Marc schloss am Fenster den Vorhang und sagte:»Schlaf jetzt, morgen sehen wir weiter. «Und Tom schlief.
Er schlief lange. Am nächsten Tag gegen Mittag, als sich die Tür des Krankenzimmers einen Spaltbreit öffnete und Marcs Kopf erschien, der an diesem Morgen schon mehrmals in dem vom Flur hereinfallenden Lichtkegel nahezu lautlos erschienen und daraus wieder verschwunden war, begann der inzwischen erwachte, inzwischen nüchterne, aber immer noch fiebernde Patient mit heiserer, nach eitriger Mandelentzündung klingender Stimme sofort weitere Versionen des vergangenen Abends zu rekonstruieren, worauf Marc mit krankenschwesterlicher Sorgfalt das Bett frisch bezog,»ah «und» aha «sagend, und eine Kanne Tee und Zwieback brachte, außerdem Halstabletten, Nasentropfen, Orangensaft, Taschentücher und das Küchenradio, die Grundausstattung des Krankseins. Das Zimmer war erfüllt von einer schweren, milchigen Atmosphäre, die sich auch nach dem Aufziehen des Vorhangs, als das graue Tageslicht durch das Fenster hereingeströmt war, kaum verdünnte.
Tom sagte: Im Auto sei auch über die Hunde gesprochen worden. Er sagte: Die Hunde seien eine große Belastung, so Hermanns, eine immer größer werdende Belastung, aber sie seien ja nun einmal da und man könne sie nicht wie ein Klavier in die Ecke stellen, so Hermanns. Marc schüttelte das Kopfkissen auf. Und dass sie sich im Studentenkomitee kennengelernt hätten, ob er sich das vorstellen könne?» Sie waren in der Studentenbewegung !«, sagte Tom heiser, und Marc konnte es sich wirklich nicht vorstellen, gab er zu, während er den Zwieback auf einem Teller zurechtlegte. Aber man höre es ja immer wieder, sagte er, auf der Bettkante sitzend, dass Leute in der Studentenbewegung gewesen seien, die jetzt die Allerschlimmsten sind. Manchmal, so Marc, denke er, die Menschen seien alle gleich. Es gehe ihnen doch immer nur um den eigenen Vorteil, die einen tarnten es nur geschickter als die anderen. Auch die Familien, sagte er. Unter dem Deckmantel der Selbstlosigkeit und der Liebe häuften sie Reichtümer an, die, wie sie vorgäben, ja doch nur für die Kinder seien, die wiederum letztlich nichts anderes seien als die Spiegelungen ihrer selbst, ja sie selbst seien in einer jüngeren, noch reicheren Ausgabe.»Ihre eigene Lebensverlängerung«, sagte Marc und goss Tee ein und reichte ihn Tom.»Eine Lebensaußenstelle«, krächzte Tom und aß einen Zwieback.»Eine Lebensfranchise-Filiale«, sagte Marc und klopfte einen Krümel von der Bettdecke.
Erst einige Tage später, als der Kranke wieder aufstehen durfte, fand er die beiden handgeschriebenen Zettel, die seit jenem Abend in seiner Jackentasche steckten und ohne die, wie er später gelegentlich — meist an endlosen betonfarbigen Sonntagnachmittagen, die nicht vergingen, sondern dastanden in der Form von Blöcken, in die man selber eingegossen war — denken sollte, sein Leben und das einiger anderer Personen wohl erheblich anders verlaufen wäre:
«Suchen Hundeausführer/In für drei liebe Irish Setter in Dahlem, mindestens dreimal pro Woche. Sehr gute Bezahlung!«Der letzte Halbsatz war mit orangefarbenem Marker doppelt unterstrichen, die Telefonnummer, zweifellos diejenige der Hermanns’, stand fünfmal senkrecht zum restlichen Text am unteren Ende des Zettels und war zum Abreißen bestimmt. Tom konnte sich nicht erinnern, was es damit auf sich hatte, träumte aber bereits, während das Fieber schwand, von einer neuen beruflichen Karriere.
DAS MEER DER MÖGLICHKEITEN
Von einem Augenblick zum andern verliebte sich Marc doch in Marietta, die blasse Geigerin. Als der Himmel sich erhob und darunter die noch kahlen Baumwipfel in einem dünnen, zarten Licht standen, als auch die Geräusche, das Vogelgezwitscher, Fahrradgeklingel, Gefahre der Autos, Straßenbahnen und U-Bahnen, heller und filigraner ineinander verdrahtet waren und die Trödler längst wieder ihre karierten Sofas, orangefarbenen Stehlampen, Plastiktischchen, Küchenuhren, gepolsterten Stühle und Spiegelkommoden, großformatigen Gemälde mit röhrenden Hirschen, Engeln oder Heilanden mit sehr roten Wundmalen an den Handflächen in sehr goldenen Rahmen, außerdem Waschschüsseln mit vereinzelten halbhohen Stiefelettenpaaren darin auf die breiten Bürgersteige gestellt hatten, als die Frauenkörper unter dünnerer Kleidung wieder zu erahnen waren und interessierte Blicke von Mensch zu Mensch erneut durch die Straßen segelten und das milde Seidentuch der Luft, kam Marc nicht länger um Marietta herum, wie er sagte.
Auch häuften sich die Probentermine. Die Aufführung im Rahmen der» Tage zeitgenössischer Musik «war für Anfang Juni angesetzt, und Tom konnte vom Flügel aus beobachten, wie Marc seine Konzertmeisterin bewunderte, wie er ihren geneigten Kopf anmutig fand, die Arme, die wegen des Frühlings nackt und blass waren, außerdem zierlich und schlangenhaft, wenn sie Geige und Bogen hielten, wie er all das anziehend und jedenfalls überdurchschnittlich fand. Und eines Morgens saßen sie zu dritt am Frühstückstisch, und es war sogar Kaffee in der Dose. Trotzdem achtete Marc darauf, die Beziehung als lose Freundschaft zu deklarieren, schon wegen des Arbeitsverhältnisses, damit der empfindliche Mikrokosmos des novus ensemble nicht aus dem Gleichgewicht gerate. Sagte er.
Tom aber übte viel auf Marcs Flügel, und je tiefer er in die Windungen und Vernetzungen des Stücks vordrang, desto mehr fühlte er sich darin zu Hause. Sein Ziel war es, auswendig zu spielen, weil ihn Noten auf der Bühne nervös machten. Immer hatte er am liebsten auswendig gespielt, schon als Kind, wenn er, bewundert von gescheitelten, bebrillten, perlenkettenbehängten und parfumumwölkten Eltern (nicht aber den eigenen), in Schulaufführungen Mozart- oder Beethovensonaten zum Besten gegeben hatte, auswendig, und zwar nur weil er es nicht fertiggebracht hatte, Noten zu lesen, wenn es darauf ankam, und er sich daher bereits früh darauf spezialisiert hatte, Stücke zu memorieren, bis er durch ein paar Herbie-Hancock- und Keith-Jarrett-Platten seiner (angeheirateten) Tante Linda den Jazz kennengelernt und erkannt hatte, dass man ruhig falsch spielen konnte, mit oder ohne Noten, wenn man es nur gut genug tarnte.
«Du spielst es wirklich auswendig?«, fragte ihn Marc eines Abends, als Tom im düsteren Wohnzimmer am Flügel saß und sich mit geschlossenen Augen durch den zweiten Satz des Konzerts tastete.
«Du weißt doch, dass ich keine Noten mag«, sagte Tom, ohne aufzuschauen.
Marc hatte sich auf eines der Sesselchen gesetzt und hörte zu. Das Tageslicht war ausgegangen, und von der Straße drangen nur ein paar Laternenstrahlen ins Zimmer, klebten sich an Decke und Wänden fest. Als die Musik in Stille übergegangen war, hörte Tom ein tiefes Atmen Marcs. Sie saßen schweigend. Niemand machte Licht. Nur die Tasten des Klaviers leuchteten unwirklich.
«Was ist?«, fragte Tom ins Dunkle. Marc schwieg.
«Marc?«
«Ja. «Aber dieses Wort war leise, nicht auf große Entfernungen ausgelegt, wie sie in diesem Wohnzimmer herrschten.»Wenn du es spielst«, fuhr er leise fort,»mag ich es sogar.«
«Du sagst das, als hättest du was anderes erwartet«, sagte Tom, der die plötzliche Düsternis mit einem Scherz vertreiben wollte.»Du weißt, dass ich hervorragend bin.«
«Ich weiß, ich weiß«, sagte sein Freund, der in der Ferne des Zimmers nichts war als ein marcförmiger Schatten, der auf einem sesselförmigen Schatten kauerte. Im Innern des Sesselchens aber quietschten die Federn, da Marc seinen Rücken tief in die Lehne presste, als er sagte, dass er nicht wisse und es doch wisse, was los sei, nämlich das Übliche.
«Was?«, fragte Tom.
«Dass ich es zum Kotzen finde. Sobald ich was fertiggemacht habe, finde ich es zum Kotzen. Belanglos, austauschbar.«
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