«Sollen wir ein Bier trinken gehen?«, fragte er endlich. Aber Tom schüttelte den Kopf, ging an ihm vorbei und lief zunächst ins Wohnzimmer, blieb dort in der Mitte des Raumes stehen, ohne zu wissen, was er da eigentlich wollte, Blick an die Wand, die sie noch immer nicht renoviert hatten, diese notdürftig übertünchte Rillen-Tapete, und er dachte an nichts, nur daran, dass er eigentlich nicht wusste, was er hier im Wohnzimmer sollte, aber er spürte, dass sich dieser Augenblick unter die Oberfläche seines Gedächtnisses schieben würde wie eine Tätowierung. Dann stolperte er in sein Zimmer. Später hörte er, wie Betty nach Hause kam, er hörte sie mit Marc leise sprechen, dann ging wieder eine Tür, jemand verließ die Wohnung. Kurz darauf ein Klopfen. Er sagte nichts, saß an seinem Schreibtisch, sah es und sah es auch wieder nicht, wie sich die nachtschwarze Pappel vor seinem Fenster im Wind beugte, die kahlen Zweige, wie ein Reisigbesen, dahinter die gegenüberliegende Häuserreihe mit all den Löchern aus Licht. Es klopfte wieder. Marcs Stimme, er öffnete die Tür:»Hey Tom, wir trinken jetzt mal ein Bier zusammen. «Als Tom seinen Arm auf der Schulter spürte, vergrub er das Gesicht in den Handflächen, stöhnte, was klingen mochte wie Schluchzen. Er stand auf, nahm die Jacke, die Marc ihm hinhielt, und sie gingen in die Nacht und liefen gegen den Wind, bis sie eine Kneipe fanden, in der sie schweigen konnten. Und Bier trinken und rauchend aneinander vorbeisehen. Und schließlich redeten sie. Marc erzählte komische Geschichten, von denen der Himmel wusste, wo er sie in diesem schwierigen Moment hernahm, über eine Gastprofessorin in Tonsatz namens Hildegard Weisz, Amerikanerin, die Haare hatte, wirklich wie Flachs, schwarze Schmetterlingsbrille und derart winzige Hände, dass sie auf dem Klavier nicht einmal eine Oktave greifen konnte, außerdem hatte sie ein Hündchen, hatte es stets dabei, einen kleinen tauben Yorkshire, und zwar saß er nicht etwa in einer Handtasche, sondern in einer glänzenden Papiertüte mit Gucci-Aufschrift, die sie, wann immer sie spielte, auf dem Klavier abstellte. Hildegard (er sagte amerikanisch» Hildegaard«) Weisz. Außerdem gab es die gute Nachricht zu vermelden, dass Marc endlich das Sockenproblem gelöst habe, das sich seit Bettys Einzug noch verschlimmert hatte. Er habe eine Erfindung gemacht, die er sich nur noch patentieren lassen müsse, dann wären sie reich: Es war eine Wäscheleine, die man an zwei Spindeln vor und zurück durch den Flur spannte, die man also von einer Stelle aus bewegen konnte und an der — und nicht etwa in getrennten Kommoden — die Haushaltsmitglieder ihre Socken, hängend, aufbewahrten, wodurch jeder durch ein Ziehen am Seil den ganzen gegenwärtigen Sockenbestand an sich vorübergleiten lassen und die jeweils passenden Einzelstücke dazuhängen konnte. Obwohl er es wirklich nicht wollte, musste Tom lachen:»Und wie findet dann jeder seine?«
«Ich weiß nicht. «Marc bog ratlos die Mundwinkel nach unten. Das sei zweitrangig, es gehe ja in erster Linie darum, Paare zusammenzustellen und nicht lauter Einzelsocken zu haben.
«Marc, ich hatte noch nie solchen Sex!«, sagte Tom. Und dann redete er noch lange über Anne, über ihre Traurigkeit, über diese unwirkliche und doch vielleicht einzig wirkliche Schneenacht, über ihre beiden unterschiedlichen Stimmlagen, von denen ja doch die dunklere, die traurige, wohl die richtige war, diejenige, die zu ihrem Blick, zu ihrer Tiefe passte, wenn sie Klavier spielte oder wenn sie ihn manchmal auf diese gewisse Art, die er nicht beschreiben konnte, ansah, und Marc hörte zu und war da und holte Bier und, als sie schon zwei ganze Packungen geraucht hatten, auch neue Zigaretten.
Am nächsten Morgen ging Tom in einen Musikladen, er fuhr eigens nach Mitte, obwohl er nicht zur Hochschule musste, und kaufte eine CD für sie. Er schwankte zwischen Schuberts» Schöner Müllerin «und der» Winterreise«, beide endeten ja mit dem Tod aufgrund einer unglücklichen Liebesbeziehung. Aber er entschied sich für die» Müllerin«, weil vielleicht nicht ganz so düster: Wunderschöne Liebeslieder gab es darin, das jubelnde, hoch fliegende» Ungeduld«, der zärtliche» Morgengruß«, bevor die Stimmung sich immer mehr eintrübte im Laufe des Liederzyklus, als ahnte der verliebte Müllerbursche die unerfreuliche Wahrheit, bis der helle klare Bach sich ganz verdunkelte und die Treulose, die blöde Kuh, letztlich an seinem Grab stand und bittere Tränen der Reue vergoss. Das hatte sie davon.
Es war ihm bewusst, dass dieses Geschenk, das er kommentarlos in einen Briefumschlag steckte und ihr per Post schickte, eines gewissen Pathos’ nicht entbehrte. Aber es schien ihm angemessen. Wochenlang ging er mehrmals täglich zum Briefkasten, nichts, nur Telefonrechnungen, Gehaltsabrechnungen, Steuerkarten für Morgenthal, Baldur und Holler, er wählte vielleicht zehn-, zwanzigmal ihre Telefonnummer, hatte sie auch einmal am Apparat, aber als er zu reden begann, sagte sie nur» hallo?«, so als hörte sie nicht, nochmals» hallo?«, während er in ihr Ohr schrie, dass er sie sehen wolle, dass er sie sehen müsse, Anne, bitte, und so fort, dann legte sie auf.
Von Betty erfuhr er nur, dass Frau Hermanns den Flügel verkauft habe. An einem Mittwochvormittag sei er abgeholt worden von vier Männern mit Trageseilen und riesigem Lieferwagen, die Hunde hätten gebellt, und Frau Hermanns habe in der Tür gestanden, die Beine in Lederstiefeln verkreuzt, auch die Arme über dem Pullover, mit einem sehr geraden Rücken, während sie undefinierbar dem Flügel hinterhergesehen habe, mit einem irgendwie doch eigenartigen Ausdruck um den Mund, bevor sie dann schnell im Haus verschwunden sei. Sonst verhalte sie sich wie immer, freundlich, aber unnahbar, mehr könne sie nicht erzählen. Also fuhr er zu ihr. Er fuhr drei Mal zu ihr, ohne sie jemals anzutreffen. Stets waren die Fenster verhüllt, sein Klingeln verhallte in den Weiten des Hauses, beantwortet nur vom freundlichen Bellen der Hunde. Aber vielleicht beobachtete sie ihn durch die Überwachungskamera, sah, wie er sich umdrehte, wie er mit den Schultern ans Haus gelehnt dastand, die Augen schloss, dann langsam an der Tür zu Boden sank und auf der Schwelle sitzen blieb. Er wartete nicht, er saß nur da, mit dem Rücken zu ihr. Er saß da, weil ihm nicht einfiel, wo er stattdessen sein könnte, und er meinte zu spüren, dass auch sie von innen an die Tür gelehnt dasaß, und sie warteten also Rücken an Rücken, vielleicht viele Stunden lang.
Beim vierten Mal aber, es war inzwischen April — Vögel sangen, raschelten in den Hecken, das Gras war über Nacht hellgrün geworden, lag wie neonleuchtender Flausch zwischen den Kiespfaden, Wogen von Tulpen —, da hörte er von fern und völlig unerwartet das Einfahrtstor, das sich mit einem Klappern öffnete. Er sprang auf und sah, wie der Mercedes der Hermanns’, mit Anne Hermanns und Volker Hermanns hinter getönten Scheiben, die Auffahrt hinauf in Richtung Garage surrte. Die Türen öffneten sich links und rechts, fast synchron, sie stiegen aus. Stöckelschuhe knirschten auf Kies, die Türen fielen, etwas versetzt, mit weichem Klacken ins Schloss. Beide trugen beigefarbene Trenchcoats, sie waren wirklich schön, sie gehörten zusammen, auch wenn sie einander nicht liebten, auch wenn sie einander hassten. Sie gehörten zusammen. Aber das war ihm egal. Er grüßte nicht, als beide in einem schwungvollen Bogen um das Auto herum auf das Haus zusteuerten, als die Schöße ihrer Mäntel im Frühlingswind flatterten, Tüten knisterten, ein leises weibliches Lachen erklang und eine Sonnenbrille mit großen Gläsern im Haar aufblitzte. Es folgte ein kurzes Zögern ihrerseits, als sie ihn sah, ein Innehalten, eine Reinigung, ein Fortwischen jeglichen Ausdrucks in ihrem Gesicht, kein Glück, kein Entsetzen, keine Fröhlichkeit, ein reines weißes Nichts war das für einen Augenblick auf ihrem Gesicht, dann sammelte sie sich, und eine Mischung aus Höflichkeit und Staunen deckte die Leere.
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