Jede Stimmführung, jede Figur in den einzelnen Instrumenten aber geht allein, von den anderen isoliert, bis scheinbar zufällig Trompete und erste Violine in der Luft einander begegnen und unisono eine kurze Wegstrecke zurücklegen, bevor sie — wie im Zeichentrickfilm — ihres physikalisch unmöglichen Schwebens gewahr werden, erschrocken innehalten, hinunterstarren und in das dunkle Tosen des Orchesters abstürzen und zerschellen. Expressives Aufbäumen folgt dem Untergang. Der aber endet nicht im Nichts, sondern im fröhlichen Schalten und Walten der Materie. Denn was bleibt, so will es der Komponist, ist das Geklapper der Gegenstände, der Klang der unsterblichen Dinge. Die gedämpften Celli, Kontrabässe und Geigen schratteln unter dem Holz umgedrehter Bögen, die Klaviersaiten krächzen unter dem Zupfen und Ziehen der Fingernägel wie fröhliche, selbständig gewordene Haushaltsgeräte, Toaster, Drucker und elektrische Zahnbürsten, und kichern leise.
Dann Stille, weil dies ein Konzert ist und nicht die Wirklichkeit. Der zweite Satz ist beendet. Tom spürt wieder seine Hände, die zu ihm zurückgekehrt sind, sich wie eiskalte Klumpen auf seinen Schoß gelegt haben. Um ihn herum schließt sich der Saal, die Reihen der Zuschauer, die zu zwei Dritteln gefüllt sind, schießen heran, verschwimmen aber zu einem zweidimensionalen impressionistischen Wandbehang aus verschiedenen Farbtupfern, worin Schwarz, Beige und Grau dominieren, Letzteres ausgehend vom Haupthaar des Publikums, das, wie Tom annimmt, sicher größtenteils gezwungen worden ist hierherzukommen, entweder aufgrund einer Wichtigkeit im kulturellen Leben der Stadt (deren Grad unter anderem davon abhängt, ob man zu derartigen Veranstaltungen gezwungen wird oder nicht) oder durch ein schlechtes Gewissen der Neuen Musik gegenüber, dem es abzuhelfen gilt, womit heute Abend begonnen werden soll, oder durch ein Konzertabonnement. Ein paar Musikstudenten sind von ihren Professoren gezwungen worden zu kommen, wie er annimmt, ein paar Touristen durch den Umstand, dass für die Komische Oper keine Karten mehr da gewesen sind, einige Kritiker auch, die das neue Musikgeschehen zweitverwerten, indem sie ihr spärliches Geld mit dessen Besprechung verdienen, und viele dieser Gezwungenen überlegen sich vielleicht schon seit Beginn des Konzerts, wie lang doch eineinhalb Stunden sein können, wenn man nichts ärger sich wünscht als ein Glas Wein auf dem Sofa und die Tagesthemen.
Die Zeit aber, sie ist unbestechlich und für alle gleich. Sie bewegt sich in Richtung Satz Numero 3. Dieser Satz Numero 3 ist ein leeres Blatt. Als Überschrift trägt er» Chaos? Nichts? Wohllaut?«. Tom hört, wie der Wandbehang anfängt, im Programmheft zu blättern, wie sich das Hüsteln allmählich zum Husten steigert, wie einzelne Farbtupfer beginnen, einander zuzuflüstern Ist es schon zu Ende? Können wir schon zum Sektempfang? Ist es wirklich schon zu Ende??
Das novus ensemble hält sich an den Instrumenten auf den Schößen fest und starrt in die Noten, die keine sind. Man starrt hinein, wie in einen Krater, den ein vorzeitlicher Meteorit mitten in einem Wohngebiet hinterlassen hat. Tom blinzelt. Er liest die Aufschrift» Bösendorfer «auf dem Flügel. Er hört das Hüsteln. Und er hört, wie das ensemble auf einer sich vielfach teilenden Bahn ins leere Universum hinausgetrieben wird, wo Schweigen herrscht und Ratlosigkeit und Hüsteln. Er hört, während er immer wieder» Bösendorfer «liest, wie die Säugetiere, die Tiere der Luft und des Wassers, die Amphibien und Gliederfüßer und Menschen umherirren und sich die Ohren zuhalten vor dieser Stille, wie sie sich von Hochhäusern hinabstürzen, auf den Beton vielspuriger Straßen, in die begradigten Wasserkanäle vor Bürogebäuden, wie sie hinter ihren Schreibtischen sitzen und abwarten, wie sie Dinge in ihre Telefone hineinsagen und Zeichen schreiben in ihre Computer, meistens Kalkulationen ihrer verbleibenden Zeit, und wie sie in Krankenhausbetten hinschrumpfen und sterben oder zu Hause ganz überraschend vor dem laufenden Fernseher, wie sie sich die Köpfe blutig schlagen an den Glastüren von Einkaufszentren und wie andere ihnen dabei zusehen und hüsteln.
Und da fällt ihm seine Klavierschülerin ein. Er weiß, dass sie im Wandteppich ist. Er schielt hinab und könnte schwören, dass die Klavierschülerin links außen, etwa in der zehnten Reihe sitzt.
Seine Hände nähern sich den Tasten, werden magnetisch angezogen von diesen Tasten, die sich von selbst senken in einer Ordnung, dass durch das Wunder der Verwandlung jene Melodie abermals entsteht, die sie am italienischen Abend in der Feinkostabteilung des Einkaufszentrums unter anderem gespielt haben. Sie startet in einer wehmütigen Moll-Verbindung in der rechten Hand, hält dann ein wenig inne, um den verklingenden Ton zu verabschieden, wie eine Geliebte, die in einen Zug steigt und langsam entschwindet. Dann aber entschließt sich der tröstende Rhythmus der Bassfigur, eine zurückgelehnte Rumba, die nun folgende Modulation des Themas zu begleiten.»I found my love in Portofino«, das ist der Text der sanft klagenden Melodie, die von der Grundtonart c-Moll in immer tiefere Lagen gleitet wie eine übers Gebirge zum Meer hinabsinkende Möwe oder ein Stück Papier.»I found my love in Portofino / perché nei sogni credo ancor «und so weiter, singt im inneren Ohr der imaginäre Bariton eines an den jungen Clark Gable erinnernden italienischen Fünfziger-Jahre-Stars, und Tom lächelt, als er hört, wie einer der Kontrabassisten, einer, der heimlich Jazzplatten zwischen Messiaen und Stockhausen herumstehen hat, mit einem ansteigenden Lauf einsetzt, während Ulli beginnt, mit den Besen über das Fell zu streicheln. Dann nimmt die Melodieführung Anlauf und überspringt eine Quarte zum d, erreicht mit einem Seufzer den Gipfelpunkt, eine Aussichtsplattform hoch über dem Ligurischen Meer an einem Regentag ohne Touristen, und segelt verhalten wieder hinab zur Grundtonart und zum letzten verklingenden» a Portofino … I found my love«, das den Inhalt des Stücks noch einmal auf den Punkt bringt, bevor der fahrende Zug immer kleiner wird, sich immer tiefer in die Landschaft senkt und endlich im Dunst ganz verschwindet.
Dann kam die Stille. Sie strömte von allen Seiten herbei und schloss sich luftdicht um Publikum und Orchester und erstarrte. In Toms Gehörgängen aber rauschte das Blut. Klein und entfernt sah er Marietta, hochaufrecht auf ihrer Stuhlkante sitzend wie das Modell eines Malers. Er sah klein und entfernt, dass dort, wo früher einmal ihr Mund gewesen war, nun eine waagerechte Kerbe verlief, weil die Lippen nach innen gestülpt waren und von den Schneidezähnen zerbissen wurden. Er sah das ganze steife, hoch aufgerichtete Orchester mit leeren Gesichtern. Und erst allmählich begriff er, was er angerichtet hatte. Und er wünschte nichts Geringeres als seinen sofortigen, für alle völlig überraschenden Tod. Er schloss die Augen und senkte das Kinn auf die Brust. Aber er starb nicht. Aber ein einzelnes Klatschen sprang hallend in den Raum, zersprengte die luftdichte Schicht, und ein anderes Klatschen von anderer Seite hatte es nun schon leichter und hüpfte hinterher, bevor weitere folgten, denn was drei gut finden, kann so schlecht nicht sein, und immer lauter und raumgreifender und geschlossener wurde der von den Wänden widerhallende Applaus, in welchem sich vielleicht die gesammelte Langeweile und Ratlosigkeit des Publikums entluden. Vereinzelte Bravo-Rufe sogar, denn eine Zugabe war nicht zu befürchten. Der Klavierspieler aber wünschte sich nur hinaus aus diesem Lärm, aus diesem hell erleuchteten Blickfeld Hunderter fremder Menschen. Er wünschte, dass der Bühnenboden sich auftäte und sich über ihm wieder schlösse, was nicht eintrat. Stattdessen erhob sich Marc in seinem Augenwinkel und lief an der Bühnenkante entlang, die drei abgewetzten Holzstufen hinauf und nickte dem Orchester zu mit bleichem Gesicht, in das aber die Aufregung rote Flecken gebrannt hatte. Das ensemble stand geschlossen und ließ den Applaus über sich hinwegfegen. Tom aber schwankte und griff nach dem Flügel, um sich festzuhalten.
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