Er stand auf der ersten Brücke, blickte auf die Bahngleise. Mehrere Spuren, am Rand standen Güterwaggons, einige waren oben offen, sahen aus wie große Bergbauloren und füllten sich mit Schnee. Irgendwo dort hinten musste der Bahnhof sein. Vom Hotel konnte er in fünfzehn Minuten zum Bahnhof wandern, schätzte er. Er kam dann am Friedhof vorbei und der alten Kirche. Vielleicht gab es die kleine Kneipe in der Bahnhofstraße noch, dort hatte sein Vater immer Skat gespielt.
Er stand zehn Minuten oder länger, bis ihm die Füße kalt wurden. Kein Zug fuhr unter ihm. Er zündete sich eine an, das Feuerzeug ging zwei-, dreimal aus im Schneetreiben, er drehte sich zur Straße, blickte auf die vielen Autos, die alle schon mit Licht fuhren, es wurde langsam dunkel, der ganze Tag war trüb und düster gewesen, und auch er hatte die Scheinwerfer eingeschaltet, als er die Stadt verließ, Richtung Stahlstadt fuhr am Morgen.
Auf der anderen Seite der Brücke, auf dem Fußweg, sah er einen alten Mann und eine alte Frau, dicht aneinandergedrängt und leicht gebeugt stapften sie durch den Schnee. Hans lehnte sich aufs Geländer, spürte das eisige Metall durch den Filzstoff seines Mantels, warf die halbgerauchte Kippe auf die Gleise und ging weiter, es schien ihm, dass er einen Zug hörte, aber er drehte sich nicht nochmal um, blickte auf das große, nach oben dreieckig zulaufende Speichergebäude am Kanal, das jetzt vor ihm auftauchte, unterhalb der zweiten Brücke, über die die Straße führte. Früher fuhren die Schlepper auf dem Kanal, der am Speicher vorbei fast bis direkt zum Werk führte. Schlepper um Schlepper, Schiff um Schiff fuhr über das dunkle Wasser, die Ufer begradigt und befestigt, asphaltierte Wege neben den Ufern. Als Kind hatte er oft da unten oder hier oben gestanden und auf die Schlepper und Schiffe geschaut. Eisschollen auf dem dunklen Wasser. Es schien ihm hier viel kälter als über den Gleisen.
Eisschollen auf dem dunklen Wasser. Hinter der Biegung die Lichter und Gebäude des Stahlwerkes, die Schornsteine, aus denen der Dampf drang, der das Stahlwerk zu umhüllen schien, der gewaltige Hochofen ein schwarzer Turm in der Dämmerung; Hans spuckte in den Kanal, sah seinen Vater, der mit einer langen Stange in den rotglühenden Fluss stach, der sich aus einer Art riesigem Fass ergoss, die Funken sprühten, Lichtbögen umgaben den Mann, der sein Vater sein musste, Hans stand am Werkstor, eine Flasche Bier an die Brust gedrückt und wartete, spürte die Kühle der Flasche, blickte auf das graue Gewirr von Stangen, Rohren, Gebäuden, kleinen Türmen, großen Türmen, von Förderbändern verbunden, Straßen dazwischen, Schienen, auf denen kleine Waggons standen, Menschen in Arbeitsanzügen mit dunklen Gesichtern, die Luft schmeckte nach Holzkohle und Salz …
Hans lief weiter, die Straße führte in ein Neubaugebiet, graue, weiße Plattenbauten, die mussten aus den Sechzigern, Siebzigern sein, soweit er sich erinnerte. Ein Netto-Einkaufsmarkt auf der einen Seite der Straße, auf der anderen Seite leuchtete das große rote K eines Kaufland-Marktes. Er hatte das nie begriffen, warum sich die großen Konzerne das Wasser gegenseitig abgruben. AK hatte ihm einiges erklärt über das Konkurrenzverhalten der Discounter, er hatte ja Betriebswirtschaft studiert.
Ja, ja, Konkurrenz belebt das Geschäft. Wenn bei ihm gegenüber ein Club oder ein Laufhaus eröffnen würde, da würde er aber alle Register ziehen, aber das ging eh nicht so einfach, mal eben rein ins Geschäft in der Stadt. Anderseits gab es genug Städte, in denen sich das alles auf engstem Raum konzentrierte, auf Grund der Sperrbezirksregelungen … Weg damit! Er zog sich die Lederhandschuhe aus, steckte sie in die Manteltaschen, bückte sich und griff in den Schnee, formte einen Schneeball, den er in Richtung der Plattenbauten warf. Vor den Häusern verliefen helle Ziermauern, ein steinerner Maschendrahtzaun aus unzähligen Lücken und kleinen Fenstern, Hans rannte ein Stück, bückte sich wieder und schleuderte einen Schneeball gegen eine der Mauern, hinter der eingeschneite Bänke standen, zwei Tischtennisplatten aus Beton, er hielt einen dritten Schneeball zwischen seinen roten klammen Händen, als er zwei Jugendliche sah, die ihm entgegenkamen, wahrscheinlich in eine der Kaufhallen wollten, und er warf den Klumpen Schnee weg, lächelte, als sie ihn musterten im Vorübergehen, ein stämmiger mittelalter, für sie sicher sehr alter Mann, der im Schnee spielte.
Die Straße der Republik kreuzte die Karl-Marx-Straße, Stalinbauten aus den Fünfzigern links und rechts, die Berliner Stalinallee in klein, als er das erste Mal mit seinem Vater und seiner Schwester in Berlin gewesen ist, Ende der Sechziger, Anfang der Siebziger musste das gewesen sein, standen sie staunend zwischen den riesigen Prospekten, die schon längst nicht mehr Stalin hießen, der Vater erzählte, und sie fühlten sich, er und seine Schwester, als wäre die Stahlstadt zwischen Fluss und Kanal nur ein Dorf für Zwerge. Und der Vater erzählte von den noch größeren Prospekten der Russen, der sowjetischen Städte, und wie die kleinen Menschen auf diesen großen Flächen umherliefen. Als der Stahl gehärtet wurde .
Hans stand an der Lindenallee, die die Straße der Republik kreuzte, erinnerte sich, dass die mal Leninallee hieß, die Einkaufsstraße der Stahlstadt, der Abend war schnell gekommen, und Hans blickte auf die Lichter und Schaufenster der wenigen Geschäfte, blickte auf den weißen Würfel des leerstehenden Hotels auf der anderen Straßenseite, das Schneetreiben war dichter geworden, er ging mit gesenktem Kopf gegen den Wind, der ihm den Schnee ins Gesicht trieb, an den Schaufenstern vorbei, kein Hund geht auf die Straße bei diesem Wetter, sah das Oval des kleinen Theaters verschwommen ein Stück weit vor sich, die Säulen vorm Eingang, der halbkreisförmige Treppenaufgang, er sah, dass in einem Glaskasten das Programm beleuchtet wurde, direkt neben der Treppe, er fand sich wenig später in einer Bäckerei wieder, setzte die Mütze ab, musste seine Lesebrille aufsetzen, bestellte einen Kaffee und ein Stück Mohnkuchen. Er zog nur einen Handschuh aus, während er an einem Stehtisch lehnte, durch die Scheibe ins Schneetreiben blickte, einige Leute kamen aus einem Laden auf der anderen Straßenseite, stand da» Bücherstube«über der Eingangstür? Er spürte das Vibrieren seines Handys in der Innentasche seines Mantels, trank seinen Kaffee und wartete, bis es still wurde unter dem Stoff. Wir ehren heute in Erinnerung an den ersten Aktivisten Genosse Adolf Hennecke die Genossen Stahlarbeiter, die sich bei der Übererfüllung des Dreijahresplanes besonders verdient gemacht haben …
Er saß am Tisch seines Hotelzimmers, trank ein Glas Johnnie Black, sah durch den Spalt zwischen den Gardinen die dunklen Fenster der Neubauten, nur in einem flimmerte das Licht eines Fernsehers, neben der Flasche lag sein Handy, seine Schwester hatte zweimal angerufen. Er nahm das Telefon, tippte eine SMS, Buchstabe für Buchstabe, er hasste dieses T9-System und konnte auch nicht damit umgehen.»Bin morgen um 11 am Friedhof. Grüße, Hans«.
Er sah, dass es schon fast zwölf war. Wahrscheinlich schlief sie schon. Aber wer kann schon zeitig schlafen an so einem Abend, in so einer Nacht. Wie lange hatte er sie nicht gesehen? Vier, fünf Jahre. Nein, länger. Als er seinen Vater vor zwei Wochen das letzte Mal besucht hatte im Krankenhaus, war sie nicht da gewesen. Sie war nie da gewesen, wenn er ihn besucht hatte. Er hatte ein Krankenhaus in Berlin rausgesucht, später ein sehr gutes Hospiz, wollte alles bezahlen, aber der Alte hatte sich geweigert. Ich sterbe hier. Und mit meinem Geld . Er wusste nicht, dass er in der Grenzstadt flussaufwärts lag, im alten Bezirkskrankenhaus. Und dann wusste er es doch wieder. Bring mich nach Hause, Hans.
Vor zwei Wochen konnte er nicht mehr mit ihm sprechen. Der Alte lag schmal wie ein Stück verwittertes Holz in seinem Bett und starb. Langsam.
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