Tom sagte, ohne zu wissen, weshalb:»Mit vierzehn war ich in meine Deutschlehrerin Frau Gabel verliebt. Sie hatte blauschwarzes Haar, einen Pagenkopf«, und traf damit offenbar genau den Humor seines Gastgebers. Der lachte dröhnend.»Und?«, sagte er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte,»hatten Sie Glück mit Frau Gabel?«
«Nein«, sagte Tom.»Eher nicht.«
«Und heute?«, fragte Hermanns, offenbar noch immer amüsiert.
Bevor Tom etwas antworten konnte, erschien sie. Ein weißer Kamelhaarmantel oder Ähnliches umgab sie wie eine Wolke, wodurch sie zu schweben schien. An ihren Armen hingen Tüten, glänzende Tragetaschen an Stoffkordeln. Die Pakete, die nicht mit einem so schnellen Abbremsen gerechnet hatten, wollten noch weiter und schwankten um ihren Körper, bis sie endlich auspendelten und ruhig hinabhingen. Als sie ihre Hände mit den Tüten an den Mund führte, um eine Geste des Erschreckens anzudeuten, war das eigentliche Erschrecken schon vorüber. Das eigentliche Erschrecken, wusste Tom, hatte sich in einer sehr kurzen Versteinerung der Gesichtszüge und einem anschließenden Sichauflösen, einem leichten Abrutschen derselben geäußert, während das nun folgende zweite Erschrecken Schauspiel war und grandios wie immer. Obwohl sie mit der Abwehr der Hunde befasst war, die ihre Ankunft verschlafen hatten und nun Dreck auf ihrem Kamelhaarmantel hinterließen, indem sie daran hinaufsprangen, sagte sie, dass sie den Klavierunterricht tatsächlich vergessen habe, und zwar komplett .
Die Erledigungen, ein paar Besorgungen, sagte sie, und noch heute Morgen habe sie, nicht, Leonardo , da habe sie an den Schumann gedacht, sitz, Raffael , aber dann, in der Hektik, Platz, Nelson , in der Einkaufshektik habe sie den Schumann wieder vergessen, komplett. Es tue ihr leid!» Ich hoffe, mein Mann hat Sie nicht zu sehr gelangweilt«, sagte sie, indem sie sich melodiös Volker Hermanns zuwandte, ihren zwinkernden Blick komplizenartig aber noch auf dem Klavierlehrer liegen ließ, und sie wisse ja gar nicht außerdem, wie sie das wiedergutmachen könne!
«Lad ihn zum Essen ein«, sagte Hermanns.
Die nun folgende Stille war derart gespannt, dass keiner von ihnen, auch nicht die Hunde, es wagte, sich zu bewegen. Die Klavierschülerin sah er nur von hinten, denn in diesem lang andauernden Moment war sie ihrem Ehemann zugewandt.
«Ich weiß ja gar nicht, ob Herr Holler überhaupt Zeit hätte …«, sagte sie endlich langsam und schien sich bereits sicher zu sein, dass Herr Holler nämlich keine Zeit habe. Halb sah er jetzt ihr Gesicht von der Seite, in die Leere blickend.
«O doch«, sagte er.»Ich habe Zeit.«
«Hervorragend«, sagte Hermanns, während seine Frau noch immer wie erstarrt zwischen beiden stand.»Meine Frau nämlich«, fuhr er fort,»kocht hervorragend, wenn sie kocht.«
Da lachte sie, und es klang wie eine Handvoll Perlen, die nacheinander zu Boden fallen. Ob sie es wirklich lustig fand, konnte Tom nicht ergründen.
«Also schön«, sagte sie. Ein undefinierbares Lächeln hüllte Tom ein, während sie ihre Finger leicht über die Frisur ihres Ehemanns gleiten ließ. Und ihr Nacken im Davongehen war hoch und geschwungen wie das Bein eines Jugendstilmöbels oder der Hals eines Schwans.
«Einen Aperitif?«Hermanns lächelte kühl.
«Ich bleibe beim Whiskey«, sagte Tom.
«Sie haben Geschmack«, sagte Hermanns.
Sie auch, dachte Tom im Hinblick auf seine Frau, hatte aber offenbar den Gedanken auch gleich mit ausgesprochen.
«Wie bitte?«, sagte Hermanns.
«Bitte was?«
«Sie sagten, ich hätte Geschmack.«
«Ihre Frau. Ich meinte Ihre Frau!«, murmelte Tom und sagte damit die Wahrheit, was ihm plötzlich am unverfänglichsten erschien, denn die Wahrheit, bedachte er, wird einem selten geglaubt.
Hermanns stellte ihn scharf mit seinen Augen, drehte und drehte an seinem Augenobjektiv, bis er gestochen klar auf seiner Netzhaut erscheinen musste. Tom fühlte sich sehr klein darin, wenn auch gut sichtbar. Während Hermanns ihn eingehend studierte, indem er den Kopf in die Schräge kippte, hatte Tom das Gefühl, dass er alles wusste. Er wusste alles, und das war auf jeden Fall mehr, als er selbst wusste. Hermanns sah tief ins Mikroskopobjektiv und begann zu lächeln, so als wollte er sagen:»Aber nein, das ist ja doch kein Pantoffeltier, oh nein, das ist ein Einzeller«, und er lächelte noch, als er längst schon wieder auf den eigenen Hirschlederschuh hinabsah, der auf Dauer doch interessanter war als Tom.
Der Schuh, der an Hermanns’ übergeschlagenem Bein hing, kreiste jetzt wieder. Auch Tom betrachtete das Kreisen des Schuhs, das ihn beruhigte. Die langsamen gleichmäßigen Kreise entfalteten eine hypnotische Wirkung, indem sie immer größer wurden und alle anwesenden Dinge, Tiere und Menschen in ihr rotierendes Kraftfeld zogen. Ein kreisender Rhythmus pulsierte in den Ohren, unterlegt von Dr. Hermanns’ Stimme, die vom studentischen Komitee sprach, wo sie sich kennengelernt hätten, seinerzeit . Toms Wangen flackerten. In den Schläfen pochte es. Man sei sehr politisch gewesen, sagte Hermanns, vor allem Anne. Adorno sei von ihr gelesen worden und nach Frankfurt zu den Vorlesungen sei natürlich gefahren worden, und und und. Tom fixierte sein Whiskeyglas. Damit es sich nur ja nicht bewegte. Hermanns sagte: Man habe das eben mitgemacht und sich da reingesteigert, ja eigentlich rein geredet seinerzeit, sagte er, und es wirklich geglaubt, weil man jung war und sich eingebildet habe, die Weltzusammenhänge zu überblicken, es in Wirklichkeit aber nicht getan habe. Jetzt, wo man sagen könne, die Weltzusammenhänge tatsächlich zu überblicken, müsse man sagen, dass natürlich alles idiotisch gewesen sei, aber der Mensch, zumal der junge Mensch, sehne sich nach Überzeugungen, auch wenn sie falsch, nachgerade idiotisch seien, aber eine schöne Zeit sei es doch gewesen,»eine tolle Zeit«, sagte Hermanns,»war das schon, und Anne, das dürfen Sie mir glauben, sie war eine Sensation, sie hätte alle haben können, das dürfen Sie mir glauben. Nun ja«, sagte er und lächelte wehmütig.
Tom beobachtete einäugig, wie aus seinem leeren Whiskeyglas ein weiteres Glas hervorging, wie ein junges Glas sich von dem alten abspaltete, so dass fortan zwei Gläser da waren.
Jetzt dagegen, sagte Hermanns, sei alles eine Belastung, das Haus sei eine Belastung, der Garten sei eine Belastung, die Hunde seien eine Belastung, ja auch er selbst sei eine Belastung, sei vermutlich die größte Belastung von allen. Aber er lachte darüber wie über einen gelungenen Witz. Tom überlegte, in welches der beiden Whiskeygläser er sich nachschenken sollte. Hermanns sagte:»Spaß beiseite. «Er sagte:»Weltzusammenhänge. «Tom fixierte die Whiskeygläser. Hermanns sagte:»Ohnmacht der Politik. «Er sagte:»Lächerlich. «Und verschwand. Ein Schleier fiel von der Decke und verhüllte ihn. Ein heller Duft hüllte alles ein, verdunkelte den Raum.
«Thomas? Ist Ihnen nicht gut?«Eine Hand an seiner Wange, auf seiner Stirn, kühl, glatt, unendlich liebevoll. Er hielt ihr Handgelenk fest, flüsterte:»Anne!«Ihr helles Auge.
«Thomas, Sie haben ja Fieber!«Und ihr Atem streichelte über seine Wange, ihr Duft lag auf seinen Augen, die Weichheit ihres Mohairpullovers.
«Du bleibst erst mal im Bett«, sagte Marc mit krankenschwesterlicher Strenge, nachdem die Säule des Fieberthermometers, das er nach längerem Suchen im hintersten Dunkel des Arzneischränkchens gefunden hatte, in Toms Mund auf 39,7 Grad Celsius gestiegen war.
Marc kochte Tee. Er saß auf der Bettkante, hörte mit krankenschwesterlicher Geduld die von Alkohol und Fieber verwirrten, sich im Kreis drehenden und umständlichen Erzählungen seines Patienten. Der sagte: Im Wagen, nicht dem großen, sondern dem kleinen Mercedes der Hermanns’, sei er von Dr. Hermanns zum Prenzlauer Berg gefahren worden, weil Anne (er sagte Anne und betonte und genoss es) der Meinung gewesen war, man könne ihn unmöglich in seinem Zustand (der viele Whiskey, das sei unverantwortlich, hatte sie gesagt) allein nach Hause fahren lassen, was eventuell ebenso unverantwortlich gewesen sei, hatte doch ihr Mann, soweit sich Tom erinnerte, kaum weniger getrunken als er selbst. Im Auto habe Tom, wie er im Bett dachte und es Marc erzählte, ununterbrochen darüber nachgedacht, was im Einzelnen im Wohnzimmer geschehen war, als er Annes Handgelenk genommen und ihren Vornamen ausgesprochen hatte. Schon währenddessen, erinnerte er sich, habe er sich überlegt, was eigentlich gegenwärtig geschehe und ob das, was er sich vorstelle, überhaupt geschehe oder nicht oder etwas ganz anderes oder gar nichts, habe er im Auto gedacht. Gleichzeitig, sagte er zu Marc, habe Dr. Hermanns während der Fahrt über die Unterscheidung von Lebensunterhalt und Lebens unterhaltung gesprochen. Seine Kinder nämlich könnten nicht unterscheiden, was mit Lebensunterhalt gemeint sei und was mit Lebens unterhaltung , und sie nähmen das eine für das andere, und tatsächlich meinten sie, mit der Lebensunterhaltung ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, wo die Lebensunterhaltung, ihre sogenannte Kunst, ja doch kalter Kaffee sei! Mehrere Male habe er die Worte» kalter Kaffee «sehr laut gesagt, habe damit Toms Gedanken unterbrochen, die um die Frage gekreist seien, was sich im Wohnzimmer eigentlich ereignet hätte, ob er sie geküsst hatte oder nicht. Einmal denke er: ja, dann wieder denke er: nein, denn er wird ja wohl nicht so bescheuert gewesen sein, Anne Hermanns im Beisein ihres Ehemanns abzuknutschen. Dann wieder denke er: ja, du bist doch so blöd gewesen und hast sie geküsst.
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