«Man müsste wandern gehen«, sagte Tom zu Marc.
«Auf dem Rückweg können wir wandern. «Marcs Haare flatterten im Fahrtwind. Er trug eine Sonnenbrille, eine Zigarette hing ihm im Mundwinkel, und um die Lippen hatte er ein Lächeln, vor sich das Lenkrad, Italien, die Zukunft, und Tom ahnte nicht, dass er ihn so vor sich sehen würde, später, immer wieder, während er sich das Kreuzfahrtschiff wünschte und die Umkehrung der Zeit.
Sie folgten dem Inn. Rosenheim, Kufstein, Innsbruck, wo Foxli (nicht violet) ein Konzert in einem kleinen Club gab und danach Germknödel aß. Die Innsbrucker sprachen wie die Schweizer, mit einem krachenden aspirierten» k«, in dunkler, verwinkelter, ins Tal geschmiedeter Stadt, mit wenig Publikum, das eher verhalten saß und trank, was Tom verstehen konnte. Aber nie hatte man bessere Germknödel gegessen.
Am nächsten Tag fuhren sie, immer dem Inn nach, durchs Engadin, und naturgemäß dachte Thomas an Anne Hermanns. Zog die Schubladen seiner Erinnerung auf, fand jedoch nur vage Konturen, kein Gesicht, keinen Geruch, keine Haut. Die Landschaft aber des Engadin passte ganz zu seiner neuen Stimmung: Übermenschliche Höhe, schon das Tal lag fast 2000 Meter über dem Meer, wälzte sich als breites grünkarges Land zwischen ernst blickenden Felskämmen, Schneegipfeln hindurch in Richtung Italien, unterbrochen von den dunklen Flecken der Seen. Alles schien in unheimliche, überirdische Ruhe gehüllt.
Marc wollte zum Silvaplaner See. Er musste zum Silvaplaner See, sie müssten alle unbedingt zum Silvaplaner See. Außerdem zum Nietzsche-Haus nach Sils Maria, Sils , wie Marc singend, mit dem Handrücken auf die Karte schlagend, feststellte, Sils sei hier , der Ort, wo Nietzsche geschrieben und gedacht und Kopfweh gehabt hat, sei hier .
Sie parkten auf einem kleinen Platz hundert Meter nach dem Ortseingang von Sils. Als sie ausstiegen, spürten sie die Höhe. Schneegeruch. Ein kalter Wind wehte. Sie zogen sich Jacken an, stellten die Kragen auf, liefen auf der verlassenen Dorfstraße in Richtung Zentrum, vorbei an sauber geweißelten Schweizer Häusern, passierten die Dorfkirche, bevor sich rechter Hand, ganz zufällig, über einen verwaisten Parkplatz hinweg, ein Blick eröffnete: Die Tiefdunkelheit des Silvaplaner Sees, von Wind gefurcht, und dahinter zeigte die mattgrüne Weite bis hinunter nach Süden, gerahmt von den Felsgipfeln, die gegen Ende der Perspektive, am Malojapass zum Bergell hinunter, im Dunst aufgingen. Sie standen schweigend und schauten. Und Sonnenwärme lag auf den Gesichtern. Betty hatte ihre Kapuze übergezogen, trotzdem wurden einzelne Haarsträhnen vom Wind waagerecht in die Luft gepeitscht.
Als sie beim Nietzsche-Haus ankamen, hatte dieses jedoch leider geschlossen, weil Mai war. Im Mai hatte in Sils Maria alles geschlossen, wie sie feststellen mussten, nicht nur das Nietzsche-Haus, sondern auch alle Cafés, alle Restaurants, die Hotels und die Fitness-Studios, die Nachtclubs und die Sonnenstudios, wie im gesamten Engadin.»Im Mai machen sie hier sauber«, sagte Ulrich. Im Mai, wenn die Skisaison zu Ende sei, der kurze Sommer aber noch nicht angefangen habe, fegten sie den Touristenmüll aus den Straßen, packten sie das gesamte Engadin, schüttelten es einmal wie eine schmutzige Tischdecke aus, bevor die Sommergäste kämen.
Also gingen sie zum Silvaplaner See, der nicht, auch nicht von den Schweizern, geschlossen werden konnte. Ein Rundweg führte um den See. Da war kein Mensch unterwegs, nur in der Ferne ein roter Traktor.»Hier ist Nietzsche gegangen, fast jeden Tag«, las Marc aus dem Reiseführer heraus. Auf diesem Weg, allein, wie anzunehmen war, durch schütteres Nadelholz und über kahle Felder, vorbei an kümmerlichen Tannen, die sich in schweigenden Grüppchen gegen den Wind lehnten. Vor Augen immer die bläuliche Fremde, Italien.
Marc schien etwas zu suchen. Sein Kopf war nach vorn gereckt, die Augen schmal. Immer wieder blieb er stehen, drehte sich, lief weiter,»hier muss es irgendwo sein«.
«Was?«, fragte Tom, der kaum hinterherkam.
«Nietzsche ist von Sils Maria aus losgegangen, also muss er die Felsen von dieser Richtung aus gesehen haben. «Marcs Blicke vermaßen die Berggipfel, wo nun Wolkenschleier entlangflogen und sich in Karstspalten verfingen. Das Wetter ändert sich schnell im Engadin. Es ist das Einzige, was sich ändert, dachte Tom erstaunt. Das Wetter tut, als ob es eine Zeit gäbe, aber hier oben ist jenseits der Zeitgrenze. Und doch gibt es zwei verschiedene Saisons, Sommer und Winter, Wandern und Ski, außerdem die Zwischenzeiten, in denen sie saubermachen, die Natur auskehren, die doch dieselbe bleibt und als dieselbe den Menschen gleichmütig über sich ergehen lässt, diesen sie auskehrenden Menschen, der ihr herzlich egal ist.
«Hier«, Marc deutete in die Luft,»das ist es. «Er blieb vor einem unscheinbaren kleinen Felsen direkt am Ufer stehen. Es war dies ein pyramidenförmiger Block, kaum größer als mannshoch, dahinter der See.
«Das ist was?«, fragte Tom.
Marc machte ein heiliges Gesicht:»Der Felsen der ewigen Wiederkehr. Hier ist ihm die Idee gekommen«, sagte er,»weil er das gesehen hat. «Marc deutete über den Block hinweg auf die Bergkette jenseits des Tals, und nun sah auch Tom: Einer der Gipfel, von dünnen Schneezungen geleckt, hatte exakt dieselbe Form wie der kleine Felsblock am See, pyramidale Spitze, und davor, etwas tiefer versetzt, eine kleinere Spitze desselben Schnitts, die perfekte Wiederholung des Gleichen.
Als Ulrich und Betty angekommen waren, rauchten sie ein paar Zigaretten und sahen schweigend auf die Gipfel hinaus, heilige Stimmung herrschte und große Stille, nur das Wogen und Klatschen des Sees. Und Bettys Kapuze, die im Wind flatterte und knisterte. Es war kalt, kalt. Sie rauchten, traten ihre Kippen aus und warfen sie in einen frisch geleerten Papierkorb am Wegesrand, dann gingen sie langsam zurück.
Am Auto angekommen, aßen sie Käse- und Schinkenbrote. Als es zu regnen begann in peitschenden Schnüren und nur noch Fetzen blauen Himmels sichtbar waren, fuhren sie weiter, in Richtung Malojapass. An einem Parkplatz hielten sie, stiegen aus, weil der Reiseführer von einzigartigem Ausblick sprach. Betty, die auf einen großen Steinquader geklettert war, stand und schaute durch Wolkenschwaden nach Italien hinunter, in den Frühling. Tom, während er am Auto lehnte und sie rauchend von hinten beobachtete, ihr Haar, das schräg im Wind wehte, ihren dunklen, durch einen jähen Sonnenstrahl von vorn beleuchteten Umriss, spürte, dass er sich genau dieses Bild aufheben würde, nicht die kilometertiefe, gewaltige Schlucht, den Pass zum Bergell, in den das Hochtal des Engadin hinabbricht, sondern Bettys Umriss im Gegenlicht.
Langsam fuhren sie hinunter, kriechend, im dritten Gang, über endlose Serpentinen. Ulrich und Betty jammerten hinten, weil ihnen schlecht war. Und es wurde wärmer im Auto, Frühlingsluft strömte herein, als sie die Fenster aufrissen, Kastanienwälder eilten vorbei rechts und links und, sobald sie die Grenzstation passierten, die erste Palme.
«Das ist echt Italien«, flüsterte Tom. Er spürte von hinten Bettys Hände auf seinen Schultern, für einen Moment.
Auf der Piazza von Bergamo tranken sie Kaffee. Es war warm. Es war Italien. Ein schläfriger Nachmittag lag ausgestreckt zwischen den Cafétischchen. Etwas Wind fing sich in der Markise, zupfte am karierten Tischtuch, ein Aschenbecher füllte sich langsam.
Tom verschränkte die Arme hinter seinem Kopf, schloss die Augen, atmete tief ein, atmete tief aus.
«Wenn ich wüsste, dass das stimmt mit der ewigen Wiederkehr, würde ich jetzt mal so langsam Schluss machen«, sagte er.
«Hm?«Betty blinzelte schläfrig.
Tom führte langsam den Daumen im Halbkreis an seiner Kehle entlang, bog die Mundwinkel nach unten.
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