«Hallo«, sagte Tom.
Marietta bewegte erst den Kopf, öffnete dann die Augen.
«Hallo«, sagte sie.
«Hallo«, sagte Tom, obwohl er es ja bereits gesagt hatte. Marietta zog ihren Mund in eine Form, die einem Lächeln zumindest kurzzeitig nahekam. Dann atmete sie tief ein und stand auf, was sie einige Kraft zu kosten schien. Sie lehnte mit den Schultern an der Hauswand und versuchte erneut ein Lächeln, das sie nur einige Sekunden lang halten konnte, bevor die Mundwinkel unter der Last dieser Anstrengung zu zittern begannen. Sie wandte sich ab. Ihr Pferdeschwanz tanzte bei der heftigen Bewegung ihres Kopfes.
«Ich dachte«, ihr Gesicht schnellte auf die andere Seite,»ich dachte, ich besuche Marc. Tja, da bin ich«, sagte sie und spreizte ihre Handflächen in die Luft.
Tom räusperte sich, um ein Gefühl von Mitleid loszuwerden, das ihm im Hals saß und darin aufquoll, bevor er etwas sagte. Aber Marietta wusste bereits Bescheid. Wieder bebte ihr Mund, wieder drehte sie den Kopf zur Wand, indem sie begann, mit beiden Handflächen auf das Mauerwerk zu klopfen, als wolle sie der Zeit den Takt schlagen. Sie könne ja einfach noch ein bisschen hier warten, sagte sie, klemmte die Unterlippe zwischen die Zahnreihen, dann kicherte sie schrill, als wäre es ein Heidenspaß, in der Nachtfeuchte auf einem Steinabsatz zu sitzen und zu warten. Offensichtlich hatte sie sich noch nicht entschieden, ob sie Tom gegenüber ihre katastrophale Gemütslage offen zugeben sollte oder ob sie wenigstens versuchen wollte, ein wenig Fassung zu bewahren.
«Marc wird wohl nicht mehr kommen heute«, sagte Tom. Aber die Geigerin lächelte nur, als hätte er nichts gesagt. Dann plötzlich hob sie ihre Hände, ballte sie zu Fäusten und ließ sie rechts und links neben ihren Hüften auf die Hauswand niederdonnern, zwei-, drei-, viermal, immer wieder, dass der Putz rieselte, und als Tom endlich erschrocken ihre Hände packte, die doch lieber Geige spielen sollten, sah sie ihn an mit weiten Augen, in denen nun das Wasser stieg und stieg. Er hielt ihre Handgelenke, die sich wehrten und wanden in seinem Griff, bevor die Kraft aus ihrem Körper sackte und dieses kleine Gesicht an seinem Hals lag (was er nun wirklich nie für möglich gehalten hätte) und sein Hemd nass wurde, so nass, dass er sich wunderte, wie viel Flüssigkeit eine so winzige Person nur mit den Augen produzieren konnte. Plötzlich machte sie sich los und starrte ihn an, als erkenne sie ihn erst in diesem Moment. Sie schien zu erschrecken. Sie riss den Blick noch ein wenig weiter auf, dann drehte sie sich um, ihr Pferdeschwanz peitschte ihm ins Gesicht, und sie lief davon, in die erstbeste Richtung anscheinend, denn an der Kreuzung blieb sie kurz stehen, hielt inne und eilte dann in die entgegengesetzte Richtung weiter.
Marc und Betty aber schienen durch irgendeinen Riss in der allgemeingültigen Dimension in einen anderen Raum, den hermetischen Einraum der Verliebtheit, geschwebt zu sein, in dem sie für den Außenstehenden zwar sichtbar, hinter der Hülle ihrer einander umschließenden Blicke aber dennoch unerreichbar waren wie in einem Plexiglasgehäuse, klopf, klopf, klopf, keine Antwort. Und dann waren sie fortan auch körperlich immer öfter abwesend, da sie sich tagelang in Bettys Wohnung in Kreuzberg aufhielten, aus Rücksicht, wie er annahm, um ihren alten Freund Tom in seiner Einsamkeit nicht zu stören. Sie hätten ihn aber gar nicht gestört. Lieber waren ihm Zimmer mit plexiglasgetrennten Parallelräumen, ausgefüllt von gehauchten Handküssen und Liebesversprechen, als solche, die leer standen und in denen die wenigen täglichen Veränderungen, die er beim Heimkommen wahrnahm — eine umgeblätterte Zeitung, ein angebissenes Brötchen, eine gespülte Tasse —, von ihm selbst stammten. Auch Sexgeräusche von nebenan waren ihm im Zweifel lieber, so dachte er, als diese Stille.
An manchen, besonders langsamen Tagen, wenn die Farbe der Hinterhöfe nur um ein paar Nuancen dunkler war als die des Himmels, hatte er das Gefühl, durch diese eine Liebe zwei Freundschaften verloren zu haben. Auch wenn, an manchen Tagen im August, ein großes Feriendunkelblau über der Stadt lag, durchquert von Vögeln, wenn die Schatten der wenigen Wolken auf dem heißen, hell erleuchteten Asphalt klebten und die Menschen sich anzogen, als wäre dieses Berlin ein einziges großes Schwimmbad, und durcheinandergingen und nach Sonnencreme rochen, weil sie noch schnell einen Ausflug machten, bevor der Herbst kam, dann wünschte sich Tom, dass diese erste Phase der Liebe bald vorüberginge.
Denn naturgemäß gibt es so etwas wie Gewohnheit im besten Sinn, und wie der Mensch sich an alles gewöhnt, an Erfreuliches und weniger Erfreuliches, an eine neue Arbeitsstelle, an das Wetter in unbekannten subtropischen Regionen, an Krankheiten, so gewöhnt er sich auch an die Liebe. Schon Ende September waren Marc und Betty wieder öfter in der Knaackstraße zugegen. Im Oktober zog Betty sogar übergangsweise bei ihnen ein, weil die Tochter ihres Vermieters, eines schwäbischen Gymnasiallehrers, der durch umweltverträgliche Aktien zu Geld gekommen war, zum Theaterwissenschaftsstudium nach Berlin ging und Eigenbedarf anmeldete. In einem Nebensatz nachts um zwei hatte Marc diese Neuigkeit verkündet, und Tom hatte, während er verkrustete Teller in die Spüle stapelte, angemerkt, dass sie schließlich ein Zimmer frei hätten, kein Mensch brauche ein so großes Abstellzimmer.
Also war sie gekommen mit ihren Kisten und Koffern, ihrem Rennrad, das fortan im Flur stand. Sie hatte Tom umarmt und gesagt, dass sie sich freue, mit ihm zusammenzuwohnen, auch wenn sie es jetzt noch weiter bis nach Dahlem habe, zur Medizin, zu den Hunden, aber es sei ja nur übergangsweise.»Du kannst so lange hier wohnen, wie du willst«, hatte Tom gesagt und es so gemeint.»Du musst halt nur kochen, putzen und abspülen, was Frauen so machen. «Betty hatte ein braunes zerrissenes Küchenhandtuch, das einmal weiß gewesen war, von der Spüle genommen und es Tom ins Gesicht geschleudert. Tom nahm einen feuchten Lappen, weil der besser flog, und Betty duckte sich, Marc aber nicht, der hinter ihr stand, was ihnen höchst komisch erschien.
Sie lachten viel in diesem Herbst. Obwohl das Licht knapp wurde und sich Novemberstimmung in der Stadt ausbreitete, fehlte ihnen kaum etwas. Marc hatte nach den Sommermonaten wieder begonnen zu komponieren,»wer verliebt ist, komponiert nicht«, hatte er Tom gesagt, halb lächelnd. Jetzt, noch immer verliebt, aber daran gewöhnt, tat er es wieder, ausschließlich am Schreibtisch, er brauchte kein Instrument dazu, schrieb an einem Orchesterwerk, wo im vierten Satz ein Klavier erscheinen sollte, so drückte er sich aus, unvermittelt, als Deus ex Machina, unerwartet wie eine Morgenröte mitten in der Nacht. Tom, der noch Hoffnung hatte, dass Marc es sich anders überlegen würde, und ohnedies nie begriffen hatte, was ein Deus ex Machina eigentlich sollte, spielte Bach-Fugen im Winter und die Goldberg-Variationen, was er sich schon länger vorgenommen hatte. Betty, in der Abstellkammer, absolvierte ihre gurrenden, eintönigen Gesangsübungen, ihr zischelndes Atmen stundenlang, ihre halbtonweise auf- und absteigenden Terz-Melodiechen, zu denen sie auf ihrem alten E-Piano die Grundtöne anschlug. Zwischendurch trafen sie sich in der Küche, aßen und redeten, tranken Kaffee, rauchten, auch Betty rauchte gelegentlich, die Sängerin, die sich noch nicht entschieden hatte, wo sie eigentlich hinwollte — in die rauchfreie Höhenluft des Operngesangs oder doch lieber in die dämmrigen Bars des Jazz.
Sie zweifelte viel. Sie fand ihre Stimme wenig voluminös, sie verglich sich mit den großen dramatischen Sängerinnen, die ein ausladendes Vibrato hatten, schwankend wie Meeresbrandung, während sie selbst hingegen eher ein glasklarer Gebirgsbach, aber einzigartig war, so dachte Tom, in der Farbe: klares, helles Wasser, je nach Lichtstimmung von einem unverwechselbaren Türkisgrünblaujadeocker, so fand er, und er sagte es ihr mehrmals, um ihre ewigen Zweifel zu zerstreuen. Sie aber konnte sich noch immer nicht vorstellen, dass man dasjenige, was man am meisten liebte auf der Welt, ungestraft als seinen Beruf bezeichnen durfte. Sie erwartete die Quittung für ihr Lotterleben (das in stundenlangen täglichen Gesangsübungen, Theorieunterricht an der Hochschule, Singen im Extrachor der Staatsoper, Tresendienst in einem mediterranen Feinkostladen, Hundeausführen und Vorlesungen an der medizinischen Fakultät bestand), sie erwartete existentielles Unglück oder zumindest die Strafe mangelnder Begabung, die sie auf den Boden gesicherter Tatsachen zurückholen würde, auf den Boden eines ordentlichen Berufs, der unschön ist, aber ein Beruf.
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