Zu Silvester hatten die ehemaligen» Hinterhofjungs«, die an diesem Abend» Die Milchmädchenrechnung «hießen, ihren ersten offiziellen Auftritt mit Betty, vor ungefähr zwölf Zuhörern. Sie spielten in einem kleinen Club in der Ackerstraße, wo eine riesige Diskokugel ihr Lichtgeflimmer über die mit roten Stoffen ausgeschlagenen Wände drehte und auf der schummrigen, ebenfalls rotplüschig verhangenen Bühne ein antikes verstimmtes Klavier stand, dem der Deckel und zwei Tasten fehlten, und darüber, leise klirrend, ein falscher Kristallleuchter schwebte. Betty hatte einen Stapel alter Hörspielplatten auf dem Flohmarkt gekauft,»Winnetou«,»Schatzinsel«,»Fünf Freunde«, von denen sie Samples zur Musik einspielte, indem sie auf zwei alten Plattentellern minimalistische Sprachebenen bastelte, die meist nur aus ein oder zwei Sätzen bestanden, wie» du bist /du bist /du bist frei, und die anderen Bleichgesichter sind es auch«, oder:»Der Sohn des großen Manitu ist tot«, die endlos wiederholt und übereinandergeschichtet wurden. Zwischendurch spielten sie alte Countrystücke und ein paar Songs von Nick Drake, zu denen das Publikum ekstatisch tanzte, indem es die Hände mit den Bierflaschen und Zigaretten darin über den Köpfen kreisen ließ, schließlich war Silvester, und man hätte wohl auch nach gregorianischen Chorälen getanzt.
Im neuen Jahr fand Betty endlich eine Wohnung, Ein-Zimmer-Küche-Bad, gar nicht teuer. Sie zog ein und zog wieder aus. Dazwischen vergingen kaum vier Wochen. In diesen vier Wochen kehrte eine quadratische Leere in die Abstellkammer ein, außerdem in die Küche eine eher längliche und eine dritte schmale, lange Leere in den Flur. Bettys Schallplatten fehlten und ihre beiden Kochbücher, außerdem die mickrigen Kresseund Basilikumtöpfe in der Küche, die unausgepackten Kisten, das Rennrad im langen leeren Flur und auch ihr Gesang, außerdem oft auch Marc. Nach vier Wochen aber war alles wieder da: Kisten, Kochbücher, Basilikum, Rad, Gesang, Marc und Betty. Weil die Wohnung wirklich groß genug war, mit diesen riesigen vier Zimmern, dem Balkon und der Küche plus Duschkabine, Klo halbe Treppe, und weil sie ohnehin am liebsten zusammen herumsaßen. Nur die Kresse fehlte, weil eingegangen.
Manchmal fuhren Tom und Betty gemeinsam ins Dahlemer Villenviertel, redeten gegen Walkmangezischel und den Rhythmus der Schienen an, während die Kacheln und Menschen und Uhren der Bahnhöfe in Schlieren an ihnen vorbeiwischten und die in einer Stunde gemessene Entfernung sich sehr verkürzte in ihrer Wahrnehmung. Selten überschnitten sich ihre Tätigkeiten im Hermannschen Anwesen, aber die Hundeausführerin hielt sich dann diskret im Hintergrund, betrat auf keinen Fall das Haus, sondern schickte die enttäuschten Tiere nach dem Spaziergang allein zurück in den Garten und legte die Leinen auf das mit Moos überzogene und vergessene Tischchen gleich neben dem Eingangstor.
Als einmal der Unterricht aufgrund eines unumgänglichen Charity-Tennistermins kurzfristig um zwei Stunden nach hinten verschoben worden war, was Betty nicht wusste, ließ sich eine Begegnung aber nicht vermeiden. Es war Ende Februar, es schneite, es herrschte ein weißes, stilles Chaos, weil Berlin und seine Verkehrsadern, das Lebenszentrum der Stadt, kleidsam, aber unpraktisch und vollkommen unerwartet mit einer Schneedecke überworfen worden waren, wie mit einem Tuch Möbel überworfen werden, die man für längere Zeit nicht braucht.
Weil einzig die U-Bahn funktionierte, traf der Klavierlehrer pünktlich im Hermannschen Garten ein, während die Schülerin, mit dem kleinen Mercedes unterwegs, irgendwo im dichten Verkehr feststand.
Als Tom über die frische Schneehülle zur Terrasse ging, sah er als dunklen Fleck auf der weißen Fläche des Gartens Betty Morgenthal in Wintermontur, mit Parka und rot flammender Bommelmütze. So hatte er sie kennengelernt.
«Ach, Frau Morgenthal!«
«Herr Holler?«, sie lachte,»was machen Sie denn hier?«Der Schnee schnitt jeden Nachhall von ihrer Stimme. Auch die Entfernungen, die Tiefe des Raums schluckte der Schnee, alles wirkte flach, ein weißes Bild. Betty, die, hockend, die grünen Parka-Arme um den Hals eines Hundes geschlungen hatte, verlor, als das Tier aufsprang, um den Gast zu begrüßen, das Gleichgewicht und sackte nach hinten in den Schnee.
Er sei der Klavierlehrer, sagte Tom im Ton einer Amtsperson. Was die Dame dort auf der Erde mache, wenn er fragen dürfe? und er rückte, behelligt vom dreifachen Gummiballhüpfen der Hunde, seine Notentasche zurecht.
«Ich sitze. «Sie lachte.
Übertrieben umständlich näherte er sich, beugte seinen Oberkörper und reichte ihr seinen Arm.»Darf ich?«
«Vielen Dank. «Betty streckte ihre Hand aus, aber als Tom diese ergriff, zog sie ihn hinab. Er stürzte, fiel lachend neben sie, die begann, ihn mit Schnee zu bewerfen, einen Klumpen in der Hand formte und, ehe er sich wehren konnte, mit schnellen Fingern in seinen Hemdkragen steckte, wo das schmelzende Eis an seinem Nacken entlang- und hinabrann. Kreischend sprang sie auf, er versuchte, sie an den Füßen festzuhalten, aber sie war schon weiter. Sie hüpfte lachend durch das fremde weiße Bild des Gartens, rückwärts, mit dem Blick auf ihm, der er noch immer im Schnee saß und in seinem Hemdkragen fingerte.
Sie solle nur warten, rief er ihr lachend nach, was sie nicht tat, sie werde schon sehen, schrie er mit einer Stimme, von der er nicht wusste, ob sie überhaupt bei ihr ankäme, da der Schnee den Schall schluckte. Die eigenen Schritte, das Atmen, das Rufen klangen überaus nah, aber fremd. Der Schnee zog einen weißen Kreis um ihn, trennte ihn von allem anderen ab. Er sprang auf, griff tief hinunter, knetete einen Ball, in halb gebückter Haltung noch, nahm Anlauf, trat an und zielte, während Betty ihren Körper aber der Länge nach bog, den Arm zur Seite über den Bauch gestreckt, wodurch die Kugel scharf an ihr vorbeipfiff. Wieder griff er in den Schnee, rannte, während sie davonsprang, als springe sie um ihr Leben, eskortiert von den bellenden Hunden, zum weiß verhüllten Fichtenhain hinüber, wo er weit ausholte und den Ball mitten auf ihre Brust feuerte. Sie, erstaunt, schwankte kurz zwischen Lachen und Empörung, denn der Wurf war hart ausgefallen, und ging zum Angriff über. Jetzt nämlich könne er was erleben, meldete sie, verengte die Augen und beugte sich hinab, Tom lief in Richtung Terrasse, aber als er sich unvorsichtig kurz umwandte, flog eine stäubende Kugel an seinen Hals. Im Laufen, während das Eis an seiner Brust hinabrann, grub er mit beiden Händen tiefe Furchen in den Schnee, in der Ferne flatterte Bettys roter Schal, winkte ihm zu, aber der Abstand zwischen ihnen verringerte sich, er lief, die weißen Bäume und Büsche und Fläche des Gartens flogen an ihm vorbei, und er packte sie von hinten am riesigen Parka, sie wand sich, er aber hielt sie fest und rieb ihr die schmelzende Kugel ins Gesicht, schwer atmend alle beide, sie wehrte sich, biss in seine Hand, hakelte ein Bein rückwärts zwischen seine, bis beide das Gleichgewicht verloren, ins flimmernde Weiß stürzten.
Betty lag auf dem Rücken, Wangen rot, sie keuchte, ihre Augen waren noch immer schmal, hell leuchtete der Schneehimmel darin. Tom sah ihr ins Gesicht, durchs Fallen über sie gebeugt, sie lachten jetzt, atemlos, und er beobachtete, wie sich ihre Wangen mit Schneeflocken füllten, eine nach der anderen schmolz und hinterließ feuchten Glanz auf ihrem Gesicht. Ihrer beider Atemfahnen wehten ineinander. Tom spürte wie sein Arm taub wurde, er lag unter Bettys Rücken, aber er ließ ihn, wo er war, sah auf ihren Hals, der zwischen den Bahnen des Schals hervorschimmerte und pulsierte, dann wieder in die Augen, die helldunklen mit Himmel darin.
«Idiot«, flüsterte Betty.»Selber Idiot«, flüsterte Tom.»Na warte«, keuchte sie. Dann strich sie ihm eine Haarsträhne aus der Stirn, und er ließ seinen Kopf auf ihre Brust sinken, so lagen sie, wurden von den weichen Flocken zugedeckt und ruhten sich aus.
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