Wir wollen das Prostitutionsgesetz, was ein großer Schritt in die richtige Richtung war, weiterentwickeln, unser Ziel ist es, dass es keine Stigmatisierung, keine woher auch immer resultierende Abwertung unserer Bestrebungen geben darf! Wenn ich beispielsweise höre, dass behauptet wird, dass das Gesetz nur den Betreibern nützlich sei, dann müssen wir das auf unserem Kongress diskutieren!
Was ich zum Schluss noch sagen will, und ich muss zugeben, dass mir seit Tagen, seitdem ich mich vorbereitet habe auf meine Rede hier, dass mir da ganz schön die Muffe ging, so wie wir das in meiner Stadt nennen, denn ich hab das noch nie gemacht vor so vielen Kolleginnen: Ich freue mich sehr auf die Kolleginnen, die jetzt gleich nach mir sprechen. Auf die Kollegin aus Griechenland, wo eine Sexarbeiterin die Lizenz verliert, wenn sie heiratet, so habe ich das zumindest in unserer Broschüre gelesen, ja verdammt nochmal, wo gibt’s denn sowas, und ich freue mich auf die Kollegin aus England, die uns von den» antisozialen Verhaltensregeln «berichten wird, mit denen sie verfolgt und eingeschränkt wird, und auch auf die Kollegin aus Frankreich, wo ihr immer noch Freiheitsstrafen drohen. Wir sind hier richtig international, und ich glaube, dass wir da alle zusammenfinden müssen, wenn wir schon immer von Europa reden. Ich kann hier nur von unserer Situation in Deutschland reden und wie ich sie wahrnehme. Und was wir da verbessern müssen.
Wir brauchen auf jeden Fall einen Erlass von Durchführungsrichtlinien zum Prostitutionsgesetz. Wie sichern wir unsere Renten ab? Wir denken doch alle darüber nach. Und wie können wir sichergehen, dass wir nicht in einen Topf mit den Frauen geworfen werden, denen man Unrecht tut. Ich weiß, dass der Zwang ein großes Thema ist, in der Politik, in den Medien, in der Gesellschaft. Und ich weiß, und wir alle wissen, dass es so etwas gibt. Zwangsprostitution ist ein Verbrechen. Aber ich wünsche mir, dass man das nicht alles über einen Kamm schert. Ich wünsche mir eine Gewerkschaft. Ich wünsche mir, dass die Hydra weiterhin so unabhängig arbeitet. Ich wünsche mir, dass wir unseren Dialog fortsetzen, untereinander. Ich wünsche mir, dass wir uns weiterhin regelmäßig treffen, auf Kongressen, in Diskussionsrunden, auf Demonstrationen. Und es gibt noch vieles, was ich mir sonst noch so wünsche.
Aber erstmal euch allen und uns allen einen schönen und ergiebigen Kongress, dass es Ergebnisse gibt, dass wir weiterkommen. Vielen Dank.
(Tag 1, 18. März 2005)
Lichter in der Kathedrale
Die Musik ist hier unten kaum zu hören. Wie ein leises Grollen hinter den Wänden, über den Mauern.
Manchmal denkt er, er kennt die Zeiten, in denen die Züge über die nahe Strecke rumpeln. Aber vor allem in den Nächten scheint es keine Regelmäßigkeiten zu geben. Er sitzt oben im Büro und lauscht. Dreiundzwanzig Uhr dreißig, ein Uhr vierzig, stundenlang nichts, und am nächsten Tag vollkommen anders. Der Bahndamm führt ums Viertel, die Güterstrecke verläuft unterhalb der Häuser, unterhalb der Straßen, jetzt im Herbst liegt häufig Nebel über den Gleisen, sammelt sich in dieser Schneise, in den feuchten kühlen Nächten. Büsche wachsen dort, die alten Nebengleise, die in die Fabriken führten, enden auf Brachflächen, Hinterhöfen, verschwinden im Erdreich, hölzerne morsche Schwellen. Und in den Sommern windet sich der Stahl in der Hitze, liegt ein Flimmern über dem alten Güterring, als wäre alles schon asphaltiert. Er hat gehört, dass sie diese Strecke in den nächsten Jahren stilllegen wollen. Das alte Galvanowerk verschwand schon Anfang der Neunziger. Nur das Haus der Verwaltung blieb stehen, ein Wessi kaufte es billig, Treuhandklüngel, richtete einen Club drin ein, verkaufte es wieder. Vor fast zwanzig Jahren.
Wo kam der her? Und wie hieß der nochmal? Hagen? Siegen? Hildesheim? Städte, durch die er vor wenigen Jahren erst gefahren ist. Hässliche Platten, flache Zentren, schmutzige Straßen, Bahnhöfe wie dunkle Höhlen, stinkende Tunnel zwischen den Gleisen, wie vor dreißig Jahren in Bitterfeld oder Frankfurt/Oder, das langgezogene Leuchten der Spielotheken, Dönerläden, Spätverkäufe, Puffs, das er aus seinem Auto sah, das er manchmal aus den Zugfenstern sah, er wollte das Land kennenlernen, nahm sich frei, der Club lief auch einige Tage ohne ihn, Urlaub würde er das nicht nennen, Dortmund, er wollte einmal im Westfalenstadion stehen und stand dann auch, fühlte sich fremd unter und zwischen den siebzig-, achtzigtausend, an das Spiel kann er sich nicht mehr erinnern, Hagen W. aus Hagen? Siegfried Augentaler? er könnte in seinen Unterlagen nachschauen, Kopien liegen im Tresor, dort steht auch noch eine Flasche» Springer Urvater«, die ihm der Vorbesitzer damals hinterlassen hat. Drei viertel voll. Er hat sich in all den Jahren vorgenommen, sie zu einem besonderen Anlass zu trinken. Dann vergaß er sie wieder. Er fand auch eine kleine silberne Edelstahlschatulle. Aber nur ein Spiegel, im Deckel, als er sie aufklappte. Und einen Notizzettel.»Ich muss Laura schreiben«. Er wollte das wegschmeißen, Zettel und Schatulle, aber sie steht immer noch im Tresor neben der Flasche oben im Büro. Hans nimmt sich vor, nachzuschauen, wie der Mann hieß, wo er herkam. Die Erinnerungen täuschen ihn oft. Er wird alt. Vieles ist wie gestern. Vieles ist fern. In Hildesheim hatte er einmal Aufenthalt. Vor drei, vier Jahren. Als es ihn plötzlich aus der Stadt trieb. Er kam am frühen Abend aus der Kneipe im Zentralbahnhof, die sie den» Toten Eisenbahner «nennen, neben der Treppe zu den Gleisen, und ist in einen Zug gestiegen. Stand dann in Hannover, Nacht inzwischen, das Steintor nicht weit, aber was sollte er da. Das war, bevor die Engel in die Stadt kamen. Sind schon längst da. Waren es immer. Nein.
Durchs Steintor gehen. Nein. Er stieg in einen Zug. Und stieg in Hildesheim wieder aus. War das die Endstation? Vielleicht. In Hannover hatte er in seinem Club angerufen. Hatte seinen Mann an der Tür angerufen, hatte dann noch Alex angerufen. Ja, ja, der Pakt. Wir haben die Gläser gehoben und den Pakt geschmiedet, auf dass ewig Frieden herrsche in den Puffs, in den Straßen. Vor so vielen Jahren. Musste kurz weg, bin morgen, übermorgen wieder da. Ja. Ja. Ruft an, wenn was ist. Hatte bei Mandy angerufen, Mandy 2.
Er würgte. Stolperte an die Fliesenwand. Hörte sich würgen in diesem gefliesten Scheißhausraum des Bahnhofs Hildesheim.
Er hatte ihn nie getroffen, den großen Mann aus Hannover. Der Pate. Der Kanzler der Engel. (Der Anwalt des großen Mannes arbeitete tatsächlich in derselben Kanzlei wie der ewige Ex-Kanzler und Anwalt Schröder, Hannover-Connection.) Er war nur ein kleiner Puffbesitzer (Puff? nee, wollt ihr mich verarschen?) mit einem kleinen Club. Hans’ Nachtclub. Das war nicht der Name.»Zum toten Eisenbahner«. Nein.»Die schönen Augen«. Ja, das schon eher.»The Paradise«. So hatte der Unbekannte, dessen Namen und Erinnerungen im Tresor und in der kleinen Schatulle lagen, es damals genannt.»Die rote Mühle«. Wie in Paris? Nein. Er grübelte im Zug, dachte nach. Alles war schon abgesteckt, hatte seine Namen, umbenennen machte keinen Sinn. Wozu auch. Der Laden lief. Mal so, mal so.»Das Diamantenherz«. Was für ein Unsinn.
Und er blickte in den Abend, in die Dämmerung, dunkelrot, grau, Wolkenfetzen, Landschaften davor, Schemen von Wäldern, Häusern und Lichter, die sich auf den Straßen bewegten, verschwanden, bald würde er nur noch sein Spiegelbild sehen. Er trinkt seinen Wein, er trinkt seinen Kaffee, er fragt den Mann, der mit einem Wägelchen durch die Gänge der Waggons kommt, nach einem Kaffee, denkt daran, wie er damals den Namen für seinen Club gesucht hat, und in Hildesheim wirft er fünfzig Cent in den Schlitz neben der Tür, das Behindertenscheißhaus ist gesperrt, die sind meistens am saubersten, denkt er sich, sein Club ist noch nicht rollstuhlgerecht, aber es kamen in all den Jahren vielleicht drei, vier Rollstuhlfreunde, wie damals, der kam sogar mit seinem Pfleger oder Betreuer oder weiß der Teufel, wer das war, den haben sie reingehoben, er selbst und der Martin und der Freund vom Rollimann, der hat geschimpft, weil der ganze Stuhl quer stand und fast umgekippt wäre, hat ihnen von den Ämtern erzählt, die da intervenieren könnten, aber anstatt ihn rauszuschmeißen, Hausrecht, haben sie dem eine Pulle Extra-Dry aufgemacht, während sein Boy, also der Krüppel, so darf man das ja gar nicht mehr sagen, ohne dass die Korrekten einem die Hölle heiß und den Himmel kalt …, und ist auch nicht böse gemeint, schön an der Bar stand, bisschen tief halt, und alle Mädels um ihm rumflatterten, wo hat der denn sonst so eine Aufmerksamkeit, rein weiblich gesehen, da hat Hans im Büro gesessen und gelacht und die Mädels angewiesen, während der Pfleger oder Kumpel von dem Rollator vorne noch geschimpft hat, aber dann ganz still war, der hat das Geld von den beiden verwaltet und hat den besten Whisky getrunken an der Bar, erstmal …, zufrieden warn sie. Ja. Das kann man nicht anders sagen. Gebumst haben sie beide. Der Krüppel und sein Boy. Der Pfleger und sein Boy. Die Mädels haben den zu dritt aufs Zimmer getragen, also den Krüppel.
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