Alfredo Sandri, dachte Betty Morgenthal manchmal, ohne es ihm jemals zu sagen, hatte sie einst vor dem Ertrinken gerettet.
Er hatte sie aus dem Wasser gefischt. Er hatte sie ausgeschleudert und ausgewrungen wie ein nasses Handtuch. Er hatte sie in seinen warmen trockenen Schrank gelegt. Da lag sie seither. Warm und trocken.
An jenem Tag hatte die Helligkeit der Blitze nur das Dunkel offenbart. Über den Köpfen hatten Hunderte von Schirmen gestanden, die vom jähen Licht alle zwei Sekunden aus der Düsternis gerissenen wurden. Kalter, vom Meer herauffliegender Wind. Hektisches elektrisches Leuchten des Straßenverkehrs. Und darin stand sie, die Deutsche, ohne Schirm, an der Piazza Trieste e Trento vor der berühmten Bar Gambrinus von einem Bein aufs andere tretend, das rote Opernhaus San Carlo im Blick, und wartete auf einen Bus, der nicht kam. Und fragte sich wieder, wie bereits in Bologna, wie die Italiener beim ersten Regentropfen ihre Schirme aus dem Nichts holten, woher sie sie plötzlich nahmen, als ahnten sie den Regen, jene Seltenheit, die in diesem Land die Feindlichkeit einer unberechenbaren Natur zu verkörpern und in ihrer für den Menschen tiefschädlichen Bedeutung nur von Erdbeben und Vulkanausbrüchen übertroffen zu werden schien, weshalb nass zu werden ungefähr die drittschlimmste Naturkatastrophe war, die einem zustoßen konnte und die es unter allen Umständen zu vermeiden galt, diese akute Gefährdung der Zivilisation, d. h. der Frisur, daher die aus dem Nichts gezauberten Schirme beim ersten Tropfen, was sie bewunderte, denn sie hatte keinen. Wie immer.
Und wie immer stand sie zwischen den tropfenden Regenschirmen, den Fremdschirmen, die ihr in Hals und Gesicht stachen, und winkte, da sie das Buswarten inzwischen aufgegeben hatte, mit ausgestrecktem Arm einem Taxi, wie Unzählige andere auch. Wassergischt stäubte unter Autorreifen. Blitze zerrissen die Dunkelheit. Sie hörte ein nahes Fluchen auf Neapolitanisch. Sie wandte den Blick und bemerkte einen jungen Mann, der ebenfalls ohne Schirm war, aber italienisch offensichtlich, klein, kleiner als sie, mit dunklem gewelltem Haar und italienischer Gesichtsfarbe, zwar bleich, aber nicht weiß, sondern mediterran und zur Bräunung sozusagen bereit. Den Jackenkragen hatte er hochgestellt, was aber nichts nützte, denn der Regen strömte längst am Hals hinab. Er trug Turnschuhe, geflickte Jeans, aber eine Krawatte um den Hals, außerdem eine Mappe im Arm, die er jetzt fluchend unter seine Jacke schob. Auch er streckte seine Hand aus, winkend, aber in Neapel wird zuerst derjenige bedient, der am lautesten schreit. Also sprang er auf die Straße, verdunkelte mit seinen Beinen die gelbe Scheinwerfersäule eines Taxis, schlug mit der flachen Hand auf die Motorhaube, und Betty, die neu war in dieser Stadt, dachte: So also funktioniert es hier, aha, und hörte ein Rufen aus dem offenen Taxi, das einige Meter entfernt noch einmal angehalten hatte. Ein für sie bestimmter dringlicher Blick, begleitet von einigen Handzeichen vor der Brust. Sie solle einsteigen. Sie zögerte. Ihre Haare tropften. Ein Schwall Regenwasser, aufgewirbelt von einem Autoreifen, spritzte ihr über die Sandalen bis zu den Knien. Er sah nicht aus wie ein Mörder oder Vergewaltiger, er sah aus eher wie ein Bibliothekar (obwohl er keine Brille trug).
Sie stieg ein zum Bibliothekar. Auf den Ledersitzen schwammen bereits Pfützen, worüber der Taxifahrer herzlich schimpfte, als hätten sie vorsätzlich in seinen Wagen gekotzt. Der Bibliothekar, der aber keiner war, sondern Alfredo, Publizist und Kommunist, was sie noch nicht wusste, sprach auf Neapolitanisch zu ihr, schien einen Witz zu machen, denn sogar der griesgrämige Taxifahrer musste lachen, während er den Blinker setzte und anfuhr. Betty aber, indem sie eine Haarsträhne zurückstrich, zuckte mit den Schultern. Nur Italienisch, sagte sie, leider verstehe sie keinen Dialekt, weshalb sich sofort das Herkunftsthema anbot, ach, da sei sie also Deutsche, und so weiter, ein Diskurs, der sie langweilte, weil tausendmal geführt, schon in Bologna, wo sie die letzten drei Jahre ihr Medizinstudium abgeschlossen hatte.
Warum Italien?
Ja, warum? Kaum würde sie ihm erklären, dass sie aufgrund gewisser Umstände augenblicklich fortgemusst hatte, dass sie in einem früheren Leben zwei Uni-Kurse Italienisch belegt hatte, außerdem Sängeritalienisch an der Hochschule, und eben nicht Spanisch oder Isländisch, dass es andernfalls vermutlich Barcelona geworden wäre oder Reykjavík und nicht Italien, dass es ihr aber zu dem Zeitpunkt scheißegal gewesen war, wo sie hinkam, nur weg, in der Hoffnung, ein anderer Mensch zu werden, mit anderen Erinnerungen, was allerdings leider bisher nicht eingetreten war. Weder in Bologna noch in Neapel. Natürlich sagte sie nichts davon. Sie würde es ihm nie sagen, höchstens andeutungsweise, sie würde kleine Ausschnitte davon beleuchten, allenfalls, denn dafür war sie nicht in diese durchgedrehte Stadt gekommen, um über ihre Vergangenheit zu sprechen.
Sie liebe Italien, sagte sie nach kurzem Zögern. Und es war nicht einmal ganz gelogen. Darüber hinaus habe sie hier einen Job gefunden. Also versuchte er zu erraten, was sie machte, beruflich. Er riet vieles: Kunsthistorikerin, Archäologin, Fremdenführerin, und auf einmal, Betty erstarrte, merkte, wie ihr Mund in einem Lächeln stehen blieb, weil ihr Begleiter durch die regennasse Rückscheibe aufs rote Opernhaus San Carlo deutete und triumphierend ausrief, dass er es jetzt wisse, ganz klar, sie sei Sängerin.
Ihr lächelnder Mund, der in diesem Lächeln festhing, versuchte zu verneinen, schaffte es aber nicht, weswegen sie knapp den Kopf schüttelte.
Nicht?
Kopfschütteln.
Also nicht Sängerin, dann wisse er auch langsam nicht mehr weiter, sagte er und gab auf.
«Ärztin«, hörte sie sich sagen und, als könne sie es selber nicht ganz glauben, präzisierte sie, dass sie Anästhesistin sei, am Poliklinikum Neapel, Piazza Bellini. Aber er wusste natürlich, wo das Poliklinikum lag, nämlich gegenüber vom Musikkonservatorium, er sei ja erst vor einem Jahr da gewesen, um sich den Blinddarm herausschneiden zu lassen, sagte er und schien nicht besonders enttäuscht über ihren Beruf, eher über sein ratetechnisches Unvermögen.»Anästhesistin«, wiederholte er zwei-, dreimal, während er ohne Scheu an ihr hinab- und hinaufblickte, als statte er sie in Gedanken mit der grünen OP-Kleidung aus, Umhang, Handschuhe, Häubchen, fertig ist die Anästhesistin. Er nickte. Er sei nicht gut im Raten, nie gewesen, lächelte er entschuldigend. Der Taxifahrer aber wollte endlich wissen, wo es nun überhaupt hingehe.
«Corso Vittorio Emmanuele«, befahl Betty. Selbstverständlich hatte sie den Vortritt, aber momentan stand das Taxi ohnehin im Stau, umspült von Regenfluten, der Scheibenwischer quietschte hektisch. Jetzt sei sie an der Reihe mit Raten, sagte er, aber sie wusste es ja längst: Er sei Bibliothekar. Er lachte. So sehe sie ihn also, als Bibliothekar. Sie habe eigentlich recht, fand er, fast ein Volltreffer sozusagen, wenn auch für einen Mann nicht gerade das größte Kompliment, wie er annahm. Er trug es mit Fassung. Er sei nämlich in erster Linie Leser, außerdem Kommunist, und die lächerliche Krawatte trage er nur heute, weil er heute eigentlich die Verteidigung seiner Doktorarbeit hätte absolvieren sollen (spät genug mit 36), doch diese Verteidigung habe nicht stattgefunden, weil ausgefallen, weil Streik. Und, fuhr er fort, natürlich sei er für den Streik, es gehe um bessere Studienbedingungen und so weiter, aber den bourgeoisen Herren Professoren nehme er diesen Streik nun schon überhaupt nicht ab, weil die nämlich nicht streikten, sondern auf ihren Segelyachten herumschipperten.
«Bei dem Wetter?«, fragte Betty.
«Geschieht ihnen recht«, sagte Alfredo.
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