Er ist nicht eingeschlafen, er starrt nur in die Nacht und auf die Mauern. Der Morgen neigt sich langsam über die Häuser. Noch kein heller Streifen, noch kein Dunkelblau, in das das Schwarz der Nacht langsam übergeht an den Rändern, aber er spürt, dass er nicht mehr viel Zeit hat in der Dunkelheit. Er fährt das Fenster herunter, die kühle Luft berührt sein Gesicht, er wirft die Kippe auf den Fußweg und dreht den Schlüssel um. Er schließt das Fenster nicht, während er fährt.
Durch die geöffneten Jalousien sieht er das erste Rosa hinter den Häusern, hinterm Zentralbahnhof, dem großen grauen Sarkophag. Vielleicht täuscht er sich auch, eine Leuchtreklame spiegelt sich in der Scheibe, das Licht zerschnitten von den Lamellen der Jalousie. Er sitzt vor dem toten Mädchen. Er denkt daran, wie er den Revolver vor wenigen Stunden an seine Stirn gepresst hat. Vier Uhr. Vier Uhr paarunddreißig. Er hört die Züge über die Gleise Richtung Zentralbahnhof rumpeln oder von ihm weg. Er nimmt den Körper, hebt ihn hoch und spürte ihre kleinen Brüste an seiner Brust. Sie trägt nur ein T-Shirt. Sein Hemd wird nass, das muss ihr Speichel sein. Er hat sich Lederhandschuhe übergezogen. Ein kleines leichtes Mädchen. Er hat sie schon halb über seine Schulter gelegt. Er stolpert zurück. Das Mädchen wieder auf dem Boden. Er legt seine Hand auf ihr Gesicht. Hockt sich vor sie. Das ist noch warm, oder ist das seine Hand? Der Handschuh seiner rechten Hand liegt zwischen ihren Beinen auf dem Boden. Er ist so müde, dass er an ihrem toten Körper einschlafen könnte. Oh, mein Dornröschen.
Er durchsucht die Kaschemme. Hat sich den Handschuh wieder angezogen. Die beiden kleinen Zimmer. Das Bad. Ob sie für das Arschloch angeschafft hat? Er findet ein Tütchen mit Kristall. Ein anderes mit H. Er schmeißt beides ins Klo und spült. Er hebt sie hoch. Wie leicht sie ist. Müde bin ich, geh zur Ruh .
Er legt ihren Arm um seine Schulter, schiebt seinen Arm unter ihre Achsel, schleppt sie zur Tür.
Den Schlüssel nimmt er mit. Steckt ihn in die Manteltasche, wo er auch das Handy des Typen hat. War ausgeschaltet. Er findet kein anderes Telefon in der Wohnung. Er weiß, wer die Bude vermietet. Der wird alles leer räumen. Nur ein paar Klamotten in dem Schrank. Ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle. Ein Campingkocher in der Küche. Mit Gasflasche. Paar leere Tetrapacks, Milch, Wein, Saft, ein angeschnittener Laib Brot. Butter, die schon gelb geworden ist. Vielleicht sollte er die Kleine hierlassen. In das Bett legen. Zudecken. Ihre Augen öffnen sich plötzlich, er legt seine Hände mit den Lederhandschuhen um ihren Hals, dann nimmt er ein Kissen, drückt es auf ihr Gesicht, lehnt sich auf das Kissen, aber er spürt keine Bewegung. Eine Reisetasche mit schmutziger Wäsche neben dem Bett.
Er fährt. Weite, schneebedeckte Felder links und rechts. Er schüttelt den Kopf. Da bin ich wohl kurz weggenickt. Die Straßen sind leer. Die Lichter des Flughafens. Er biegt ab. Er spürt die Stadt hinter sich. Der Himmel wird heller. Ein Dunkelblau am Horizont. Er schaut in den Rückspiegel, hat das Gefühl, er würde rückwärts fahren, schaltet runter in den dritten Gang und weiß nicht, warum, er sieht die Explosionen des Bren in seinem Rückspiegel, er schaltet wieder in den vierten, ein dunkelrotes Glühen vor ihm, ein dunkelrotes Glühen hinter ihm, er macht das Radio an, er redet seit einigen Minuten und weiß nicht, was er redet,»Oh ja, oh ja, nun geht das alles seinen Gang, Brüder, zur Sonne, zur Freiheit«, er schüttelt sich, raucht, Werbung, er dreht den Sender weg, Musik, Stimmen, Info-Radio, rund um die Uhr, auf zweiundneunzig Komma ba-da-da-damm kauft … , bald kommt der Winter, was soll er machen, er muss nach Berlin, er muss hier weg, langfristig gesehen, Brüder zum Lichte empor, die scheiß Alimente fressen ihn auf, kaum jemand weiß, dass ich ’ne Tochter habe, man hat so seine Träume, nicht wahr? Wir sind die Moorsoldaten und ziehen mit den Spaten, ins Moor, ins Moor.
Da flüstern sie hinter ihm im Kofferraum. An der Baustelle hat er nochmal kurz angehalten. Wir brauchen Ballast. Wäscheleine hat er in der Wohnung gefunden. Ich habe einen Plan! Mächtig gewaltig, Egon . Jetzt kommt mir bloß nicht mit der ollen Olsenbande. Kennt doch kein Schwein mehr heute. Habe ich als Kind immer gesehen. So alt biste doch nicht. So jung biste doch gar nicht. Du siehst müde aus, Mädchen. Wir waschen dir die Haare zum letzten Mal, wir legen deinen kleinen Kopf ganz vorsichtig in die Dusche rein. So weich. Wohin führt die Spur? Die Spur führt zurück. Nein, Unsinn. Wir fahren, wohin wir fahren. Du siehst müde aus, Arschloch. Und sie flüstern im Kofferraum, und er redet und redet. Man muss funktionieren. Weitermachen. Ist ja wohl klar. Die Renten sind sicher. Müde bin ich, geh zur Ruh, schließe meine Augen zu. Du, mein Vater, hab gut Acht, auch auf mich in dieser Nacht.
Und dann ist da plötzlich eine Stille und eine Kühle, in ihm, hinter ihm, vor ihm, er öffnet das Seitenfenster, atmet die kühle Morgenluft, sein Atem dampft, er blickt in die Dämmerung hinterm Wald, und er weiß plötzlich, dass alles gut werden wird.
Sag beim Abschied leise Servus
Ich habe kein Auto. Jeden Morgen fahre ich mit der Straßenbahn und steige einmal um. Ich habe schon oft überlegt, ob ich den Führerschein mache. Aber ich bin jetzt dreiundfünfzig und weiß ehrlich nicht, ob ich das hinkriege. Ich könnt mir’s zwar schon irgendwie vorstellen, dass ich das noch lerne, aber mein Mann hatte früher auch keinen Führerschein, das war ja nicht ungewöhnlich in der DDR, dass man nicht Auto fuhr. Auch dass man ewig und Jahre warten musste, bis das Auto dann da war. Mein Mann, also mein Ex-Mann, der hat den Führerschein Mitte der Neunziger gemacht, da waren wir noch verheiratet. Manchmal denke ich, dass er dann so viel mit dem Auto unterwegs war, und das war ja wegen seinem neuen Job, auch außerhalb und weit weg, dass da alles kaputtging oder anfing kaputtzugehen, aber das hatte auch andere Gründe, so viel anderes spielte da rein, wie das immer oder meistens so ist, und wir warn ja auch fast fünfundzwanzig Jahre verheiratet, kennengelernt, zusammengekommen, geheiratet, Kinder gekriegt, wie das eben damals so war.
Das sind so Sachen, über die denk ich nach, wenn ich am Morgen in die Straßenbahn steige und auf Arbeit fahre. Die Kolleginnen, die ich kenne, haben alle ein Auto, und die können sich das gar nicht vorstellen, dass ich fast eine Stunde oder fünfundvierzig Minuten, je nachdem, unterwegs bin und durch die halbe Stadt fahre. Aber auf jeden Fall ist das viel preiswerter, das müssen sie auch zugeben, vor allem jetzt, wo der Sprit immer teurer wird. Und ich versuche eben zu sparen. Ab und an fahre ich mal mit dem Zug zu meiner Schwester, die wohnt kurz vor Meißen, und da gibt’s ein Dorf, kurz hinter Leisnig, da stehen lauter kleine Häuschen, und manche scheinen leer zu sein, also direkt am Waldrand, und ich stelle mir immer vor, dass ich mir dort mal was kaufe, weil so teuer ist das nicht, da habe ich mich nämlich schon erkundigt, ich meine, so als Sommerhaus oder Altersresidenz, das klingt zwar blöd, weil ich mich noch gar nicht so fühle, aber an sowas muss man ja auch immer mal denken, in meinem Alter, obwohl ich auch denke, dass ich noch etliche gute Jahre vor mir hab, vier, fünf auf jeden Fall, na ja, mir ist klar, dass ich dann wohl doch ein Auto brauche, also den Führerschein, um da richtig und bequem hin- und auch wieder wegzukommen.
Wir hatten mal einen Garten, schon mehr so Richtung Wochenendgrundstück war das, gleich vor der Stadt und ganz in der Nähe, wo wir damals gewohnt haben, Steinlaube und fast vierhundert Quadratmeter Grundstück und schön mit Hecken drum rum, dass man seine Ruhe hat, das wär mir nämlich am wichtigsten, aber den haben wir dann, gleich nach der Scheidung, verkauft. Das ärgert mich jetzt manchmal, weil’s da doch sehr schön war, aber der Junge hatte auch kein Interesse, wollte damals schon ins Ausland, Kopenhagen, da arbeitet er jetzt, und da war uns das Geld doch erstmal wichtiger.
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