Betty aber hatte schon die Tür geöffnet und trat hinaus auf die Terrasse, die geräumiger war, als sie es für möglich gehalten hätte, 80 Quadratmeter, präzisierte Alfredo, demnach in etwa dreimal größer als die Wohnung, und voll von Pflanzentöpfen, Palmen, blühendem Oleander, Zitronen. Es regnete nicht mehr. Der Himmel, der direkt über den Pflanzkübeln begann, war rauchig an den Rändern. Darunter breitete sich das Geschachtel, Gewimmel von Dächern aller Farben den Hügel hinab. Und immer wieder die blassrötlichen ins letzte Licht gehüllten Kuppeln der Kirchen inmitten der Dächer, inmitten des Antennengeflechts, das an den Himmel kratzte. Unten lag wie eine riesige Eisfläche das Meer, durchfurcht von weißen Schiffsspuren. Links der Vesuv. Im sinkenden Abendrot. Und der Lärm der Vespas, das Hupen der dreirädrigen Minilaster, Rufen der Fischhändler, Gemüsehändler, Zigarettenhändler, alles wehte von weit nur herauf, ein Pfeifen, eine arabeske Gesangslinie von irgendwo. Es war niederschmetternd. Es war Schönheit. Nie hatte Betty Vergleichbares gesehen, also sagte sie:»Danke.«
Alfredo stand neben ihr, seine Hände beulten die Hosentaschen, etwas stolz war er offensichtlich, sogar ein wenig verlegen, als bezöge sich ihr Erstaunen auf ihn. Bedanken müsse sie sich nicht, sagte er, er habe es ja nicht gemacht. Natürlich nicht, gab Betty zu, trotzdem sei es … Sie schwieg. Sie fror etwas. Und doch hatte sie in diesen Augenblicken, von denen sie später nicht mehr würde sagen können, wie viele es ungefähr gewesen sind, weil sie eigenartig dicht ineinandergefügt waren, den Eindruck, dass man hier oben, allem enthoben, wie es vielleicht im Gebirge sein musste, stellte sie sich vor, oder auf einem Schiff in schäumender Gischt, zu laut, um die eigenen Gedanken zu hören, dass man hier, hinausgehoben über Welt und Leben, wenn auch vielleicht nicht glücklich, so doch wieder lebendig werden könnte, ausgefüllt von der Unmittelbarkeit eines nicht bedachten, nicht hinterfragten Daseins, unmittelbar anwesend und abwesend zugleich.
Während sie in seinem Bademantel im Sonnenuntergang auf der Terrasse saß und Wein trank, servierte Alfredo das Essen. Mozzarella, dann Spaghetti alle Vongole, dann Tintenfischringe in frischen Tomaten. Später las er ihr zunächst Musil vor, auf Deutsch, was sich witzig anhörte, dann Petrarca auf Italienisch, was sich schön anhörte, und indem er auf der Terrasse auf und ab ging und die Hand dabei im Rhythmus der Worte drehte, als müsse er sich selber dirigieren, hielt er zwischendurch immer wieder inne, um zu erklären, worum es ging, nämlich um das Paradoxon der unerwiderten Liebe, die erstaunlicherweise immer flammenheiß und schneekalt gleichzeitig sei und Francesco Petrarca zum ersten modernen Menschen mache, diese Liebe.
Betty aber bezweifelte das. Liebe, sagte sie, habe es schon immer geben müssen, nicht erst seit Petrarca, denn alles sei ja doch in erster Linie eine Frage der Hormone und gewisser chemischer und elektrischer Schaltreaktionen im Gehirn, erklärte sie und fühlte sich ganz als Ärztin, begabt mit einem unbestechlichen und sachlichen Blick. Er stutzte und schwieg, denn, so dachte sie, indem sie ihren unbestechlichen und sachlichen Ärztinnenblick auf ihn aufrechterhielt, was wollte er auch sagen, der Geistesmann, der nur von Büchern, nicht aber von den harten Fakten eine Ahnung hatte. Wenn sie, die Fachfrau sagte, es liege an den Hormonen, dann hatte er gefälligst den Mund zu halten.
Und er hielt den Mund. Aber er sah sie lange an, Betty Morgenthal auf dem alten Liegestuhl sitzend, in seinem Bademantel, seine Wollsocken an ihren Füßen, und hinter ihr, als eine Grundierung, die eigens für sie geschaffen zu sein schien, das schwarze Geflecht der Antennen, durch das der Himmel glomm.
«Bitte?«, fragte er, als könne er ihre Worte nicht mit ihrer Erscheinung assoziieren.
«Die DNA will überleben, auch im Mittelalter, das ist alles messbar. «Sie sandte einen unschuldigen Blick unter einem Wimpernschlag hervor, denn sie konnte ja nichts dafür. Erste Sterne flimmerten, und wie gespiegelt im weiten Stadthimmel zum Meer hin erste Lichter.
Alfredo ging ein paar Schritte auf und wieder ab. Dann blieb er stehen, strich sich mit der Hand langsam über den Hinterkopf, blickte auf den Terrassenboden, wo er etwas entdeckte, einen Weinkorken, den er aufhob, in den Fingern drehte, dann in die Hosentasche steckte.»Tja«, sagte er.»Die Frage ist nur, was vorher da ist: Die Liebe oder die messbaren Neuronenströme. Das könnt ihr nämlich nicht beweisen, welches nun die Folge wovon ist.«
Bevor sie etwas antworten konnte, klingelte es an der Tür. Freunde kamen zu Besuch, um Alfredos bestandene Disputation zu feiern. Es wurde ein langer lustiger Abend, an dessen Ende Telefonnummern ausgetauscht wurden. Denn schließlich hatte sie ja noch seine Kleider. Auf dem Nachhauseweg, als das Taxi durch die glänzende Nacht bog, blitzte wie ein vorüberhuschendes Laternenlicht vor Betty die Möglichkeit auf, ein anderes Leben zu leben, das alte mit der Schere abzuschneiden, neu anzusetzen.
Alfredo hatte sie aufgehoben, hatte sie beim Umzug mitgeschleppt, die» Betty-Kleider«, wie er sie nannte, obwohl er sie längst nicht mehr trug, ein sentimentaler Mensch, obwohl Kommunist, aber eben auch Petrarca-Leser. Ob er auch Gewalt anwenden würde, hatte ihn Betty einmal gefragt, wenn er dadurch seinen Weltkommunismus durchsetzen könnte, sein irdisches Paradies voller Petrarca- und Adorno-Leser, und da musste er kurz zögern, bevor er verneinte, Pazifist ja, aber nicht in allererster Linie. Aber eben dann doch wieder einer, der aufgrund einer sentimentalen Erinnerung Kleider aufbewahrte, die er nicht mehr trug, und nicht etwa deshalb, weil er ein unordentlicher Mensch wäre, der alles Mögliche in seinen Schränken übersähe und deswegen dort viele Jahre lang beließe, sondern einer, der beim Umzug in den Vomero diese Kleidung aus dem Schrank holte, sie zusammenlegte, sie glatt strich und sie dann im Vomero als eines der ersten Dinge wieder auspacken würde, sobald der Schrank aufgestellt wäre. (War er aber noch nicht.) Dazu noch einer, der andere vorm Ertrinken rettete. Denn sicherlich, sie dachte es manchmal, wäre sie ohne ihn ertrunken, aber das hatte sie ja in Kauf genommen, zu schwimmen, eventuell unterzugehen, denn niemand rechnete mit einem Alfredo Sandri, der einen aus den bodenlosen Tiefen dieser Stadt, dieser treibenden Existenz zog und in ein trockenes Taxi setzte.
Manchmal fragte sie sich für einen Augenblick, ob er hinter ihrem Anästhesistinnen-Dasein Weiteres vermutete, ob er diese äußere Schicht durchblickte, die inzwischen längst zum Eigentlichen geworden war, ob er hindurchschaute an manchen Abenden, wenn sie, lesend, einander gegenübersaßen, er ab und zu aufblickte, ihr Gesicht betrachtete, zärtlich, aber suchend, so als meinte er, noch nicht alles an ihr zu kennen, oder mitten bei einem Abendessen im Kreis von Freunden, zwischen Pasta und Secondo, wenn sie mit einer neuen Flasche Wein aus der Küche zurückkam, er sie dann im Türrahmen entdeckte, als sähe er sie zum ersten Mal.
An einem Donnerstag, es ist der Donnerstag nach dem Mittwoch, an dem Betty mit ihrem Kollegen Carlo Vitelli abends essen war, der Donnerstag, genau fünf Tage bevor Tom Holler mit seinem Jazzquartett in Neapel ein Konzert geben wird, das bereits halb ausverkauft ist, wie Betty erfahren hat, an diesem ansonsten gewöhnlichen Donnerstag kommt Alfredo Sandri, derjenige, der sie sieben Jahre zuvor aus dem Wasser gefischt hat, zufällig mit zwei Konzertkarten an. Er weiß, dass sie sich nicht besonders viel aus romantischer Liedmusik macht, aber er hat die Karten von einem Kollegen aus dem Klassikressort, der nicht hinkann, es sind gute, teure Karten, die man nicht verfallen lassen darf, für das Teatro Sannazaro, wo ein weltberühmter deutscher Tenor die» Winterreise «singen wird. Außerdem haben sie sich oft gestritten in letzter Zeit, und sie sollten wieder einmal zusammen weggehen, findet er. Er hat Blumen dabei, die er jetzt raschelnd hinter seinem Rücken hervorzieht. Außerdem, flüstert er ihr ins Ohr, eine weitere Überraschung, die aber erst nach dem Abendessen verraten werde. Betty Morgenthal bleibt nichts übrig, als zu lächeln.
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