Zungenanal gibt es bei mir nur passiv. Aktiv in 53, ist selten, ist eine Goldgrube, aber ansonsten: Du darfst, du darfst, wenn du vorher zahlst.
Und ich sehe das Geld auf meinem Konto, das ist zwar nicht in der Schweiz, aber sicher genug. Ich sehe es wachsen. Sehe genug andere, die alles verschwenden wieder.
Ich bin auf dem Sprung. Und ich tanze. Wer hätte das gedacht. In Wien war ich damals allein. Ich bin froh, dass ich keine Kinder habe. Wo da draußen doch alles kaputt ist. Vor fast dreißig Jahren, in Wien. Ich schweige lieber. Hab viel zu viel erzählt. Aber als ich mit ihr tanzte. Diese Ostpocke. Wo ich seit Jahren unter den Ostpocken lebe. Das werde ich nicht vergessen. In den Jahren, die mir noch bleiben. Den guten Jahren. Den arbeitsamen. Wie wir da Walzer tanzten und die Tische verschoben. Wie ich sie da führte. Diese unglaubliche Frau. Die Arme auf den Schultern. Das Café fast leer. Immer Walzer, Walzer in der Endlosschleife. Wie wir da tanzten. Und wie sie zu mir sagte, wie großartig ich bin. Das war besser als in Wien. Wo ich so allein herumirrte, Mitte der Neunziger, und ich sage, du musst dein Bein mehr an meinem orientieren. Und ich sage gar nichts mehr, weil sie’s schon begreift, wie sie da mitgehen muss. Und sie hat’s auch recht schnell raus, wie wir beide den Walzer tanzen müssen. Der Schwung, das war fast, als wenn wir schweben würden. Dass die Leute da guckten, war ja klar.
Und plötzlich war die Musik aus. Und die spielten so ein Rausschmeißer-Stück. Wo sie es fast raushatte. Wo sie so weit war, dass sie mich führen konnte. Und wir tanzten noch eine Weile in der Stille, in dem leeren Café. Das müssen zehn Minuten gewesen sein, von Anfang bis zum Ende. Das haben die bestimmt noch nicht gesehen, zwei feine alte Damen wie uns, reife Damen, feine Damen, die ihr endloses Walzerkonzert …, und wir schwebten durch diese barocke Gründerzeit- oder wie auch immer Stube. Und dann dieses Genuschel aus den Boxen zum Schluss. Da waren wir kurz davor, ein richtiges Fass aufzumachen, wir beide. Auch mal ein Glas zu schmeißen. Weil doch unsere Haare und Köpfe sich berührten. Weil wir einfach nur tanzten.»Sag beim Abschied leise Servus …«
Und da ließen wir uns los.»… denn diese Worte tun nur weh …«
So male ich mir das aus in Gedanken, wo ich so auf den Hafen schaue. Nach dem missglückten Spagat haben wir uns verabschiedet. Das war sehr nah, auch ohne Walzer, auch ohne kitschiges Servus.
Es klingelt. Ich stehe auf. Ich bin da.
Es schneite wieder. Hans blickte aus dem Fenster auf die flachen, viergeschossigen Plattenbauten, die sich in einem langgezogenen Betonband hinterm Hotel erstreckten. Jenseits der Häuser konnte er die schneebedeckten Felder sehen, ein paar vereinzelte Gehöfte, und weiter hinten, im trüben Nachmittagsdunst und im Schneetreiben kaum zu erkennen, die Wälder, durch die er als Kind oft gelaufen ist.
Er zog die Gardinen zu, suchte nach einer Minibar, fand aber keine. Nur eine Flasche Mineralwasser stand auf dem Tisch neben dem winzigen Fernseher.
Er hängte seinen schwarzen Anzug in den Schrank. Er war froh, dass er seinen Führerschein vor anderthalb Wochen zurückbekommen hatte, der gute Anzug wäre in einer Reisetasche nur unnötig zerknittert. Wahrscheinlich hätte er sich ein Taxi genommen, auch wenn es mehr als zweihundert Kilometer waren. Er hatte im Internet geschaut, wie lange er mit dem Zug gebraucht hätte. Mehr als drei Stunden. Sein Vater hatte sein ganzes Leben lang kein Auto gehabt. War immer mit dem Fahrrad ins Werk gefahren und in den harten Wintern mit dem Bus. Oder er ist querdurch bis zur Brücke marschiert, über fremde Grundstücke, Wiesen, Bauland. Wenn sie mal nach Berlin fuhren oder zur Verwandtschaft an die Küste, haben sie den Zug genommen. Hans erinnerte sich an diese Zugfahrten vor Jahrzehnten, in einer anderen Welt, unter einem anderen Himmel. Wie sie zum Bahnhof liefen, alle schleppten sie Koffer, manchmal nahm der Vater den Bollerwagen mit und stellte ihn beim Bahnhofsverwalter unter, mit dem er in der Kneipe oft Skat spielte. Als Hans ganz klein war, durfte er oben auf dem Bollerwagen sitzen, die großen Koffer im Rücken.
Er stellte die Flasche auf den Tisch und machte das Glas voll. Johnnie Black. Da schwor er seit fast zwanzig Jahren drauf.»Kann man trinken«, hatte der Graf immer gesagt,»kann man trinken. «Er konnte sich noch an seine erste Flasche erinnern, die er irgendwann Ende der Achtziger in Berlin getrunken hatte, ein paar Gläser zumindest, und wie er sich wunderte über das Etikett:»Schwarz? Aber der ist doch immer rot.«
Er trank das Glas in einem Zug aus, goss etwas weniger nach, trank etwas langsamer. Er zog die Vorhänge wieder auseinander, öffnete das Fenster und zündete sich eine an. Seit fast einem Jahr versuchte er, das Rauchen aufzugeben. Aber er würde den Abend und den nächsten Tag nicht ohne durchstehen.
Er stand am Fenster und rauchte, Nichtraucherzimmer, und stellte fest, dass er die Felder nicht sehen konnte hinter den flachen Plattenbauten, die nur wenige Meter vor ihm lagen, auf der anderen Seite der Straße. Aber er hatte doch vorhin auf die endlosen weißen Felder geblickt. Aber vielleicht war das während der Fahrt gewesen, die ihn an diesen verschneiten Ebenen vorbeigeführt hatte, der Scheibenwischer schabte über das Glas, im Radio sprachen sie leise, er mochte keine Musik im Auto und hörte meistens Deutschlandfunk, wo sie fast ununterbrochen redeten, oder es waren andere Erinnerungen an andere Blicke, wo auch der Fluss floss, kahle Bäume in langen Reihen, dort mussten früher Wege oder Straßen gewesen sein, das Schneetreiben wurde stärker, er spürte die kalte Luft, warf seine Kippe nach draußen und schloss das Fenster wieder.
Er nahm seinen Mantel, band sich den Schal um, zog die Lederhandschuhe über, steckte die Mütze in die Manteltasche, trank das Glas aus und ging zur Tür.
Schon von weitem sah er, dass die Straße vor ihm anstieg, über die erste Brücke führte, und da wusste er, dass er richtig war. Er hatte das Auto auf dem Hotelparkplatz stehengelassen. Er war froh, dass er den Führerschein endlich wiederhatte. Was für einen Stress hatte er in diesem halben Jahr gehabt. Hunderte Taxiquittungen hatte er bei seinem Steuerberater abgeliefert, weil er nicht immer jemanden fand, der ihn rumfuhr, sogar Mandy 2 hatte er eine Zeitlang eingespannt, aber das war ihm schon etwas peinlich gewesen, dann lieber der dicke Klaus, aber dann doch lieber Taxi.
Sie hatten in der Altstadt gewohnt damals, die früher nur ein Dorf gewesen war, das Zentrum der Stahlstadt lag dort vor ihm, hinter den zwei Brücken, zwischen den Armen des Kanals, der Fluss, den er noch nicht gesehen hatte an diesem Nachmittag, lag irgendwo hinter ihm, am Rand der Altstadt, wo sie gewohnt hatten, damals, nicht weit vom Fluss.
Er wischte sich den Schnee vom Kopf, setzte sich seine Mütze auf. Vielleicht hätte er doch den Wagen nehmen sollen. Aber er ging den Weg seines Vaters, der später dann, als alles zugebaut war, auch nicht mehr so einfach querdurch konnte, ging auch den Weg, den er als Kind und als junger Mann so oft gegangen war. Rüber ins Zentrum. Aber seit über fünfundzwanzig Jahren nicht mehr.
Als die Straße sich teilte, hatte er kurz überlegt, in welche Richtung er musste, hatte den Bus vorbeifahren sehen, der anders fuhr, als er sich erinnerte, aber sicher machte er einen Umweg über die Neubauten am äußersten Rand der Altstadt, diesem Dorf, das sie vor sechzig Jahren in eine Stadt umgebaut hatten, nein, nicht umgebaut, eine neue Stadt bauten sie drum herum, aber ein, zwei Kilometer weiter gab es noch zwei andere Brücken, über die man ebenfalls das Zentrum der Stahlstadt erreichen konnte. Hans stapfte weiter durch den Schnee, den Strom der Autos neben sich, sah den Bus zwischen den Häusern verschwinden.
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