Wie wir hier rumreden, um nicht an die unangenehmen Themen zu kommen. Nein, wirklich schön hier. Ja, in der Stadt auch. Das sehe ich sofort, dass sie höchstens zehn Jahre dabei ist. Was schon viel ist natürlich. Du könntest erzählen, wie du in Essen das erste Mal in einem größeren Laufhaus warst. Aber sie wollen Kaffee trinken und die Welt vergessen. Ein Nachmittag im Spätsommer, Frühherbst. Das Laub ist golden und bunt. Und die Sonne steht früh schon tief am klaren Himmel. Wenig Wolken. Die Menschen wimmeln durch die Straßen. Langsam. Nicht wie im Rausch des Hochsommers oder später zur Weihnachtszeit. Ja, ist schon bald wieder Weihnachten. Ich könnte schwören, dass sie Kinder hat. Ein Kind bestimmt. Du hältst deine Tasse, den Arm angewinkelt und siehst sehr seriös aus. Wanderratten, denkst du, du bist immer eine Wanderratte gewesen. Saarbrücken, Essen. Nein, Essen — Saarbrücken — München — Hannover — Köln — Düsseldorf.
Ob du mal in Wien gewesen bist, will sie wissen.
Warum Wien?
Ach nur so. Weil doch …, der Weg ist doch kürzer von …
In Wien warst du schonmal. Natürlich. Und der Weg ist überhaupt nicht kürzer. Im Gegenteil. Ein Urlaub vor vielen Jahren. Zweiundzwanzig warst du da. Das ist nun fast dreißig Jahre her. Allein bist du gefahren, weil du es wolltest. Keiner hat dich jemals sitzenlassen. Weil du keinem die Chance dazu gegeben hast. Wanderratten, das ist nicht von dir. Das hat dir vor Jahren einmal eine alte Frau gesagt. So alt war die noch gar nicht. Sah aber alt aus. Auf der Toilette stehst du vorm Spiegel und siehst wieder, dass du noch nicht so alt aussiehst, wie du eigentlich aussehen müsstest. Weil du die Dinge an dir abprallen lässt. Dir fällt auf, dass deine Erinnerungen oft mit» vor vielen Jahren «losgehen. Wenn du sie aufschreiben würdest. Woran du schon oft gedacht hast. Ja, auch schon vor vielen Jahren. Die Geräusche des Cafés hinter dir, weil die Toilettentür sich öffnet. Ach du. Nein, eine andere Frau. Kurzer Blick, kurzes Lächeln. Die Frisur sitzt.
Wieso bist du auf Wien gekommen vorhin?
Nur so.
Warst du denn schonmal in Wien?
Nein.
Nein?
Ja. Mein Mann will immer nach Wien. In den Alpen waren wir schon paarmal … Noch einen Likör?
Gerne. Schmeckt dir die Birne?
Birne find ich gut.
Dort, wo ich herkomme, brennen sie das selbst. In den Dörfern. Fast jeder Bauer brennt dort. Birne, Apfel, Quitte. Den besten Schnaps bei uns machte der Pfarrer.
Bist du in der Kirche?
Bist du in der Kirche?
Nein. Sind nicht viele in der Kirche hier in der Zone.
Zone … Du lachst. Sie lachen. Wir lachen.
Aber viele schöne Kirchen habt ihr in der Stadt.
Ja, das stimmt.
Ist mir von Anfang an aufgefallen.
Bist du schon lange …
Du bist immer schon hier gewesen, stimmt’s?
Stimmt. Hört man wohl.
Ein bisschen.
Sie bestellen zwei Gläser Birnenbrand bei einer Dame in Schwarz-Weiß, die ein leeres Tablett an die Brust drückt und die leeren Gläser dann auf das leere Tablett stellt. Und die Kuchenteller. Auf der Straße draußen vorm Fenster flanieren die Menschen. Schieben sich langsam an den Schaufenstern vorbei. Als sie vorm Spiegel stand, sah sie plötzlich die Arbeitsutensilien vor sich, auf einem Board unterm Spiegel und auf dem Rand des Waschbeckens. Sprays, Cremes, Gel, die Spender, die Bürste, das Mundwasser, die Rolle mit dem Küchenpapier an dem Halter in der Wand. Sie hört Stimmen von der anderen Seite. Essen — Hannover — Düsseldorf. Die Oberfläche des Spiegels wellt sich wie Wasser. Die Luft flimmert. Sie tritt einen Schritt zurück. Auch als sie dann wieder am Tisch sitzt, weiß sie, dass Distanz immer ihre erste Regel bleiben wird. Auf dieser Seite und auf der anderen.
Sie könnte sagen: Distanz, zugleich freundlich und nett. Menschlich. Professionell. Ein Profi, eine Profi. Professionell zu sein bedeutete ihr immer viel. Es würde zu weit gehen zu sagen, dass es sie stolz machte. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die professionell Schönste im ganzen Land …
Sie trinken Wasser, echt Selters, aus kleinen Flaschen und kleinen Gläsern, zu ihren Birnenbränden.
Sie nippen, blicken sich um, setzen wieder ab. Weniger Bewegung auf der Straße vor der Scheibe jetzt.
Ein schöner Nachmittag.
Fast schon Abend.
Gut, dass man frei hat.
Gut, dass wir frei haben.
Da sitzt man sich direkt fest.
Ich mag es, dass die Musik hier nicht so laut läuft.
Walzer. Bist du deswegen auf Wien gekommen vorhin?
Walzer, ja. Hat du tanzen gelernt?
Ich war auf der Tanzschule. Vor der Kommunion …, nach der Kommunion.
Kommun-was?
Du kennst nur Kommunismus.
Du lachst und frierst dich wieder ein. Distanz. Dann machst du dich wieder locker. Gut, dass man frei hat.
Sozialismus, sagt sie. In wenigen Jahren ist das alles vergessen.
Wenn du mit wenig fünfzig meinst. So schnell geht das doch nicht.
Fünfzig … Manchmal weiß ich nicht, ob das wenig ist? Ob das viel ist. Jahre …
Jahre. Nach Wien solltest du unbedingt mal fahren. Ihr. Solltet ihr unbedingt mal fahren. Fährst du manchmal weg? Ich meine, richtig weit weg. Oder nach …
Sie schweigt plötzlich. Sie schweigen. Leiser Walzer im Hintergrund. Das Gemurmel der Gäste.
Ich mag, dass es hier so ruhig ist. Hörst du dich sagen. Und siehst du dich trinken. Und siehst du euch still lächeln. In Wien habe ich mal Walzer getanzt. Aber das ist wirklich lange her. Der arme Junge. Ein Rosenkavalier.
Du schaust sie an, aber sie scheint nicht zu verstehen. Oder ist abgetaucht in ihre eigenen Erinnerungen. Rosenkavalier, was für ein Blödsinn auch. Goodbye, hochgelobte Distanz. Der Spiegel ist überall. Aber lass es sein, mach dich nicht verrückt und entspann dich. Nur noch vereinzelte Menschen spazieren auf der Straße draußen vorm Fenster. Das Gemurmel hinter ihr verdichtet sich. Gläser klappern.
Wenn du wirklich nicht tanzen kannst …
Nein, ich kann nicht tanzen.
Dann …
Also ich kann schon irgendwie tanzen, ich bin immer gern in die Disko, also früher …, aber eben nicht so das Klassische. Walzer. Nein, wirklich. Nein, nicht.
Sie lächelt und stützt das Kinn auf beide Hände. Verschiebt die Gläser dabei. Du nippst den kleinen Rest aus deinem Glas, spürst den Birnenbrand auf deiner Oberlippe, spürst die feinen Härchen dort, als du mit dem Zeigefinger über deine Oberlippe streichst. Du gehst mit einem Rasierer hin und wieder über deine Oberlippe, sehr vorsichtig, wenn du deine Beine machst, aber du magst den Flaum, der so zart ist, dass ihn keiner sieht, nur wenn du lange nicht drübergehst mit dem Rasierer, wird er dunkler. Das ist erst seit du vierzig bist, und das ist auch schon wieder bald zehn Jahre …, und wieder die Jahre. Hunkepus, Hunkepus, wie in dem Märchen, wo die Tiere alle krank und alt sind und humpeln, Hunkepus, Hunkepus, aber zum Glück seid ihr beide gesund, gelle, und du schaust sie an, wie sie da so sitzt und die Arme aufgestützt hat und sinniert, und schaust dich an im ewigen Spiegel, der Likör, wie sie es nennt, der ein Brand ist aus deiner fernen, jedenfalls nicht ganz so nahen Heimat, die Birne macht eure Gesichter rot, färbt eure Bäckchen rot, nur gut, dass ihr beide keine Solarienfrauen seid, dass ihr euch nicht die Haut bis auf die Knochen runterkochen lasst, dunkel, so dunkel sieht die Haut der jungen Huren bisweilen aus, dass du denkst: Hautkrebs …, dass du denkst: Nein. Zugegeben, ab und an gehst du unter die Höhensonne, die du seit Jahren bei dir zu Hause hast, also in deiner Wohnung hast, aber mit Vorsicht genießt du diese Strahlen, und nur ganz selten und nur für kurze Zeit. Feine englische Blässe, nicht wahr? Wo waren wir stehengeblieben … Ist der Arbeitstag vorbei, habe ich das alles aus meinem Kopf. Alles raus. Sofort. Ich kann nicht sagen, dass ich irgendwie darunter leide, und die meiste Zeit, die meiste Zeit denke ich da auch nicht dran, denke da nicht drüber nach. Sage ich mir. Und das ist das. Die Wahrheit muss man sich immer wieder sagen. So zu sich selbst. Es sind Phantasiegeschichten, nur Phantasiegeschichten. Hinterm Spiegel stehe ich und prügele auch, wenn es verlangt wird. Lack und Leder. Die Anschaffung lohnt. Distanz. Professionalismus. Heimat? Was soll ich dazu sagen. Tanzen?
Читать дальше