der Stirn streicht.
Sicher sehen fast alle Frauen gut aus in diesem Licht, sagt er sich.
Als sie sich neben ihn setzt, ihr Handtuch zurechtlegt, tropft Wasser auf seine Brust. Er dreht sich auf den Bauch, fingiert Schlaf. Etwas später hört er, wie sie in ihrer Tasche räumt, er spürt etwas kühle Haut an seinem Arm, dann riecht er Sonnencreme, er hatte es befürchtet, aber er schläft. Etwas kitzelt an seinem Nacken, ein Insekt, das er mit einer Bewegung seiner Schulterblätter verscheucht.
«Tom?«, hört er sie.
«Hm?«
«Schläfst du?«
«Hm.«
«Könntest du kurz meinen Rücken …?«
Natürlich. Er setzt sich auf, leider stinken seine Hände nach Pommes und Ketchup, er drückt Sonnencreme hinein, ein Prusten zerstäubter Creme in seiner Handfläche, und klatscht das Zeug möglichst grob, kumpelhaft auf diese schmalen Schultern, die vor ihm sitzen. Er reibt so fest, dass die Schultern Schwierigkeiten haben, sich aufrecht zu halten.»Fertig«, sagt er.
«Soll ich dich auch …?«
«Nein!«, sagt er, etwas laut vielleicht.
«Du bist da oben aber schon ganz schön rot. «Sie deutet auf seine Schulter.
«Ich geh sowieso gleich in den Schatten«, murmelt er, indem er ihr Schlüsselbein betrachtet, wo noch ein Klecks unverriebener Creme hängt, die paar Sommersprossen über ihrer Brust, eine Haarschlange, die an ihrem Hals klebt.
Er dreht sich auf den Bauch, weil er merkt, wie sich seine Badehose wölbt, Badehosen sind ungünstig in solchen Situationen (zum Glück immerhin Boxershorts), wieder fingiert er Schlaf, während er sich ihre Hände vorstellt, auf seinem Rücken, auf seinem Hintern. Er muss ins Wasser, springt also hinab, mit dem Kopf voraus, hält sich diesmal aber in Ufernähe auf, während er sich zwingt, an Allgemeines zu denken, an ihre Rückreise, das Kreuzfahrtschiff, die allgemeine, vor ihnen liegende Zukunft, wie an die Zukunft überhaupt, die Zukunft als allgemeine philosophische Kategorie beispielsweise, was ihm nicht gelingen will, weil, wie soll er Zukunft denken, denkt er, etwas, das nicht existent ist, viel weniger noch als Gegenwart und Vergangenheit zusammen, sagt er sich, während er mit den Beinen ins Wasser tritt, um aufrecht zu bleiben, und in die Leere des Himmels blickt, jedenfalls kann er es nicht, schon gar nicht in diesem schwankenden Nachmittagslicht des Sees.
Er watet zurück, setzt sich unter seinen Baum in den Schatten. Den verbleibenden Tag bis in den Abend versucht er, Musil zu lesen, genau genommen liest er auch Musil, er liest, er blättert, aber ein Sinn will sich nicht einstellen, trotzdem tastet er mit den Augen Buchstaben für Buchstaben ab, schafft auf diese Weise an die hundert Seiten. Später geht er ein Stück um den See, beobachtet, wie rotes Licht aufs Wasser fällt, auf glühende Segelschiffe, rauchiges Bergland. Er findet ein paar Muscheln, wirft aber alle wieder weg, nur eine hebt er auf, eine grasgrüne, spitzhäusige, winzig kleine, die er Betty bringt. Wortlos nimmt er ihre Hand, als sie am Zelt steht und eben ihren Bikini zum Trocknen über eines der Seile gehängt hat (sie haben natürlich keine Wäscheleine, auch keine Wäschespinne), nimmt schweigend ihre Hand, öffnet sie und drückt die Muschel hinein.
Weil sie weder Stühle noch Essgeschirr noch Kochtöpfe mitgebracht haben, aber wie alle Menschen essen müssen, setzen sie sich am Abend in das neonerleuchtete Campingrestaurant,»Gardenia — Food«, bestellen Spaghetti und reden übers Wetter. Das Wetter, denkt Tom, es ist wirklich ein sehr ergiebiges Gesprächsthema, und er ist eigentlich dankbar, dass es das Wetter gibt. Er überlegt sich, was die Menschen am Äquator reden, vielleicht schweigen sie dort, oder sie reden tagaus, tagein dasselbe. Dass er jemals mit Betty Morgenthal über das Wetter sprechen würde, hätte er nicht für möglich gehalten. Das Wetter, so der Grundtenor ihrer Unterhaltung, ist jedenfalls schön, für Mai ausgesprochen warm, und gar kein Vergleich zum Engadin,»nein, echt unglaublich«, sagt Betty. Sie trinken Wein, beobachten durch die große Glasscheibe die schwimmende Dunkelheit draußen, sie, die einzigen Gäste, während sich der Wirt mit einer italienischen Fernsehserie über Wasser hält.
«Ich wollte dich was fragen«, sagt Betty plötzlich.
Tom hat an seinem Unterarm aber eine rote Stelle entdeckt (Sonnenbrand? Ein Mückenstich?), die er untersuchen muss.»Hm?«, sagt er, seinen Arm betastend.
«Würdest du mich für einen Liederabend begleiten, für mein Abschlussvorsingen?«
Tom nimmt einen Schluck Wein, verschluckt sich, muss husten. Betty klopft auf seinen Rücken, Tom nimmt noch einen Schluck, zündet sich eine Zigarette an.»Hm.«
«Ich dachte, wenn du jetzt vielleicht wieder mehr Zeit hast, nach den Prüfungen …«
«Kommt drauf an«, sagt er.
«Auf was?«, fragt sie.
«Ich bin in nächster Zeit wahrscheinlich nicht da. «Tom beobachtet, wie Zigarettenrauch ins Neonlicht aufsteigt. Eine der Röhren flimmert, zuckt.
«Aha?«
«Ich geh wahrscheinlich auf ein Schiff, Kreuzfahrt«, erläutert er und nickt, als ob er es vor sich selbst bestätigen müsste.»Erst mal ein halbes Jahr, dann mal sehen«, sagt er.
«Warum?«, Betty neigt und schüttelt gleichzeitig ihren Kopf, als hätte sie Wasser ins Ohr bekommen.
«Tja, warum?«Er betrachtet den schmutzigen Turnschuh, der auf seinem Knie liegt, wippend.»Um Geld zu verdienen, vielleicht?«
«Das ist doch bescheuert«, sagt Betty.»Du kannst doch auch anders Geld verdienen.«
«Klar. Bei Autohauseröffnungen in Eisleben oder was?«Tom fährt mit dem Finger den Rand seiner Sohle nach.
«Und was ist mit der Band?«Betty nimmt sich jetzt auch eine Zigarette, verschleiert ihr Gesicht, schmale Augen, mit Rauch.»Hast du es Marc schon erzählt?«
Tom schüttelt den Kopf. Reibt immer noch an seinem Schuh, wodurch seine Finger schwarz werden.»Es ist ja auch noch nicht raus«, sagt er.»Sag ihm bloß nichts. «Er starrt weiterhin auf seinen Schuh, dann nimmt er sein Glas, das fast voll ist, trinkt es in einem Zug aus, knallt es auf die Tischplatte, steht auf.»Gute Nacht«, sagt er. Einen Atemzug lang schaut er ihr ins Gesicht, das plötzlich die Konsistenz verändert, es sieht aus, als schmölze es, als zerflössen die Linien, wahrscheinlich liegt es am Zigarettendunst.
«Gute Nacht«, wiederholt er und läuft davon.
Später hört er, wie Betty den Reißverschluss ihres Zeltes öffnet, ungefähr fünf Meter von ihm entfernt, und während er wach liegt und in die Finsternis starrt, sagt er sich wieder, dass Liebe nicht sein muss. Liebe ist eine Möglichkeit unter vielen und absolut nicht zwingend. Leider hilft der Gedanke keineswegs beim Einschlafen, außerdem hat sich ein Falter ins Zelt verirrt, dessen Flügel an der Nylonwand rattern. Dazu der hohe Violinenton einer Mücke, anschwellend, abschwellend. Musil zu lesen erübrigt sich, wie sich Lesen ohne Licht im Allgemeinen erübrigt. Wieder denkt er, dass er Campingplätze hasst, ihr gesamtes Zur-Schau-Stellen des Praktischen, das nur dazu da ist, ihm selbst die eigene Lebensuntüchtigkeit vor Augen zu führen, aber in Wirklichkeit ist das Leben nicht praktisch, sagt er sich, während er den Reißverschluss aufzieht und in die Nacht taucht, das Leben ist kompliziert, schwierig und überaus unpraktisch.
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